7. Januar 2012

Europas Krise (8): "Es gibt keine Europäer" (Gareth Harding in "Foreign Affairs"). Warum die Vereinigten Staaten von Europa nicht gelingen können.


"The euro crisis isn't really about money. It's about the fiction that Europeans ever existed at all". So lautet der Untertitel eines Aufsatzes in der aktuellen Ausgabe der außenpolitischen Zeitschrift Foreign Affairs. Zu deutsch: In der Eurokrise geht es in Wahrheit nicht um Geld. Es geht um die Fiktion, daß es jemals Europäer gegeben hätte.

Die Überschrift spricht vom "Mythos Europa", und der Autor ist Gareth Harding; gebürtiger Brite, Politologie-Professor in Missouri und langjähriger Journalist in Brüssel. Er kennzeichnet sich selbst so:
I was born in Wales and have lived in continental Europe -- Oslo, Prague, and Brussels -- for most of the last 25 years. I've traveled to every EU country except Malta. I speak a handful of European languages and studied European history and politics at university. I have worked in the European Commission and European Parliament.

My best friends are Dutch, German, Slovak, and Swedish. My partner is French, and my children are bilingual. Unlike some recent U.S. presidents, I know the difference between Slovenia and Slovakia. If anyone should be European, or at least know what constitutes one, I should.

Ich bin gebürtiger Waliser und lebe seit 25 Jahren meist in Kontinental-Europa - Oslo, Prag und Brüssel. Ich war in jedem Land Europas außer Malta. Ich spreche eine Handvoll europäischer Sprachen und habe ein Universitätsstudium der europäischen Geschichte und Politik. Ich habe in der Europäischen Kommission und dem Europäischen Parlament gearbeitet.

Meine engsten Freunde kommen aus Holland, Deutschland, der Slowakei und Schweden. Meine Partnerin ist Französin, und meine Kinder sind zweisprachig. Im Unterschied zu manchem der letzten US-Präsidenten kenne ich den Unterschied zwischen Slowenien und der Slowakei. Wenn irgendwer ein Europäer ist oder wenigstens weiß, was einen Europäer ausmacht, dann sollte ich es sein.
Sie ahnen es, lieber Leser: Wenn jemand so beginnt, dann will er darauf hinaus, daß er nun gerade kein Europäer ist.

Er sei und bleibe Brite, schreibt Harding - einer, der eine innere Beziehung zu Orangenmarmelade, zu Cricket, warmem Bier, Snooker, Darts, peinlichem Schweigen, feuchten Mooren, langsamen Eisenbahnen, teigigen Gesichtern und zu Marmite hat (einem sehr britischen Brotaufstrich). Aber, wenngleich langjähriger Bürger Brüssels, nicht zum Strand von Ostende, Schnecken- und Aalspeisen, König Albert II, Spitzenvorhängen, einander auf die Wange küssenden Männern, Gartenzwergen, einem Steuersatz von 55 Prozent, Taubenzucht und Ingwergebäck.

Das klingt recht journalistisch. Flott geschrieben, ironisch wie einst die Texte von Art Buchwald. Worauf will aber der Politologie-Professor Harding hinaus?

Er will darauf hinaus, daß die europäische Identität eine Fiktion ist und daß also die politische Einigung Europas nicht gelingen kann. Er weist damit auf die zentrale Bedeutung eines Sachverhalts hin, der in der gegenwärtigen Diskussion über Europa (wie übrigens auch in der Debatte über die Einwanderung nach Deutschland) kaum eine Rolle spielt, ja nachgerade verdrängt wird: Politische Gebilde basieren - es sei denn, sie sind auf Gewalt gebaut wie die einstige UdSSR - auf der Identität ihrer Bürger. Ohne eine gemeinsame europäische Identität kann es folglich kein geeintes Europa geben.



Der Mensch sei ein zōon politikon, hören und lesen wir; nicht selten mit der falschen Übersetzung: ein politisches Tier. Aristoteles meinte aber (er hatte das von Platon), daß der Mensch ein Gemeinschaftswesen ist; daß es zu seinem Wesen gehört, nicht allein zu existieren, sondern als Teil einer Gruppe.

