20. Juli 2008

Zitat des Tages: "Gegen die Wand". So sah es in Deutschland vor drei Jahren aus. Vielleicht ein Ausblick auf die Zeit nach den Wahlen 2009

1998 trat Kanzler Gerhard Schröder an - mit dem Versprechen, die Arbeitslosigkeit zu senken. Sechseinhalb Jahre später sind mehr Deutsche arbeitslos als jemals zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Was immer der Kanzler in der Zwischenzeit unternahm, um die Probleme zu lösen - es hat nichts gebracht. Die Kräfte der Globalisierung waren stärker, und sie wirken weiter: Arbeitsplätze werden verlagert, Billiglöhner wandern zu.

Beim Aufräumen ist mir der "Spiegel", Heft 10/2005 vom 7.3. 2005 in die Hände gefallen, in dessen Inhaltsverzeichnis dieser Text zur Titelgeschichte steht. Deren Überschrift lautet "Kanzler ohne Fortune", und in der Unterzeile heißt es: "Der Sturm der Globalisierung hat den deutschen Arbeitsmarkt verwüstet - die Industriejobs gehen, die Billig- Dienstleister kommen."

Kommentar: Die "Kräfte der Globalisierung" sind heute nicht schwächer, sie sind vermutlich stärker als damals. Und in Deutschland ist die Arbeitslosigkeit drei Jahre nach dem Erscheinen dieser Titelgeschichte so niedrig wie seit 15 Jahren nicht mehr.

Ich fand es lehrreich, diesen Artikel jetzt noch einmal zu lesen. Kompetent geschrieben, von acht Autoren des Hauptstadtbüros, darunter dessen damaligem Leiter Gabor Steingart. So beschreiben sie die damalige Lage:
Alle zentralen Anzeigen der Volkswirtschaft - die Staatsverschuldung, die Arbeitslosigkeit, die Sozialkassen - drehten in den roten Bereich. Es ist, als hätte die Führung des Landes die Kontrolle über die Volkswirtschaft verloren. (...)

Das Wirtschaftswachstum hat seit drei Jahren die Nullmarke nur unwesentlich verlassen. Das Pro- Kopf- Einkommen ist abgestürzt hinter das Niveau von Frankreich und Großbritannien. Der Anteil der Langzeitarbeitslosen liegt höher als in vielen Ländern Europas. Vor allem die Zahl der regulären Jobs sinkt in raschem Tempo. (...)

Deutschland hat sich von der internationalen Konjunkturentwicklung praktisch entkoppelt. (...) Ohne die Staatsschulden würde das Sozialprodukt des Landes schrumpfen. (...) "Die öffentlichen Finanzen", hielt erst jüngst Sachverständigenratschef Bert Rürup dem Kanzler vor, "fahren gegen die Wand." (...)
Deutschland war nicht mehr die Lokomotive Europas, es war zum Schlußlicht geworden. Das war das Ergebnis von sechseinhalb Jahren rotgrüner Politik.

Knapp drei Monate nachdem dieser Artikel erschienen war, Ende Mai 2005, warf Schröder das Handtuch und erklärte, er strebe vorzeitige Neuwahlen an.



Im Rückblick ist offensichtlich: So schonungslos damals die Autoren des "Spiegel" die Situation beschrieben, so unzutreffend war es, die damalige Misere darauf zurückzuführen, daß die "Kräfte der Globalisierung stärker" gewesen waren.

Sondern die damalige Regierung hatte schlicht die falsche Politik gemacht. Bis Schröder im letzten Augenblick die Fahrt in den Untergang seiner Regierung durch die aus der Tasche gezauberte "Agenda 2010" zu bremsen versucht hatte.

Am Ende des Artikels wird eine Sitzung des SPD-Parteivorstands geschildert, in der sich "ungewöhnliche Szenen" abespielt hätten:
"Wir müssen Politik machen und nicht Statistiken erklären", rief Andrea Nahles den Würdenträgern der Sozialdemokratie zu. Parteivize Heidemarie Wieczorek- Zeul, sonst eher stille Beobachterin, sprang ihr zur Seite: "Wir brauchen eine politische Antwort auf die Massenarbeitslosigkeit." (...)

Als dann noch in die laufende Sitzung die Meldung hineingereicht wurde, Clement halte an der Senkung der Unternehmensteuer fest, geriet die Tonlage kurzzeitig aus dem Takt. "Wolfgang, wie sollen wir mit dir noch solidarisch sein?", giftete Wieczorek-Zeul. Clement blickte betreten auf die Tischplatte. (...)

Unverdrossen forderten vor allem die Parteilinken ein Milliardenprogramm zur Absenkung der Jugendarbeitslosigkeit. "Doch - das diskutieren wir jetzt hier", ließ sich eine trotzige Nahles vernehmen.
Anders als die Schilderung der damaligen Wirtschaftslage klingt dies heute allerdings nicht wie ein Bericht aus einer anderen Welt.

Oder vielleicht doch. Damals hatte die SPD ihre verheerende Politik betrieben, obwohl Andrea Nahles und ihre Gefolgsleute in der Partei noch in der Minderheit waren. Heute ziehen sie dort die Strippen.

Schöne Aussichten also für den Fall, daß es nach den Wahlen 2009 zu einer Neuauflage einer Linkskoalition kommt; in welcher Konstellation auch immer.



Für Kommentare zu diesem Artikel gibt es einen Thread in "Zettels kleinem Zimmer". Dort findet man auch eventuelle Aktualisierungen und Ergänzungen.