10. Januar 2012

Zettels Meckerecke: "Es ist zum Verzweifeln". Wie "Spiegel-Online" über die Lage der Kandidaten im US-Vorwahlkampf desinformiert

Bei "Spiegel-Online" macht man sich Sorgen um die Republikanische Partei in den USA. Genauer: Es sind Sebastian Fischer und Marc Pitzke, die sich sorgen. Seit heute um 12.50 Uhr können Sie es lesen:
Es ist zum Verzweifeln. Die US-Republikaner suchen einen Gegenkandidaten zu Präsident Barack Obama. Doch kurz vor der Entscheidung in New Hampshire strauchelt Favorit Mitt Romney und Shooting-Star Rick Santorum verliert die Nerven.
Schlimm, schlimm. Der bisherige Favorit Mitt Romney gestrauchelt, also am Boden. Rick Santorum, so müssen wir befürchten, ein Nervenbündel.

Nur ist es nicht so. Beiden geht es bestens; die heutigen Wahlen dürften für den einen wie den anderen zum Erfolg werden. Schauen wir uns die letzten Umfragedaten zum Primary in New Hampshire an, über das ich das Wichtigste schon berichtet habe (US-Präsidentschaftswahlen 2012 (9): Die doppelte Bedeutung der heutigen Vorwahlen in New Hampshire; ZR vom 10. 1. 2012):
  • In seiner abschließenden Vorhersage - einer Prognose, die sämtliche verfügbaren Umfragedaten auswertet, Stand heute 16.37 MEZ - gibt der Statistiker Nate Silver Mitt Romney, dem von "Spiegel-Online" am Boden Gesichteten, 38,5 Prozent und damit eine Siegeswahrscheinlichkeit von 98 Prozent. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 1 Prozent könnte Ron Paul siegen, für den Silvers Modell 18,6 Prozent der Stimmen vorhersagt. Dritter, mit einer Sieges­wahrscheinlichkeit von null Prozent und vorhergesagten 17,0 Prozent der Stimmen, wird danach Jon Huntsman.

    Vergleicht man das mit der gestrigen Prognose, dann hat sich bei Romney nichts geändert. Ron Paul hat kurz vor Toresschluß rund ein Prozent verloren, während sich Huntsman noch einmal um mehr als ein Prozent verbessert hat; das in den letzten Tagen zu beobachtende momentum hat sich also bei ihm bis zur letzten Minute fortgesetzt.

  • Ähnliche Prognosen liefert eine weitere - aber nicht ganz so aktuelle - Analyse, welche ebenfalls die Daten der einzelnen Institute aggregiert: Real Clear Politics gibt Romney mit 37,5 Prozent einen 20-Prozentpunkte-Vorsprung vor Ron Paul mit 17,5 Prozent, gefolgt von Huntsman mit 14,5 Prozent und Santorum mit (für ihn in diesem Ostküsten-Staat ausgezeichneten) 11,5 Prozent. Der Unterschied zu Nate Silvers Werten liegt vor allem bei der Prognose für Huntsman; die Ursache dürfte sein, daß Silver noch das momentum der letzten Tage und Stunden in seine Berechnung einbezogen hat. Ich halte es für wahrscheinlich, daß Silvers Prognose sich als die bessere erweisen wird.

  • Selbst der führende linke politische Blog der USA, die Huffington Post, sieht Romney keineswegs gestrauchelt, sondern schreibt, wenn jemals Umfragedaten sicher gewesen seien, dann jetzt die Vorhersage eines Siegs von Romney in New Hampshire. Zitiert werden dort die letzten Daten des Wahlforschungsinstitut der Universität Suffolk, die einen sprunghaften Anstieg der Werte für Romney in den letzten Tagen zeigen: Von 33 Prozent (Umfrage am Samstag/Sonntag) auf 37 Prozent (in Umfragen am Sonntag und gestern).
  • So steht es um ihn, den "Gestrauchelten". Wer seriös analysiert, der sieht ihn als den unangefochtenen Sieger der heutigen Vorwahl.



    Aber Marc Pitzke, "Spiegel-Online"-Korrespondent mit Sitz in New York, ist ja nicht dafür bekannt, daß er seriös analysiert. Er berichtet nicht, er agitiert. Verzerrungen, Schlampereien und Desinformationen sind nachgerade sein Markenzeichen.

    Wenn Sie das nachlesen wollen, dann mögen Sie vielleicht nach

    marc pitzke site:zettelsraum.blogspot.com

    googeln. Sie finden dann ziemlich viele Artikel, in denen ich mich mit dieser Zierde des deutschen Journalismus befaßt habe. Als kleine Kostprobe könnten Sie beispielsweise lesen, wie es mit Pitzkes Kenntnissen des Englischen bestellt ist: If Marc Pitzke really English can?; ZR vom 28. 9. 2008. Oder wenn Sie Horror schätzen - wie wäre es dann mit Die toten Körper der Sarah Palin; ZR vom 12. 9. 2008?

    Wenn derartige Artikel in Zettels kleinem Zimmer diskutiert werden, dann tauchen immer wieder zwei Fragen auf:

    Erstens, warum machen die das? Die Desinformation liegt doch auf der Hand. Jeder kann - beispielsweise in den amerikanischen Medien - lesen, daß die Lage von Mitt Romney vor dem Primary in New Hampshire das Gegenteil von "zum Verzweifeln" ist. Alle Umfragedaten strafen "Spiegel-Online" Lügen.

    Zweitens: Ist es denn sinnvoll, wenn ich immer wieder in ZR auf diese Agitprop hinweise? Ist nicht längst allgemein bekannt, daß man sich aus "Spiegel-Online" nicht seriös informieren kann?

    Die beiden Fragen hängen zusammen. Meine Antwort auf die zweite lautet: Man ärgert sich über "Spiegel-Online", aber man braucht es. In die Internetausgabe der "taz" sehe ich fast nie; diese Agitation kann ich mir ersparen. Bei "Spiegel-Online" wird (von Journalisten, von denen viele das ja bei der "taz" gelernt haben) ebenfalls agitiert. Aber es gibt auch sehr viele meist sehr aktuelle Meldungen.

    Man will die Information lesen; und man fällt dabei auf die Agitation herein. Da das den meisten Lesern von "Spiegel-Online" so gehen dürfte (auch mir geht es so), scheint es mir richtig zu sein, immer einmal wieder auf die Agitprop aufmerksam zu machen, in die das Informative sozusagen eingewickelt wird.

    Was die andere Frage angeht: Warum macht die Redaktion das? Warum gibt man sich immer wieder die Blöße, Dinge zu behaupten, die - wie im jetzigen Fall - offenkundig die Unwahrheit sind?

    Wie gesagt, die beiden Fragen gehören zusammen. Der Erfolg von "Spiegel-Online" hat den Aspekt, daß viele es als Haupt-Nachrichtenquelle nutzen. Viele Leser können nicht genug Englisch, oder es fehlt ihnen die Zeit, sich aus seriösen Quellen zu informieren. Sie lesen im jetzigen Fall von der "verzweifelten" Situation Mitt Romneys, und sie glauben es, weil sie nicht die Informationen haben, welche die Agitation widerlegen. Es ist die Masche jeder Propaganda: Es einfach frech versuchen. Semper aliquid haeret - irgend etwas wird sich schon festsetzen, im Kopf des Lesers.
    Zettel



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