In primitiven Gesellschaften ist das in der Regel der Clan oder Stamm; eine Gruppe von selten mehr als einigen hundert Menschen, die nicht nur ihre Verwandtschaft, die gemeinsame Sprache und Religion miteinander verbindet, sondern vor allem eben jene gemeinsame Identität, mit der sie sich von den Anderen abgrenzen - und seien es die Anderen eines Stamms, der im benachbarten Tal wohnt. Sie sind in dieser Identität derart verwurzelt, daß oft der Name des Stammes zugleich das Wort für "Mensch" ist.

Mit der Entwicklung von Staaten und städtischen Gesellschaften ging zweierlei einher:

Erstens erweiterte sich die Bezugsgruppe, welche die Identität stiftet. Man war nicht mehr Lakedämonier, sondern Grieche; nicht mehr Latiner, sondern Römer. Dieser Prozeß der Erweiterung hat sich in Europa bis ins 19. Jahrhundert hinein fortgesetzt, als es noch einmal eine Welle der Entstehung von Nationalstaaten gab. Aus Venezianern und Sizilianern wurden Italiener, aus Badenern und Preußen Deutsche; so, wie schon Jahrhunderte zuvor aus Provençalen und Bretonen Franzosen geworden waren.

Parallel zu diesen Erweiterungen gab es Differenzierungen; sozusagen ineinander verschachtelte Identitäten. Auch wenn nach 1871 sich immer mehr Hessen, Bayern und Welfen vor allem anderen als Deutsche zu verstehen begannen, ging ihre alte Identität doch nicht verloren. Identitäten sind heute wie Zwiebelschalen, wie die russische Matrjoschka, die Puppe-in-der-Puppe. Man ist Kölner, Rheinländer, Deutscher zugleich. In den USA ist jemand vielleicht Texaner, Evangelikaler, Amerikaner. Denn auch die Religion kann natürlich Identität stiften; wie auch die - in den USA eminent wichtige - Rasse oder vielleicht gar die Begeisterung für einen Fußballverein oder das Veganertum.

Seit Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts gibt es einen psychologischen Test, der diese ineinander verschachtelten, einander überlagernden Identitäten zu untersuchen erlaubt, der Twenty Statments Test (TST). Daten, die mit ihm und mit anderen Verfahren erhoben wurden, zeigen, wie komplex das Netzwerk der Identitäten von Menschen in einer modernen Gesellschaft sein kann.

Also warum nicht auch eine europäische nationale Identität? Die Identität als Deutscher, Franzose, Este so überlagernd, wie Ende des 19. Jahrhundert die Identität als Deutscher diejenige als Bayer, Preuße oder Ostfriese zu überlagern begann? Die Identität von Bürgern der Vereinigten Staaten von Europa; so, wie es eine Identität der Amerikaner in ihren Vereinigten Staaten gibt?



Die Reichsgründung, die ungefähr gleichzeitige Einigung Italiens im 19. Jahrhundert werden in der Tat oft als Vorbilder für die europäische Einigung genannt; ebenso die Bildung der Vereinigten Staaten von Nordamerika. Bei beiden Analogien werden aber entscheidende Unterschiede in Bezug auf die Identität übersehen.

Bei der Gründung des Deutschen Reichs im Jahr 1871 schlossen sich nicht Nationen zusammen. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation war zwar 1806 untergegangen; aber an seine Stelle waren keine neuen Nationen getreten, sondern Länder - Königreiche wie Preußen und Bayern, das Kaisertum Österreich, Herzogtümer, Freie Reichsstädte usw. - , die seit 1815 im Deutschen Bund zusammengeschlossen waren. Eine Nation mit einer einzigen, gemeinsamen Kultur war Deutschland auch in dieser Zeit der Kleinstaaterei geblieben. Die gemeinsame deutsche Identität in diesem nichtstaatlichen Sinn wurde durch die Reichsgründung gestärkt; aber sie entstand damals nicht erst, sondern war schon vorhanden gewesen.

Das war also etwas durchaus anderes als die heute kursierende Vorstellung, man könne eine europäische Identität aus dem Nichts schaffen; sie sozusagen den nationalen Identitäten überstülpen.

Ebenso lagen die Dinge ganz anders, als die USA entstanden. Die britischen Kolonien, die am 4. Juli 1776 ihre Unabhängigkeit erklärten, hatten alle eine ähnliche, britisch-holländisch geprägte Kultur und Geschichte. Da schlossen sich nicht Nationen zusammen; sondern es entstand auf der Grundlage dieser Gemeinsamkeiten eine neue Nation.

