22. Januar 2012

US-Präsidentschaftswahlen 2012 (12): Gingrichs Triumph. "Noch nie gab es ein solches Auf und Ab". Obama, Wählbarkeit und Rückkopplung

"Wir sehen dieses Jahr mehr Bewegung, mehr Auf und Ab bei republikanischen Vorwahlen als irgendwann, seit wir dazu Daten erheben". Das sagte am Vorabend der gestrigen Entscheidung in South Carolina der Chefredakteur von Gallup, Frank Newport, im amerikanischen TV-Sender MSNBC. Was sich in der vergangenen Woche in diesem Wahlkampf abgespielt hat, ist in der Tat bemerkenswert:

Noch in der ersten Wochenhälfte sah bei den Republikanern (GOP) alles klar und sozusagen normal aus: Mitt Romney hatte in New Hampshire gewonnen und schien nun auf dem Weg zu einem sicheren Sieg auch in South Carolina zu sein (siehe Das Rennen bei der GOP scheint gelaufen; ZR vom 16. 1. 2012).

Bis Donnerstag Vormittag herrschte dieser Eindruck. Dann aber wurden die Daten aus drei neuen Umfragen bekannt, und das Bild begann erst zu wackeln und dann in ein ganz anderes Szenario überzublenden. Sie können das an meinem Artikel vom Donnerstag sehen, den ich deshalb am Abend mit einem Nachtrag versehen habe (Mitt Romney "strauchelt" schon wieder. "Spiegel-Online" und die Vorwahl in South Carolina; ZR vom 19. 1. 2012).

Gingrich führte in diesen drei Umfragen plötzlich vor Romney. Dann kamen - bis vorgestern unmittelbar vor der Vorwahl - weitere Umfragen hinzu, die zeigten, wie dieser Vorsprung immer weiter wuchs. Nate Silver hat mit seinen Auswertungen dieser Entwicklung fortlaufend Rechnung getragen und als seine letzte Prognose errechnet, daß Gingrich mit 38,7 Prozent siegreich sein würde; gegen Romney mit 29,3 Prozent.

Während ich dies schreibe, sind 99 Prozent der Stimmen ausgezählt; danach hat Gingrich 40 Prozent erreicht und Romney 28. Wieder einmal hat es also Nate Silver geschafft, ein Ergebnis auf fast einen Prozentpunkt genau vorherzusagen - und dies trotz der dramatischen Änderungen in dieser Woche. Wie bekommt er das hin? Und wie lassen sich diese Veränderungen erklären?



Beginnen wir mit dem zweiten Punkt. Ich stütze mich neben den Analysen von Nate Silver vor allem auf die Berichterstattung und Kommentierung in CNN während der Wahlnacht.

Die Ausgangslage ist immer noch so, wie ich sie in dieser Serie wiederholt beschrieben habe; erstmals schon im ersten Artikel Anfang September. Damals habe ich nach der ersten Debatte zwischen den Kandidaten der GOP meinen Eindruck geschildert, der sich in den Monaten seither auch als derjenige vieler republikanischer Wähler erwies:
Begeistern konnte ich mich in der Debatte für keinen dieser Kandidaten. (...). Ich habe niemanden gesehen, von dem ich auf Anhieb sagen würde: Das ist ein Kandidat, der von seiner Persönlichkeit und seinem Intellekt her, der aufgrund seiner politischen Positionen der Richtige ist, um Barack Obama zu schlagen. (US-Präsidentschaftswahlen 2012 (1): Der lange Vorlauf. Ein erster Eindruck von den republikanischen Kandidaten; ZR vom 9. 9. 2011).
Damals waren noch Kandidaten mit von der Partie, die sich inzwischen verabschiedet haben - Herman Cain, Michele Bachmann, Jon Huntsman, Rick Perry. Die verbliebenen vier Kandidaten haben nach vielen Debatten und Reden an Profil gewonnen. Aber geändert hat sich am Kernsachverhalt nichts: Keiner bietet sich als derjenige an, der Barack Obama schlagen kann.

Andererseits aber steht just dies nach drei Jahren Obama bei den republikanischen Wählern ganz im Vordergrund: Sie wollen Barack Obama loswerden, von dem viele glauben, daß er aus Amerika, dem - so die Nationalhymne - "Land der Freien" ein anderes Land machen will; ein sozialdemokratisiertes Land, in dem nicht mehr der freie Einzelne im Mittelpunkt steht, sondern in dem die Bürokratie in Washington in das Leben der Bürger hineinregiert.

Das zu verhindern ist das dominante Motiv bei denen, die nicht auf Obamas Seite stehen. Es ist das überragende Motiv, dem sich alle anderen Motive unterordnen. Deshalb zählt bei den Kandidaten vor allem eines: Ob sie Obama schlagen können; die "Wählbarkeit" (electability).

Woher kennt man sie, die Chance eines Kandidaten, gegen Barack Obama siegreich zu sein? Natürlich aus den Umfragen. Und damit ergibt sich ein klassischer Rückkopplungseffekt, der viel von dem dramatischen Auf und Ab der Kandidaten erklärt: Steigen - aus welchem Grund auch immer - die Umfragewerte eines Kandidaten, dann wächst damit automatisch seine electability. Er wird also attraktiver, und damit steigen seine Umfragewerte weiter. Kleine Schwankungen werden so verstärkt.

Das ist in dieser Woche zugunsten von Newt Gingrich passiert. Er hat in zwei Debatten - am Montag und am Donnerstag - besser ausgesehen als Mitt Romney; und er hat vor allem eines gezeigt, das Mitt Romney nicht kann: Eine aggressive Selbstbehauptung hinzulegen; eine Debatte souverän zu beherrschen.

