17. Januar 2012

Gedanken zu Frankreich (40): Marine Le Pen - die große Unbekannte. Schon stärker als Sarkozy? Oder darf sie am Ende gar nicht antreten?

Die Kandidatin des rechts­populistischen Front National (FN), Marine Le Pen, hat weiter ausgezeichnete Umfragewerte. Je nach Institut liegen sie zwischen 16 und 20 Prozent; bei den (unter der Woche) täglichen Umfragen des Instituts Ifop am vergangenen Donnerstag und Freitag sogar bei je 21,5 Prozent.

Le Pen ist damit nicht mehr sehr weit von Nicolas Sarkozy entfernt; am Donnerstag beispielsweise lag der Staatspräsident bei Ifop mit 23,5 Prozent nur noch zwei Prozentpunkte vor ihr. Andere Institute geben ihm einen etwas größeren Vorsprung; aber keines sieht ihn gegenwärtig bei mehr als 26 Prozent.

Diese Daten sind in zweierlei Hinsicht interessant. Erstens nämlich gibt es Indikatoren und Überlegungen, die darauf hinauslaufen, daß die Chancen von Marine Le Pen noch deutlich besser sein könnten, als es in ihnen zum Ausdruck kommt; sie wäre damit eine reale Gefahr für Sarkozy. Und andererseits ist es paradoxerweise möglich, daß sie es trotz dieser Umfragewerte noch nicht einmal schafft, überhaupt zur Wahl anzutreten. Wie kann es zu einer solchen Situation kommen?



Beginnen wir mit dem zweiten Punkt, der etwas mit dem französischen Wahlsystem und mit der Verfassung der Fünften Republik zu tun hat.

Es gibt eine interessante Parallele zwischen der deutschen und der französischen Verfassungs­geschichte: Die heutige Verfassung beider Länder ist als Reaktion auf eine vorausgehende Republik entstanden, die gescheitert war.

In Deutschland erwies sich die Weimarer Republik als instabil und fiel den Nazis zum Opfer. Die Verfassung der Vierten Französischen Republik war 1946 in einer Situation entworfen und verabschiedet worden, in der keine klaren Mehrheitsverhältnisse herrschten (Kommunisten, Sozialisten und Gaullisten waren etwa gleich stark; daneben gab es zahlreiche kleine Parteien). Die Verfassung spiegelte das wider, indem sie der Legislative eine Übermacht gab. Wie in der Weimarer Republik gab es in Frankreich zwischen 1946 und 1958 ständig wechselnde, schwache Regierungen. Am Ende kollabierte die Vierte Republik wie die von Weimar, und das Volk rief de Gaulle.

Die von de Gaulle inspirierte Verfassung war, wie die Verfassung des deutschen Grundgesetzes von 1949, als eine Antwort auf die vorausgegangene Instabilität daraufhin angelegt, stabile Verhältnisse herbeizuführen und aufrechtzuerhalten. Dazu gehörte in Deutschland, daß der Kanzler nur durch ein konstruktives Mißtrauensvotum gestürzt werden kann; in Frankreich, daß der Premierminister vom Staatspräsidenten ernannt und nicht von der National­versammlung gewählt wird.

Beide Verfassungen enthalten des weiteren eingebaute Hürden gegen politische Zersplitterung. In Deutschland ist dies vor allem die Fünf-Prozent-Klausel. In Frankreich gehört dazu eine Bestimmung, die jetzt Marine Le Pen zum Verhängnis werden könnte. Sie wurde im Jahr 1962 in das Wahlrecht eingebaut.

Beim Übergang von der Vierten zur Fünften Republik im Jahr 1958 war Charles de Gaulle zunächst der letzte Ministerpräsident der Vierten Republik gewesen und wurde dann zum ersten Staatspräsidenten der Fünften Republik gewählt; und zwar indirekt, durch eine Versammlung von Wahlleuten. Er strebte aber eine Legitimation unmittelbar durch das Volk an; und so wurde die Verfassung bis zu seiner Wiederwahl 1965 so geändert, daß nun das Volk direkt den Staatspräsidenten wählte, so wie es auch heute noch der Fall ist.

Um aber eine Zersplitterung zu vermeiden - vielleicht auch, um Extremisten fernzuhalten -, wurde in dieses Gesetz eine Klausel aufgenommen, wonach nur derjenige für das Amt des Staatspräsidenten kandidieren darf, der eine bestimmte Anzahl von Unterschriften von gewählten Volksvertretern vorlegen kann; seinen sogenannten "Paten". Sie drücken mit ihrer Unterschrift nicht unbedingt aus, daß sie den Betreffenden als Staatspräsidenten haben wollen; nur, daß sie seine Kandidatur ermöglichen wollen (présentation).

Das Gesetz listet penibel auf, wer zu einer sochen "Patenschaft" berechtigt ist - Abgeordnete der National­versammlung, Senatoren, Bürgermeister; aber beispielsweise auch der Präsident von Französisch-Polynesien. Zunächst wurden 100 solche Patenschaften verlangt; 1976 erhöhte man die Zahl auf 500.

