27. September 2012

Die "Spiegel-Affäre" vor fünfzig Jahren. Eine persönliche Erinnerung. Teil 2: Rudolf Augsteins Feldzug gegen Franz-Josef Strauß


Im ersten Teil habe ich geschildert, wie ich vor der "Spiegel"-Affäre als Student zur Politik gestanden hatte: Interessiert, aber überhaupt nicht engagiert; wie viele meiner Kommilitonen. Das war die skeptisch-distanzierte Haltung, die auch der damalige "Spiegel" zeigte: Kritisch gegen alle politischen Akteure; keinem von ihnen und keiner politischen Strömung oder Richtung verbunden. Liberal nur in dem Sinn, daß das Geschehen auf der Bonner Bühne und auf der Weltbühne ohne eine einheitliche politische Linie des Blatts berichtet und analysiert wurde; sieht man von seiner strikt freiheitlich-demokratischen Orientierung ab.

Seit der Gründung des "Spiegel" hatte es nur eine Ausnahme gegeben: Die Kommentare Rudolf Augsteins (anfangs als "Jens Daniel" und dann auch "Moritz Pfeil"); schon grafisch klar als solche gekennzeichnet. Das allerdings war Meinungsjournalismus; und er sollte bewußt im Kontrast stehen zum sonstigen Blattinhalt.



Diese kritische, aber unvoreingenommene Haltung hatte der "Spiegel" zunächst auch gegenüber dem Nachwuchspolitiker Franz-Josef Strauß an den Tag gelegt, dessen Stern aufzugehen begann, als er 1953 zunächst Minister ohne Geschäftsbereichs wurde, auch genannt "Minister für besondere Aufgaben" (der "Spiegel" verballhornte das gern zu "Minister ohne besondere Aufgaben"); zwei Jahre später dann Atomminister und nach einem weiteren Jahr Bundes­minister der Verteidigung.

Anfangs hatten Augstein und seine Redaktion den jungen Minister durchaus geschätzt. Ich erinnere mich gut an das erste Heft des "Spiegel"-Jahrgangs 1957. Es hatte Franz-Josef Strauß als Titelhelden. Kein Foto, sondern - was damals beim "Spiegel" eine besondere Auszeichnung war - bunt gezeichnet; und zwar von keinem Geringeren als dem Time Magazine-Illustrator Boris Artzybasheff. Strauß' Haupt schmückt eine Art Kranz aus Gamsbart-Hüten, die sich allmählich in Stahlhelme verwandeln. Solche Symbolik war Artzybasheffs Spezialität; Augstein hatte dem anläßlich von dessen erstem "Spiegel"-Titel sogar einen Brief an den "Lieben Spiegelleser" gewidmet.

Unter der Überschrift "Der Primus" konnte man in dieser Titelgeschichte vom 2. Januar 1957 über den gerade einmal 41jährigen "Wehrminister" lesen:
So erfolgreich Straußens erster Auftritt vor den Ministern der Nato-Staaten in Paris tatsächlich verlaufen war, so günstig hatte Franz-Josef Strauß auch schon im Oktober bei seinem Debüt vor den Botschaftern der Nato-Staaten abgeschnitten. (...) Die Wirkung des neuen Bonner Verteidigungsministers in Paris war am Ende so stark, daß Frankreichs Nato-Botschafter Parodi schwärmte: "Es ist erstaunlich, wie wach er ist und Zusammenhänge und Reaktionen sofort erfaßt."
Und über Strauß' Lebensweg:
Seine auffallenden Leistungen in Schule und Universität verdankte er seiner eruptiven Intelligenz, seiner blitzschnellen Auffassungsgabe und seinem photo­graphisch präzisen Gedächtnis - Talenten, die ihn auch heute noch dazu befähigen, auf Anhieb zu erfassen, was je aus der Fülle der Bonner Probleme an ihn herankommt.
Bald aber begann sich das Bild, das der "Spiegel" von Strauß entwarf, radikal zu ändern.



Nur vier Monate nach dem freundlichen Artikel vom Januar 1957 war Strauß schon wieder auf dem "Spiegel"-Titel; diesmal mit einem jener fotografischen Porträts, die danach stetig wiederkehren sollten: Sein massiger Schädel so montiert, daß er schier den roten Rahmen eines "Spiegel"-Titelbilds zu sprengen schien. (Weitere Varianten erschienen später im Mai 1961, im Oktober 1961, im November 1962, im November 1974, im März 1975, im September 1976, im Mai 1980 und noch einmal im August 1989).

