Schmidt: ... bin ich sehr skeptisch, wenn ich das neue Schlagwort der responsibility to protect höre. Dieses Prinzip propagiert einen Verstoß gegen geltendes Völkerrecht.
di Lorenzo: Es geht von der Vorstellung aus, dass Menschenrechte unteilbar sind und es eine Verantwortung zum Schutz des Menschen gibt.
Schmidt: Es geht von der Vorstellung aus, dass Menschenrechte wichtiger sind als das Völkerrecht.
di Lorenzo: Ist Freiheit in Ihren Augen nicht so wichtig wie Wohlstand?
Schmidt: Das Freiheitsideal, das Ideal der einzelnen Person ist eine Erfindung der europäischen Neuzeit – mit der Tendenz zur Ausbreitung auf der ganzen Welt.
Kommentar: An einer Stelle des Gesprächs sagt di Lorenzo: "Sie merken, dass ich immer wieder Schwierigkeiten habe, Ihnen zu folgen"; Schmidts lakonische Antwort: "Sie müssen ja nicht!".
Solche Dialoge durchziehen diese Gespräche. Denn immer wieder ist di Lorenzo sichtlich verstört darüber, daß Schmidt sich dem verweigert, was im heutigen Deutschland als Konsens gilt.
Schmidt ist ein Konservativer; der vielleicht bedeutendste, sicher aber der angesehenste konservative Denker, den wir gegenwärtig in Deutschland haben. Sein Ruhm als Elder Statesman; der Umstand auch, daß er Sozialdemokrat ist, ermöglichen es ihm, Dinge zu sagen - und dafür respektiert zu werden - , mit denen andere Empörtheit auslösen würden; beispielsweise, Thilo Sarrazins Ansichten zur Erblichkeit von Intelligenz zuzustimmen.
In dem jetzigen Gespräch rührt di Lorenzos Unverständnis daher, daß Schmidt sich beharrlich weigert, China primär unter dem Gesichtspunkt der Menschenrechte zu sehen. Er bewundert Deng Xiaoping, den er als den erfolgreichsten kommunistischen Führer der Weltgeschichte sieht. Er weigert sich, Empörtheit über das Tiananmen-Massaker zu zeigen und nennt es die "Tiananmen-Tragödie". Statt zu verurteilen, nennt er Hintergründe; zum Beispiel den damaligen Besuch Gorbatschows und das Fehlen einer kasernierten Polizei in China.
Di Lorenzo ist ein Progressiver; als Chefredakteur der "Zeit" zugleich nachgerade die Verkörperung des politisch stets korrekten, "linksliberalen" Lesers seines Blattes. Schmidt ist ein Erzkonservativer. Seine engsten Freunde sind Henry Kissinger; der Republikaner George Shultz, einst Ronald Reagans Außenminister; und Lee Kuan Yew, der drei Jahrzehnte lang Singapur autokratisch regierte.
Das Gespräch über China und über responsibility to protect, also das Recht auf militärische Interventionen aus humanitären Gründen, illustriert exemplarisch diese beiden Haltungen.
Der Progressive sieht die Gesellschaft in stetem Fortschritt begriffen und sich selbst in der moralischen Pflicht, diesen zu befördern. Der Konservative sieht mit Distanz das Kommen und Gehen der Zivilisationen. Schmidt - gewiß ein Befürworter der Menschenrechte - rückt diese in die Perspektive einer historischen Erscheinung innerhalb einer bestimmten Periode einer einzigen, der westlichen Kultur.
Der progressive Moralist di Lorenzo sieht in Deng Xiaoping primär den Verantwortlichen für das Tiananmen-Massaker. Schmidt sieht in ihm den Verantwortlichen für die Reformen, die das heutige China geschaffen haben. Moralisieren ist dem Konservativen Schmidt fremd. Selbst Mao vermag er nicht moralisierend zu verurteilen.
Der Konservative Schmidt ist nicht bereit, die Menschenrechte über das Völkerrecht zu stellen. Gewiß, er ist für die Verbreitung der Menschenrechte; aber, wie er sagt, mit soft power, mit sanfter Gewalt. Die vielleicht bezeichnendste Stelle des Gesprächs ist diese:
di Lorenzo: Es geht von der Vorstellung aus, dass Menschenrechte unteilbar sind und es eine Verantwortung zum Schutz des Menschen gibt.
Schmidt: Es geht von der Vorstellung aus, dass Menschenrechte wichtiger sind als das Völkerrecht.
di Lorenzo: Ist Freiheit in Ihren Augen nicht so wichtig wie Wohlstand?