Dies ist keine erhebliche Hürde für die Kandidaten bürgerlicher und auch linker Parteien, auch nicht der extremen Linken; denn es finden sich stets genug Volksvertreter, die deren politische Meinung zwar nicht notwendig teilen, die aber ihr Recht unterstützen, sich zur Wahl zu stellen. Schwer aber hatte es schon immer auf der extremen Rechten der FN. Bei den letzten Präsidentschaftswahlen im Jahr 2007 schaffte Marine Le Pens Vater Jean-Marie Le Pen als deren Kandidat gerade einmal 507 "Patenschaften"; einige gingen erst in letzter Minute ein.

In der vergangenen Woche berichtete nun die französische Presse, daß Marine Le Pen bisher erst weniger als 300 Zusagen für Unterschriften hat. Das hat zu einer Debatte darüber geführt, ob sie am Ende möglicherweise überhaupt nicht antreten darf.

Schon melden sich Politiker aus anderen Parteien zu Wort, die es für eine schwere Belastung der französischen Demokratie halten, wenn sich eine Kandidatin, die eine so erhebliche Zahl von Wählern hinter sich hat, am Ende nicht zur Abstimmung stellen könnte. Ein bekannter liberaler Politiker, Hervé Morin, hat bereits dazu aufgerufen, "Patenschaften" für Marine Le Pen zu übernehmen.

Vergangenen Mittwoch hat sich sogar der Präsident der Nationalversammlung zu Wort gemeldet und es als ein "problème majeur", ein Problem ersten Ranges bezeichnet, daß die Vertreterin eines beträchtlichen Teils der Bevölkerung von einer Kandidatur ausgeschlossen bleiben könnte.



Andererseits würde es vermutlich im Lager Präsdident Sarkozys ein Aufatmen geben, wenn Marine Le Pen aus diesem formalen Grund nicht antreten könnte. Denn daß der Abstand, den ihm die Umfragen noch zu der Kandidatin des FN geben, die realen Kräfteverhältnisse widerspiegelt, ist nicht sicher. Darauf hat kürzlich François Bazin im Nouvel Observateur aufmerksam gemacht.

Schon einmal haben die Demoskopen die Stärke eines Kandidaten des FN unterschätzt; im Jahr 2002, als Jean-Marie Le Pen mit einem knappen Vorsprung vor dem sozialistischen Kandidaten Lionel Jospin in den zweiten Wahlgang kam. Allerdings schnitt Jospin damals auch unerwartet schlecht ab; vermutlich, weil viele linke Wähler ihm im ersten Wahlgang einen Denkzettel hatten verpassen wollen, bevor sie ihn im zweiten dann doch zähneknirschend wählen würden. Aber da war er schon, wie man in Frankreich sagt, "eliminiert".

Die Demoskopen tun sich schwer mit dem FN. Das liegt daran, daß diese Partei in Frankreich ausgegrenzt ist. Während zum Beispiel die Sozialisten nichts dabei finden, mit den Kommunisten zusammenzuarbeiten, halten alle Parteien strikten Abstand vom FN. Diese Ausgrenzung führt davor, daß offenbar viele Franzosen es scheuen, sich offen zu dieser Partei zu bekennen; auch in Umfragen.

Die Demoskopen versuchen das zu berücksichtigen, wenn sie aus ihren Rohdaten Projektionen errechnen. Aber dazu braucht man einigermaßen stabile Erfahrungswerte. Und gerade diese gibt es hier nicht.

Denn Marine Le Pen hat ein anderes Image als ihr Vater; und mit ihr hat auch der FN den Ruch des Rabaukenhaften weitgehend verloren. Sie könnte für Schichten wählbar sein, die Jean-Marie Le Pen als zu hemdsärmlig ablehnten. Hinzu kommt, daß allein ihr Aufstieg in den Umfragen ihr weiteren Schwung verleihen könnte; daß sich das entwickeln könnte, was man in den USA "momentum" nennt (siehe Iowa hat gewählt; ZR vom 4. 1. 2012). Diejenigen, die den FN am genauesten beobachten, trauen deshalb - so Bazin - Marine Le Pen am 22. April um die 25 Prozent zu.

Und mehr als 25 Prozent hat Sarkozy noch keineswegs sicher. Es ist also derzeit alles möglich - von einem Scheitern bereits der Zulassung Marine Le Pens zur Kandidatur bis hin zu der Möglichkeit, daß sie im zweiten Wahlgang die Gegenkandidatin von François Hollande sein wird.

Am wahrscheinlichsten freilich ist weiterhin, daß sie ein starkes Ergebnis erzielt, daß aber die Entscheidung im zweiten Wahlgang dann doch zwischen Hollande und Sarkozy ausgetragen wird. Mit einem deutlichen Sieg Hollandes; dafür spricht gegenwärtig alles (siehe Sarkozy am Ende? Frankreich steht vor einem beispiellosen Linksrutsch; ZR vom 2. 1. 2012).
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen dieser Serie findet man hier. Titelvignette: Eugène Delacroix, La Liberté guidant le peuple (1830); Ausschnitt. Mit Dank an Das Pio.