28. Januar 2012

Zitat des Tages: "Der Kapitalismus ist noch längst nicht am Ende". Dorothea Siems über Stärke und Gefährdung der Marktwirtschaft

Die Abgesänge auf den Kapitalismus sind – mal lauter, mal leiser – seit seinen Frühzeiten zu hören. Doch immer wieder gelang es der Marktwirtschaft, ihre Kritiker zu widerlegen – weil sie sich als überaus anpassungsfähig erwies. (...) Die Gefahr ist indes, dass nach einer langen Phase der Liberalisierung nun das Pendel all zu stark in die Gegenrichtung ausschlägt. Die Freiheit, die wir für selbstverständlich nehmen, geht dann schleichend verloren: durch höhere Steuern, staatliche Gängelei, weniger Wandel.
Die Chefkorrespondentin für Wirtschaftspolitik der "Welt"-Gruppe Dorothea Siems in einem Kommentar in "Welt-Online" anläßlich des Weltwirtschaftsforums in Davos; Titel: "Der Kapitalismus ist noch längst nicht am Ende".

Kommentar: Ist dieser Artikel lesenswert? Ja und nein. Was Dorothea Siems schreibt, das sind im Grunde Binsenweisheiten - daß der Erfolg des Kapitalismus auf seiner Anpassungsfähigkeit beruht; daß er dank dieser Wandelbarkeit bisher noch immer die Prognosen überlebt hat, die ihn zum baldigen Untergang verurteilten; daß auch als Reaktion auf die jetzige Krise wieder ein modifizierter Kapitalismus im Entstehen ist, der beste Aussichten hat zu überleben.

Und daß die Gefahr für unsere Zukunft nicht in zu viel, sondern in zu wenig Kapitalismus besteht. Weil nämlich ohne dessen Dynamik Länder wie Brasilien und Indien nicht unseren Wohlstand erreichen könnten; und weil ohne die Dynamik des Kapitalismus auch das Generationenproblem bei uns nicht mehr zu bewältigen sein wird:
Und auch der nachwachsenden Generation im reichen Westen droht ohne den wirtschaftlichen Wandel, dessen Motor der Kapitalismus ist, eine düstere Zukunft. Denn in allen Industrieländern schreitet die Überalterung unerbittlich voran. Deutschland schrumpft bereits.

Infolge der steigenden Lebenserwartung klettern die Ausgaben für Gesundheit, Rente und Pflege. In einem rasch alternden Volk, das auf gesellschaftliche und wirtschaftliche Dynamik verzichtet, werden entweder die Betagten verarmen oder die Jungen finanziell ausbluten. Nur wenn der Kuchen auch künftig wächst, lassen sich derart hässliche Verteilungskämpfe vermeiden.
Binsenweisheiten, gewiß. Aber es ist eben kennzeichnend für die gegenwärtige gesellschaftliche Gestimmtheit (nicht nur in Deutschland, aber hier besonders ausgeprägt), daß es schon fast eine Sensation ist, wenn jemand diese Binsenweisheiten ausspricht.

Wir haben seit 2008 eine Krise zunächst der amerikanischen Finanzwirtschaft, dann des internationalen Finanzsystems, jetzt der verschuldeten Staaten Europas und damit des Euroraums. In Krisen suchen diejenigen, die einer genaueren Analyse nicht fähig oder die nicht willens sind, sich um sie zu bemühen, gern nach einem, nach dem Schuldigen.

Nach einem Schuldigen zu suchen, das entlastet. Es ist erleichternd, seine Sorgen, auch seine Aggressionen auf ihn zu projizieren. In der Bibel ist es der sprichwörtliche Sündenbock, auf den am Jom Kippur die Sünden des Volks übertragen wurden, bevor man ihn in die Wüste schickte. Die Rolle des Sündenbocks spielten danach mal Fremde - Juden, Zigeuner -, mal Außenseiter wie Hexen und Ketzer.

Heute geben wir uns aufgeklärter. Aber die Vorstellung, daß "der Kapitalismus" oder "das Bankensystem" schuld daran seien, daß seit der Einführung des Euro Länder wie Griechenland glaubten über ihre Verhältnisse leben zu können, ist nicht rationaler, als Dürren, Unwetter und Mißernten dem bösen Blick von Hexen zuzuschreiben.

Da liest man eine Stimme der Vernunft wie die von Dorothea Siems gern; auch wenn sie nichts ausspricht, was nicht eigentlich jeder wissen könnte. ­
Zettel



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