Am Donnerstag fragte ihn der CNN-Journalist John King zu einem Thema, das im Lauf der Woche in die Schlagzeilen gekommen war: Gingrichs zweite Frau Marianne hatte in einem Interview berichtet, wie dieser ihr eine "offene Beziehung" hatte zumuten wollen; er war damals bereits mit seiner späteren dritten Frau liiert. Bei den konservativen Wählern ein heikles Thema - Gingrich aber meisterte die Situation souverän, indem er sich aggressiv gegen die Frage verwahrte und das gleich mit einer Medienschelte verband. Sie können sich das hier ansehen; achten Sie auf die jubelnde Reaktion des Publikums.

Da war er - so kann man das wohl interpretieren -, der Mann, der auch einem Barack Obama rhetorisch gewachsen sein würde! In diesen beiden Debatten stieg Gingrichs electability dramatisch an.

In der vergangenen Wahlnacht interviewte CNN Personen, die bisher unentschieden gewesen waren, und fragte sie nach dem Grund, warum sie sich jetzt für Gingrich entschieden hätten. Dieses Moment, daß er der richtige sei, um Obama zu schlagen, tauchte immer wieder auf. Bei denen, die jetzt für Romney waren, überwogen die Sachargumente; daß er beispielsweise die Wirtschaft voranbringen würde. Bei Gingrich war es, daß er mit seinem Auftreten überzeugt hatte.

Die Wähler in South Carolina haben also in dieser Woche, in der viele Romney fallenließen und zu Gingrich übergingen, nicht ihre politische Meinung und auch nicht unbedingt ihre Sympathie für diese Personen geändert. Sie sind nur zu der Überzeugung gekommen, daß Gingrich eher als Mitt Romney in der Lage ist, Obama zu schlagen. Also haben sie gestern Newt Gingrich gewählt.



Wie konnte Nate Silver die dramatischen Veränderungen der vergangenen Woche so genau verfolgen und am Ende das Ergebnis so exakt vorhersagen? Sie können die Einzelheiten seiner (und seines Teams) mathematischen Analysen in zwei Artikeln nachlesen: Hier wird die allgemeine Methodik bei der Aufarbeitung von Umfragedaten erläutert; und hier können Sie lesen, wie das Verfahren speziell bei der Vorhersage der Ergebnisse von Vorwahlen ist, bei denen besondere Bedingungen herrschen.

Im Einzelnen ist das sehr komplex. Hier sind ein paar Kernpunkte:
  • Es werden sämtliche Umfragen ausgewertet, sobald sie verfügbar sind, und miteinander verrechnet. Dieses Verrechnen besteht nicht einfach - wie das andere Aggregate machen - darin, eine arithmetisches Mittel zu bilden. Sondern die Daten werden vielfach gewichtet: Neuere Umfragen erhalten ein höheres Gewicht als ältere; das Gewicht ist abhängig vom Umfang der Stichprobe; die einzelnen Institute werden danach gewichtet, wie methodisch exakt sie arbeiten.

  • Diese Werte werden dann nach verschiedenen Gesichtspunkten weiter korrigiert (adjustment). Beispielsweise wird eine Umfrage höher gewichtet, die ihre Stichprobe nicht bei allen registrierten Wählern erhoben hat, sondern nur bei likely voters; also solchen, von denen man vermutet, daß sie auch wählen gehen werden. (Wie man das ermittelt, ist wieder ein eigenes Thema).

  • Es folgen weitere Schritte, bei denen auch Faktoren außerhalb von Umfragedaten berücksichtigt werden; beispielsweise die soziale Zusammensetzung und Altersstruktur der Wähler in einem US-Staat.
  • Aus allem dem - ich habe jetzt nur wenige Beispiele genannt - liefert das mathematische Modell die Vorhersage von Wahlergebnissen. Bei Vorwahlen kommen noch einige weitere Anpassungen hinzu, die erforderlich sind, um deren Besonderheiten zu berücksichtigen - beispielsweise die Neigung der Wähler, ihr Urteil schnell zu revidieren; wie es sich in dieser Woche drastisch gezeigt hat.



    Wie wird es weitergehen? Es gab bisher drei Vorwahlen mit drei Siegern. In Iowa hat (nach einer Korrektur der Auszählung) Rick Santorum ganz knapp die meisten Stimmen erreicht, in New Hampshire Mitt Romney; und jetzt also in South Carolina Newt Gingrich. Diese drei und auch Ron Paul - der immer gut abgeschnitten hat, aber nie in die Nähe eines Siegs kam - werden auch zu den kommenden Vorwahlen antreten.

    Die nächste ist in zehn Tagen in Florida. Vieles spricht dafür, daß dort wieder Romney gewinnen wird; beispielsweise ist die Sozialstruktur dort so wie bei denjenigen Wählern, die auch bisher schon überproportional für ihn gestimmt haben.

    Aber nach den gestrigen Erfahrungen ist auch das nicht mehr sicher. Entscheidend dürfte auch dort die Rückkopplung via electability werden. Von wem die Wähler denken, er könne Obama schlagen, für den sprechen sie sich in den Umfragen aus. Und die Umfragen signalisieren wiederum, wer am ehesten Obama schlagen könnte.
    Zettel



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Das Lansdowne-Porträt von George Washington, gemalt von Gilbert Stuart (1796). National Portrait Gallery der Smithsonian Institution. Das Porträt zeigt Washington, wie er auf eine weitere (dritte) Amtszeit verzichtet. Links zu allen Beiträgen dieser Serie finden Sie hier. Siehe auch die Serie Der 44. Präsident der USA von 2008. Mit Dank an Thomas S.