Schmidt: Das Freiheitsideal, das Ideal der einzelnen Person ist eine Erfindung der europäischen Neuzeit – mit der Tendenz zur Ausbreitung auf der ganzen Welt.
Helmut Schmidt im Gespräch mit Giovanni di Lorenzo. Diese Folge der Gesprächsreihe "Verstehen Sie das, Herr Schmidt?" ist im aktuellen "Zeit-Magazin" (38/2012 vom 13. 9. 2012) und bei "Zeit-Online" zu lesen.
Kommentar: An einer Stelle des Gesprächs sagt di Lorenzo: "Sie merken, dass ich immer wieder Schwierigkeiten habe, Ihnen zu folgen"; Schmidts lakonische Antwort: "Sie müssen ja nicht!".
Solche Dialoge durchziehen diese Gespräche. Denn immer wieder ist di Lorenzo sichtlich verstört darüber, daß Schmidt sich dem verweigert, was im heutigen Deutschland als Konsens gilt.
Schmidt ist ein Konservativer; der vielleicht bedeutendste, sicher aber der angesehenste konservative Denker, den wir gegenwärtig in Deutschland haben. Sein Ruhm als Elder Statesman; der Umstand auch, daß er Sozialdemokrat ist, ermöglichen es ihm, Dinge zu sagen - und dafür respektiert zu werden - , mit denen andere Empörtheit auslösen würden; beispielsweise, Thilo Sarrazins Ansichten zur Erblichkeit von Intelligenz zuzustimmen.
In dem jetzigen Gespräch rührt di Lorenzos Unverständnis daher, daß Schmidt sich beharrlich weigert, China primär unter dem Gesichtspunkt der Menschenrechte zu sehen. Er bewundert Deng Xiaoping, den er als den erfolgreichsten kommunistischen Führer der Weltgeschichte sieht. Er weigert sich, Empörtheit über das Tiananmen-Massaker zu zeigen und nennt es die "Tiananmen-Tragödie". Statt zu verurteilen, nennt er Hintergründe; zum Beispiel den damaligen Besuch Gorbatschows und das Fehlen einer kasernierten Polizei in China.
Di Lorenzo ist ein Progressiver; als Chefredakteur der "Zeit" zugleich nachgerade die Verkörperung des politisch stets korrekten, "linksliberalen" Lesers seines Blattes. Schmidt ist ein Erzkonservativer. Seine engsten Freunde sind Henry Kissinger; der Republikaner George Shultz, einst Ronald Reagans Außenminister; und Lee Kuan Yew, der drei Jahrzehnte lang Singapur autokratisch regierte.
Das Gespräch über China und über responsibility to protect, also das Recht auf militärische Interventionen aus humanitären Gründen, illustriert exemplarisch diese beiden Haltungen.
Der Progressive sieht die Gesellschaft in stetem Fortschritt begriffen und sich selbst in der moralischen Pflicht, diesen zu befördern. Der Konservative sieht mit Distanz das Kommen und Gehen der Zivilisationen. Schmidt - gewiß ein Befürworter der Menschenrechte - rückt diese in die Perspektive einer historischen Erscheinung innerhalb einer bestimmten Periode einer einzigen, der westlichen Kultur.
Der progressive Moralist di Lorenzo sieht in Deng Xiaoping primär den Verantwortlichen für das Tiananmen-Massaker. Schmidt sieht in ihm den Verantwortlichen für die Reformen, die das heutige China geschaffen haben. Moralisieren ist dem Konservativen Schmidt fremd. Selbst Mao vermag er nicht moralisierend zu verurteilen.
Der Konservative Schmidt ist nicht bereit, die Menschenrechte über das Völkerrecht zu stellen. Gewiß, er ist für die Verbreitung der Menschenrechte; aber, wie er sagt, mit soft power, mit sanfter Gewalt. Die vielleicht bezeichnendste Stelle des Gesprächs ist diese:
Schmidt: Ich bin ein Gegner von allen Menschenrechtsverletzungen; aber ich bleibe ein Anhänger der Nichteinmischung in die Angelegenheiten eines anderen Staates.In jedem anderen Land der westlichen Welt gibt es als Gegenpart zu den Progressiven ein konservatives politisches Lager, das den Respekt genießt, den es verdient. In Deutschland ist in diesem Bereich des politischen Spektrums heute ein Vakuum. Der letzte große konservative Publizist war vielleicht Johannes Gross. Der letzte große konservative Staatsmann könnte Helmut Schmidt sein.
di Lorenzo: Egal, was die Mächtigen dort anstellen?
Schmidt: Ohne Zusätze.
Zettel
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