13. Juli 2008

Die Deutschen und das Atom (7): Deutsche Irrationalität, französische Rationalität

Was viele Franzosen an uns Deutschen, ihren Voisins d'Outre- Rhin - den Nachbarn am anderen Ufer des Rheins - zugleich fasziniert und beunruhigt, das ist das, was sie als unsere Irrationalität wahrnehmen.

Deutsche, so sehen sie es, erwägen oft nicht nüchtern die Vor- und Nachteile einer Entscheidung, sondern sie lassen sich von vagen Gefühlen oder, noch schlimmer, von "Prinzipien" leiten. "Deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen tun", also ohne Vernunft - das ist für viele Franzosen der Schlüssel zum Verständnis von uns Deutschen.

Wer sich in Frankreich ein wenig in der deutschen Kulturgeschichte auskennt, der sieht da leicht eine lange und verzweigte Entwicklungslinie - von den Exaltiertheiten des "Sturm und Drang" über die Romantik und Nietzsche bis hin zum Expressionismus und zur Blut- und- Boden- Ideologie. Und bis hin zu der Bedeutung, die heute in Deutschland nicht nur die Partei "Die Grünen" hat, sondern eine grüne "Weltanschauung" (im Französischen ein Fremdwort), die weit über diese Partei hinaus ihre Anhänger hat.

Auch in Frankreich gibt es eine Partei der Grünen. Ihre Kandidatin, Dominique Voynet, hat bei den Wahlen 2007 zur Präsidentschaft gerade einmal 1,57 Prozent der Stimmen bekommen; und das als gemeinsame Kandidatin der Partei der Grünen und eines Zusammenschlusses von Regionalparteien, von Korsika bis in die Bretagne.

Daß in Deutschland "Die Grünen" eine Partei mit um die zehn Prozent Stimmenanteil sind; daß sie gar einmal den Außenminister stellen konnten und daß sie mit ihren Themen weitgehend die politische Diskussion in Deutschland bestimmen - das ist aus der Sicht vieler Franzosen Ausdruck dieser seltsamen deutschen Irrationalität und Prinzipienreiterei.



Bei kaum einem Thema wird dieser Unterschied zwischen Frankreich und Deutschland so deutlich wie in der Atompolitik.

In Frankreich hat es im AKW Trigastin vor knapp einer Woche einen Unfall gegeben, bei dem radioaktiv verseuchtes Wasser in die Umwelt gelangt ist.

Nach Angabe der Betreibergesellschaft Socatri handelte es sich um Flüssigkeit, die 224 kg nicht angereichertes Uran enthielt. Davon seien allerdings nur 74 kg in die Flüsse gelangt, während 150 kg auf dem Gelände der Gesellschaft verblieben.

74 Kilo Uran in den Flüssen! Es gehört wenig Phantasie dazu, sich die Reaktion vorzustellen, wäre so etwas Entsetzliches in Deutschland passiert. Hier in Deutschland, wo es zB die "heute"-Sendung des ZDF bereits eine Meldung unter den Hauptnachrichten wert ist, wenn in Schweden auf dem Dach eines Gebäudes außerhalb des Containment eines Reaktors ein paar Minuten lang Dachpappe gebrannt hatte.

In Deutschland hätte ein Unfall, als dessen Folge kiloweise Uran durch die Flüsse in der Umgebung einer Kernanalage treibt, eine wochenlange Grundsatzdebatte ausgelöst.

Und in Frankreich? Nach ein paar Tagen war das Thema kaum noch irgendwo in den Medien zu finden. In Paris fand gestern eine Demonstration einer Gesellschaft namens Sortir du Nucléaire (Ausstieg aus der Kernenergie) statt, an der "einige Tausend" (nach Angaben der Veranstalter ganze 7000) Personen teilnahmen. Keine maßgeblichen Vertreter von Gewerkschaften oder Parteien sprachen; selbst die Kommunisten sind in Frankreich für die friedliche Nutzung der Kernenergie.



Liegt es nur an dieser Irrationalität der Deutschen, die unsere Nachbarn jenseits des Rheins so staunen läßt, daß wir auch zur Kernkraft ein so irrationales Verhältnis haben? Nein, nicht nur.

Jedenfalls spielt im Fall der Atomkraft nicht nur dieses Rumoren in den Hinterstübchen der deutschen Volksseele eine Rolle, diese Neigung, an jedem Horizont gleich eine Götterdämmerung zu entdecken. Sondern es gibt eine konkrete historische Entwicklung. Eine Entwicklung, die man natürlich ihrerseits - "letzten Endes", auch so eine sehr deutsche Formulierung - auf diese irrationale Seite des deutschen Volkscharakters zurückführen kann.

Ich habe in den ersten vier Folgen dieser Serie beschrieben, wie aus dem Erlebnis des Zweiten Weltkriegs heraus die Bewegung "Kampf dem Atomtod" entstand, die sich zunächst ausschließlich gegen Atomwaffen richtete, und wie diese zunehmend unter linke, überwiegend kommunistische Kontrolle geriet.

Diese Bewegung war eine der wichtigsten Keimzellen der APO, der Außerparlamentarischen Opposition Ende der sechziger Jahre, aus der wiederum die Studentenbewegung und die gesamte linke Bewegung der siebziger Jahre hervorging. Von dort führt ein Weg zu der linken Mobilisierung, die in den achtziger Jahren zuerst mit dem Thema "Frieden" und dann mit dem Thema Nuklearenergie gelang.

Die "Friedensbewegung" und die "Anti- AKW- Bewegung" beherrschten in den achtziger Jahren die Schlagzeilen; ohne sie hätte aus ein paar Vegetariern und Umweltschützern niemals die heutige Partei der Grünen hervorgehen können.

Für die folglich das Thema "Kernenergie" nicht einfach eine politische Streitfrage ist, sondern Glaubenssache. Schon deshalb, weil ihr anderes Gründungsthema, der Pazifismus, ihr abhanden gekommen ist, seit Joschka Fischer seine Partei in diesem Punkt in die Realität gezwungen hat.

Für die Grünen also hieße es ihre Identität opfern, würden sie ihre negative Haltung zur Kernenergie aufgeben. Das wäre nicht so schlimm, wenn nicht auch die SPD in den achtziger Jahren von diesen "Bewegungen" erfaßt und regelrecht durchgeschüttelt worden wäre. So sehr, daß sie noch heute daran trägt.

Der bei den Sozialdemokraten jäh entfachte Pazifismus isolierte damals, Anfang der achtziger Jahre, deren eigenen Bundeskanzler in seiner Partei. Und das Thema Atomkraft ließ diese SPD innerhalb weniger Jahre, zwischen 1982 und 1986, von einer fortschrittsfreundlichen Partei zu einer Weggenossin der Grünen werden.

Die Grünen waren damals die politische Verkörperung der deutschen Irrationalität, des deutschen Weltschmerzes, der deutschen Vorliebe für das Thema Götterdämmerung gewesen. Aber erst dadurch, daß ihre Weltanschauung auch weite Teile der SPD, vor allem deren jüngere Mitglieder ergreifen konnte, wurde sie politisch wirkmächtig.

In der heutigen "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" hat Günter Bannas diese damalige Wandlung der SPD sehr schön beschrieben.



Links zu den bisherigen Folgen dieser Serie findet man hier. Für Kommentare zu diesem Artikel gibt es einen Thread in "Zettels kleinem Zimmer". Dort findet man auch eventuelle Aktualisierungen und Ergänzungen.