Die Titelgeschichte dieses Hefts vom 1. Mai 1957 bestand aus einem "Spiegel"-Gespräch mit Strauß, geführt von den beiden stellvertretenden Chefredakteuren Hans-Dieter Jaene und Conrad Ahlers, der dann bei der "Spiegel"-Affäre eine zentrale Rolle spielen sollte; sowie einem "Jens Daniel"-Kommentar von Rudolf Augstein.

Das Gespräch hatte einen ausgesprochen gereizten Ton; vor allem bei Strauß ("Objektiv falsch"; "Das ist kompletter Unsinn"; "Nein, verdrehen Sie nicht die Argumente. So kann man nicht diskutieren"). Der begleitende Kommentar Augsteins hatte ebenfalls nichts mehr von dem freundlichen Ton der Januar-Titelgeschichte. Kein Wunder, denn es ging um eine Weichenstellung der deutschen Politik: Sollte die Bundeswehr Atomwaffen bekommen? Strauß wollte das, Augstein wollte es unter keinen Umständen.

Damit begann ein Feldzug des "Spiegel" gegen Strauß, den ich damals mit wachsendem Staunen verfolgte. Was Strauß anging, entwickelte sich das Nachrichtenmagazin zu einem politischen Kampfblatt. Augstein war offenbar entschlossen, die ganze publizistische Macht des "Spiegel" einzusetzen, um Strauß die letzte Stufe der Karriereleiter zu vermasseln, den Einzug ins Kanzleramt. Das Instrument dazu war, ihn als einen in Affären verstrickten, unberechenbaren Politiker darzu­stellen.



Es begann noch relativ harmlos mit der "Hahlbohm-Affäre". Am 3. September 1958 brachte das Ressort Deutschland I (das in Bonn residierte, nicht in Hamburg) eine Story mit dem Titel ”Kommandos am Kreuzweg”. Sie handelte von einem Vorfall an der Kreuzung vor dem Bonner Kanzleramt.

Siegfried Hahlbohm war ein 24jähriger Verkehrspolizist, der dort den Verkehr regelte. Das Abbiegen von der Koblenzer Straße zum Kanzleramt, dem Palais Schaumburg, war an dieser Kreuzung verboten. Strauß, der in seinem Dienstwagen auf dem Weg zum Kanzler war, wies seinen Fahrer Kaiser an, gleichwohl und gegen das ausdrückliche Signal Hahlbohms abzubiegen. Auf der Rückfahrt vom Kanzleramt ließ Strauß seinen Fahrer bei dem Polizisten halten und fragen, ob er Anzeige erstatten werde. Als Hahlbohm bejahte, sagte ihm Strauß: "Geben Sie mir Ihren Namen, ich werde dafür sorgen, daß Sie von der Kreuzung verschwinden."

So jedenfalls berichtete es der "Spiegel"; auch, daß Strauß später seinerseits Strafanzeige gegen den standhaften Polizisten erstattet und eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen ihn auf den Weg gebracht habe. Für den "Spiegel" war das symptomatisch für Strauß' Charakter:
Zu einer Charakterstudie von hintergründigem politischem Reiz haben sich die Gerichtsakten über ein Verkehrsdelikt ausgewachsen, das in dieser Woche vor einem Bonner Gericht verhandelt werden soll. (...) Der Bajuware im Ministerrang hatte es für richtig gehalten, dem Fahrer seines Dienstwagens eine Übertretung der Straßenverkehrsordnung zu befehlen. Nicht genug damit: Als sein Fahrer daraufhin angezeigt wurde, antwortete er mit Attacken, die besser als manche Bundestagsrede das Wesen des Ministers enthüllten.
Der Aufgabe, das Wesen des Ministers zu enthüllen, widmete der "Spiegel" fortan Story um Story. Es waren Berichte zu dem, was Augstein und seine Redakteure als Affären des Ministers ansahen - der plötzliche Reichtum seines "Onkel Aloys", der an Rüstungsgeschäften mit dem Verteidigungs­ministerium beteiligt war; die Fibag-Affäre um ein Bauvorhaben der US-Armee in Deutschland, das Strauß gefördert hatte und an dem Strauß-Spezis kräftig verdienen wollten; die Affäre um die Schützenpanzer HS 30, bei dessen Anschaffung durch die Bundeswehr Schmiergelder geflossen sein sollten; die Affäre um die Starfighter-Jagdflugzeuge, die überhastet in Dienst gestellt worden waren, und von denen viele abstürzten.

Der publizistische Aufwand war gewaltig; die Beweise dafür, daß Strauß sich persönlich etwas Justiziables hatte zuschulden kommen lassen, waren im Vergleich dazu dürftig. Das war kein seriöser Journalismus mehr; vieles las ich gar nicht erst, obwohl ich damals den "Spiegel" eigentlich vollständig zu lesen pflegte.