Auch später gab es - mit einer Ausnahme - keine Zusammenschlüsse, sondern durch die Besiedlung des Westens entstanden neue Territorien, die dann Staaten wurden; 1803 erwarben die USA des weiteren vom Frankreich Bonapartes ein riesiges Gebiet, auf dem zahlreiche Staaten entstanden, von Louisiana bis Montana, von Missouri bis Wyoming. - Die Ausnahme war Texas, das zwischen 1836 und 1845 tatsächlich als souveräner Staat existiert hatte, bevor es den USA beitrat. Aber eine Nation war Texas in diesem knappen Jahrzehnt natürlich auch nicht geworden.

Auch die Bildung der USA taugt also nicht zum Vorbild für die Entstehung einer europäischen Identität; so wenig wie die Reichsgründung 1871.



Noch einmal zurück zu Gareth Harding. Er bestreitet nicht, daß Europa zusammenwächst. Viele Europäer interessieren sich für die Champions League, schreibt er - mehr als für Wahlen zum Europaparlament. Dank Billigfliegern wie Ryanair kann man eben einmal für ein paar Tage in ein anderes Land fliegen. Es gibt eine zunehmende Mobilität der Arbeitskräfte. Es bestehen auch gewisse Gemeinsamkeiten im Lebensstil - die langen Urlaube und Mittagspausen fallen dem in den USA lehrenden Harding da ein, das Umweltbewußtsein, die Wertschätzung des Öffentlichen Nah- und Fernverkehrs.

Aber das stiftet ja noch keine Identität. Was fehlt, meint Harding, ist die gemeinsame narrative (zum Begriff narrative siehe in ZR zum Beispiel hier und hier). Es fehlt eine gemeinsame emotionale Bindung an Geschichte, an nationale Symbole, an gemeinsame Werte. Und dies ist eben ganz anders als in den USA:
There may be huge differences among the 50 states of America, but at the end of the day Americans feel American and are proud of it. (...)

The European Union has constructed common institutions, laws, and even a currency. It has created all the symbols of a nation-state, including a burgundy passport that places "European Union" above one's own nationality, and a flag, even if it is only voluntarily waved at the Ryder Cup golf championships. It even has an anthem: Beethoven's "Ode to Joy," though it doesn't have lyrics and most Europeans don't know it is their anthem. What it lacks is a people who share a common culture, language, or narrative -- or at the very least are able to identify with the political construct that has been created in their name.

Es mag riesige Unterschiede zwischen den 50 Staaten der USA geben, aber im Endeffekt fühlen die Amerikaner amerikanisch und sind stolz darauf. (...)

Die Europäische Union hat gemeinsame Institutionen, Gesetze und sogar eine Währung geschaffen. Sie hat alle Symbole eines Nationalstaats eingeführt, bis hin zu einem burgunderfarbenen Paß, der "Euopäische Union" oberhalb der eigenen Nationalität stehen hat; sie hat eine Fahne, auch wenn diese freiwillig nur beim Ryder Cup geschwenkt wird, der Golfmeisterschaft. Sie hat sogar eine Nationalhymne: Beethovens "Ode an die Freude"; freilich gibt es dazu keinen Text, und die meisten Europäer wissen nicht, daß es ihre Nationalhymne ist. Was Europa fehlt, das ist ein Volk mit einer gemeinsamen Kultur, einer gemeinsamen Sprache und einer gemeinsamen narrative - allermindestens aber müßten die Europäer die Fähigkeit haben, sich mit der Konstruktion zu identifizieren, die in ihrem Namen geschaffen wurde.
Ja, in der Tat. Wenn es einmal so weit kommen sollte, daß ein Italiener stolz ist, wenn ein Este eine Goldmedaille gewinnt; wenn dem Esten ebenso wie einem Portugiesen warm ums Herz wird, wenn, die Europaflagge am Mast hochsteigt und die Ode an die Freude gespielt wird - dann gäbe es vielleicht die Voraussetzungen für die Vereinigten Staaten von Europa.
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Abbildung: "Europa auf dem Stier" von Hendrik van Balen (1573 - 1632). Gemeinfrei, da das Copyright erloschen ist.