Mir kam das damals so vor, als hätte ein von mir verehrter Lehrer plötzlich angefangen, sich als ein irrer Pauker aufzuführen, der seine Schüler wild drangsaliert. Das war nicht mehr der "Spiegel", den ich bis dahin gekannt und sehr geschätzt hatte.

Gewiß, der "Spiegel" hatte es immer als seine Aufgabe angesehen, Affären aufzudecken; seine erste große Tat in dieser Sparte war die Aufdeckung einer Bestechungsaffäre im Zusammenhang mit der Entscheidung für Bonn als Bundeshauptstadt gewesen; diese Story erschien am 27. September 1950. Aber das waren keine journalistischen Feldzüge gewesen. Die Kampagne gegen Strauß war das.

Sie war maßlos; sie war überzogen. Es war offenkundig, daß es dem "Spiegel" nicht wie gewohnt darum ging, seine Leser zu informieren; sondern daß er sich selbst ins politische Spiel eingeschaltet hatte, mit dem Ziel, Franz-Josef Strauß zur Strecke zu bringen. Das selbsternannte "Sturmgeschütz der Demokratie" schoß mit allem, was es an Munition auftreiben konnte.



Ein Höhepunkt war die Titelgeschichte "Der Endkampf" vom 5. April 1961. Augstein selbst hatte diesen Artikel geschrieben, in dem er ausmalte, was die Folgen einer Kanzlerschaft von Strauß sein würden:
Welche Schranke aber wäre einem 45jährigen oder 50jährigen Bundeskanzler Strauß gezogen? Die deutsche Bevölkerung, ist so sehr gewöhnt, den vom Herrgott verfügten Regierungswechsel als den einzig möglichen anzusehen, daß nur noch wenige Handgriffe nötig sind, um in der Bundesrepublik die Herrschaft eines permanenten Chefs zu installieren.

Es könnte anfangen mit einer Wahlgesetz-Manipulation, wie sie in zwei Legislaturen der Ära Adenauer versucht worden ist. Mit der solcherart geschaffenen Zweidrittelmehrheit könnte die Verfassungs­gerichts­barkeit personell und institutionell aus den Angeln gehoben und der Bundesrat unterlaufen werden. (...) Die Todesstrafe würde, auch für politische Straftaten, eingeführt und der Ehrenschutz so perfekt, wie selbst CSU-Schäffer es sich noch nicht träumen läßt. (...)

Hat eine Bundestagsmehrheit den Franz-Josef Strauß erst einmal zum Kanzler gewählt, wird sie sich am nächsten Tag in Abhängigkeit von dem Gewählten wiederfinden. Seine bayrischen Praktiken sind den rheinischen Konrad Adenauers an Effektivität vielfach überlegen. Es bedürfte nur einer einzigen Krise, um die Unabsetzbarkeit dieses geübten Panikmachers zu begründen.
Das fürchtete Augstein damals allen Ernstes - daß ein Franz-Josef Strauß, erst einmal zum Kanzler gewählt, per kaltem Staatstreich der Demokratie ein Ende machen würde.

Augsteins langer Artikel - er geht über 16 "Spiegel"-Seiten - schließt mit dieser düsteren Prognose:
Ob die CDU oder die SPD künftig Wahlen gewinnen wird, ist nicht mehr so sehr von Belang. Wichtig erscheint allein, ob Franz-Josef Strauß ein Stück weiter auf jenes Amt zumarschieren kann, das er ohne Krieg und Umsturz schwerlich wieder verlassen müßte.



Was hatte Augstein so weit gebracht? Damals konnte man nur annehmen, daß es tiefgreifende politische Differenzen waren - über eine mögliche Atomrüstung der Bundeswehr, über die Politik gegenüber der Sowjetunion - und daß die "Spiegel"-Leute ihr Bild von Strauß aus dessen öffentlichen Auftritten und Aktionen bezogen hatten; vielleicht auch aus dem einen oder anderen "Spiegel"-Gespräch oder Interview.

Erst viel später erfuhr die Öffentlichkeit den wahren Hintergrund. Man kann ihn in jeder der inzwischen vorliegenden Augstein-Biografien nachlesen - von Ulrich Greiwe (1994), von Leo Brawand (1995), von Dieter Schröder (2004), von Peter Merseburger (2007); alle bis auf Greiwe einstige "Spiegel"-Redakteure.

Am zuverlässigsten ist die Darstellung Brawands, denn er war bei dem dabei, was sich in der Nacht vom 9. auf den 10. März 1957 in Augsteins Haus am Hamburger Maienweg 2 abspielte.

Der damals 33jährige hochbegabte Aufsteiger Augstein und der acht Jahre ältere hochbegabte Aufsteiger Strauß waren einander zunächst, wie erwähnt, freundlich gesonnen gewesen; das war in der Titelgeschichte vom Januar 1957 zum Ausdruck gekommen. So freundlich, daß Augstein den Minister Strauß zu einem Abend in sein Haus einlud, zusammen mit "Spiegel"-Redakteuren und zum Verzehr von Hähnchen à la provençale. Die "Spiegel"-Leute sahen das als Gelegenheit zu einem journalistisch ergiebigen Hintergrund­gespräch; Strauß wollte es eher locker angehen lassen.

Man achtete nicht auf die Zeit. Strauß verpaßte den letzten Zug nach Bonn, obwohl Augstein ihn in einer waghalsigen Fahrt zum Bahnhof chauffiert hatte. Zuvor hatte Strauß vergeblich versucht, den Fahrdienstleiter durch seinen vorausgeschickten Begleiter, den Ministerialrat Gosch, zum Wartenlassen des Zugs bewegen zu lassen. Man fuhr also zurück in den Maienweg und trank weiter, bis Strauß gegen 3.30 Uhr ins Hotel Prehm am Alsterufer verfrachtet wurde.

Sowohl Strauß als auch Augstein waren starke Trinker. Alkoholisiert sagte Strauß Dinge, die Augstein und seine Redakteure entsetzten; arrogant und bramabasierend. Über die Sowjets beispielsweise äußerte Strauß laut Augstein in dieser Nacht: "Einen Sittlichkeitsverbrecher läßt man auch nicht frei herumlaufen". Er machte rassistische Witze über Juden und Neger.

Mit den Redakteuren Dr. Horst Mahnke und Hans Schmelz (er war, wie Ahlers, später einer der Autoren des Artikels "Bedingt abwehrbereit", der die "Spiegel"-Affäre auslöste) legte Strauß sich derart an, daß Augstein zur Abkühlung des Klimas Schmelz zeitweilig vor die Tür schickte; Mahnke folgte ihm von sich aus. Brawand, damals Chef des Wirtschaftsressorts und später Chefredakteur des "Manager Magazin", der den Verlauf dieser Nacht am nächsten Tag in seinem stenographischen Tagebuch festhielt, erinnert sich an Strauß' Vorschlag an seinen Gastgeber: "Wann’s so reden wollt, ladet’s euch Zuhälter oder Ganoven ein, aber nicht einen Minister der Bundesregierung".



Von jener Nacht an sah Augstein in Strauß eine Gefahr für Deutschland. Er wurde von der Horror-Vorstellung verfolgt, dieser Mann könne einmal Kanzler werden. In einem Interview hat der alte Augstein selbst die Geschichte dieser Nacht erzählt, in der aus seiner Sicht Franz-Josef Strauß seinen wahren Charakter offenbart hatte. Dieser aufbrausende, unkontrollierte Mann als Kanzler und dazu eine atomar gerüstete Bundeswehr - das erschien Augstein als eine so fürchterliche Perspektive, daß dagegen jedes journalistische Mittel erlaubt sein mußte.

Das also war es, was Augstein veranlaßt hatte, den Charakter des "Spiegel" Ende der fünfziger Jahre umzukrempeln; ihn zu einem Kampfblatt gegen Strauß zu machen. Von diesem Hintergrund ahnten wir Leser damals nichts. Aber daß dieser Kampf irgendwann mit einem Showdown enden würde, das erwartete ich. Der Kraftmensch Strauß würde sich diese jahrelangen Attacken nicht unbegrenzt gefallen lassen. Irgendwann würde er zurückschlagen.

Als in der Nacht des 26. Oktober 1962, eines Freitag, im Radio gemeldet wurde, es laufe eine Polizeiaktion gegen den "Spiegel", war mein erster Gedanke: Da steckt Strauß dahinter. Vom Samstag an war die Aktion gegen den "Spiegel" das Tagesgespräch; auch unter uns Studenten. Uns wurde schlagartig klar, daß es künftig mit einer ironisch-distanzierten Haltung zur Politik wohl nichts mehr sein würde. Das schildere ich im dritten und letzten Teil.
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelbild: Das Hamburger Pressehaus am Speersort 1, wo 1962 neben "Zeit" und "Stern" auch der "Spiegel" residierte; 1968 zog man in den Neubau an der Brandswiete, 2011 dann in das jetzige Gebäude in der HafenCity. Abbildung vom Autor David Kostner unter Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported-Lizenz freigegeben.