30. August 2010

Sarrazin auf dem Prüfstand der Wissenschaft (1): Warum ich diese Serie schreibe. Plädoyer für eine vernünftige Diskussion

Heute wird Thilo Sarrazins Buch "Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen" offiziell vorgestellt; um 11 Uhr im Haus der Bundespressekonferenz. Diese Veranstaltung wird vom Sender "Phoenix" übertragen.

Das Ereignis wird wahrscheinlich ab Mittag in den Schlagzeilen sein, denn ein obskures, aber vermutlich im Wortsinn tatkräftiges "Bündnis 'Rechtspopulismus stoppen'" hat angekündigt, man werde "das nicht hinnehmen" und für 10 Uhr zum "Protest gegen diese Pressekonferenz vor dem Haus der Bundespressekonferenz (Schiffbauerdamm 40)" aufgerufen.

Krawalle sind also nicht unwahrscheinlich. Krawalle, die der vorläufige beklemmende Höhepunkt einer jetzt eine Woche andauernden Reaktion auf das Buch von Sarrazin sein würden. Von Reaktionen, die ganz überwiegend jede Sachlichkeit vermissen ließen; siehe Pawlow'sche Reflexe; ZR vom 25. 8. 2010 und Sarrazin - jetzt wird's richtig häßlich; ZR vom 29. 8. 2010.

Wie kommt das? Woher kommt diese Aufregung, diese maßlos überzogene Reaktion (bisheriger Höhepunkt: Guido Westerwelles Behauptung, Sarrazin würde "Rassismus oder gar Antisemitismus Vorschub leisten")?

Es ist eine seltsame, eine im höchsten Grad merkwürdige Reaktion, wenn man sich diese Fakten vergegenwärtigt:
  • Dr. rer.pol. Thilo Sarrazin war Spitzenbeamter in SPD-geführten und CDU-geführten Bundesregierungen. Er war während der sozialliberalen Koalition Büroleiter, also der engste Mitarbeiter, der SPD-Finanzminister Matthöfer und Lahnstein.

    Sarrazin war zur Zeit der Wiedervereinigung Leiter desjenigen Referats im Finanzministerium, das die deutsche Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vorbereitete. Er war Spitzenmanager bei der Deutschen Bahn. Er war Berliner Finanzsenator in Klaus Wowereits Koalition mit der PDS. Er ist jetzt im Vorstand der Bundesbank.

    Sarrazin ist ein Sozialdemokrat seit 1973, an dessen Überzeugungen sich, wie er sagt, seither nur das geändert hat, "was sich durch Alter und Zeitablauf ändert. Ich bin ein Anhänger sozialer Gerechtigkeit, ich möchte optimale Chancengleichheit für die Menschen in Deutschland".

  • Sarrazins Buch erscheint in der renommierten Deutschen Verlagsanstalt (dva). Vorgestellt wird es heute von der Sozialwissenschaftlerin Dr. Necla Kelek, Trägerin des Geschwister-Scholl-Preises und laut dem Chef des Berliner Büros des "Spiegel", Dirk Kurbjuweit, eine Autorin, die "all die Begriffe verteidigt, die das Fundament der Gesellschaft in Deutschland bilden: Freiheit, Demokratie, Aufklärung, säkulare Ordnung, Bürgergesellschaft".
  • Nicht wahr, das alles deutet nicht darauf hin, daß Sarrazin ein Mann ist, der dem Rassismus und dem Antisemitismus Vorschub leistet, der "diffamierend und verletzend" schreibt, der "Haßtiraden" verbreitet und "sprachlich gewalttätige Aussagen" in einer "wirre[n] Mischung" verbreitet. (Die Autoren dieser Stellungnahmen finden Sie in den beiden oben verlinkten Artikeln in ZR).

    Und auch Sarrazins Buch und seine Interviews geben keinen Anlaß zu solchen Kennzeichnungen. Lesen Sie das erste, einleitende Kapitel des Buchs, das Amazon zur Verfügung stellt. Beim Verlag dva können Sie sogar das gesamte Buch nach jedem beliebigen Stichwort durchsuchen.



    Woher also diese Aufgeregtheit, diese so irrationalen Reaktionen von Politikern und auch Journalisten? Man kann da nur spekulieren. Ich sehe im wesentlichen zwei miteinander zusammenhängende Gesichtspunkte.

    Mein Eindruck ist zum einen, daß Sarrazin eine Grundlage der mehrheitlichen Überzeugung seit Bestehen der Bundesrepublik in Frage stellt; einen Konsens, der wesentlich unsere heutige deutsche Identität bestimmt: Die Überzeugung, daß diese Bundesrepublik, indem sie sich konsequent gegen das Erbe des Nationalsozialismus gestellt hat, ein heiles, ein immerwährend prosperierendes Land geworden ist, ein Land ohne die inneren Konflikte, die andere Länder schütteln.

    Als friedfertig, sozial, gastfreundlich gegenüber Fremden sehen wir uns. Kurz, vorbildlich. Für die Last des Nationalsozialismus, die auf unserem Gewissen lastet, für diese nationale Schande entschädigen wir uns mit diesem Autostereotyp eines heutigen Musterlandes. Am deutschen Wesen soll die Welt genesen, wieder einmal.

    Hinzu kommt: Wir waren sechzig Jahre erfolgreich, warum also nicht auch in Zukunft? Wir sind ein weltweit beneideter Sozialstaat, warum sollen wir das nicht weiter sein können? Wir nehmen seit Jahrzehnten bereitwillig Einwanderer auf; und wo sind Konflikte wie diejenigen, die sich zum Beispiel in Frankreich von Zeit zu Zeit in Krawallen in der Banlieue entladen?

    Kurzum, wir machen doch alles richtig, wir Deutschen. Diese Überzeugung scheint mir der Hintergrund für die hochgradig affektiv geladene Ablehnung von Sarrazins Thesen zu sein. Denn just das alles stellt Sarrazin in Frage. Er zeichnet ein beklemmendes, ein düsteres Bild der deutschen Zukunft. Er benimmt sich wie ein Familienmitglied, das auf einmal loslegt und alle Lebenslügen der Familie beim Namen nennt. Da liegen schnell die Nerven blank.

    Das andere ist, daß die Thesen Sarrazins bei verschiedenen Themen Dasjenige kritisch in Frage stellen, was man eine Verkehrung des Nationalsozialismus ins Gegenteil nennen könnte. (Der Begriff stammt aus der Psychoanalyse und wird dort teilweise in einer engeren Bedeutung verwendet).

    "Nie wieder!" - das war zu Recht sozusagen der Rütli-Schwur, aus dem heraus die Bundesrepublik Deutschland entstand. Man wollte sich in allem, in jeder Hinsicht gegen die Barbarei der Nazis wenden; was in den ersten Jahrzehnten nach 1945 sicherlich auch eine dringende Notwendigkeit war. Aber oft genug ersetzte man den einen, barbarischen Extremismus durch einen anderen Extremismus; ungleich sympathischer gewiß, ungleich humaner und friedfertiger, aber auf seine Art eben doch auch ein Extremismus:
  • Die Nazis hatten der Vererbung eine ganz abwegig große Bedeutung beigemessen. Also wurde nun das Thema Vererbung tabuisiert; jedenfalls was die Vererbung von Persönlichkeitsmerkmalen wie der Intelligenz angeht. (Zitat aus dem eingangs verlinkten Aufruf: "Ganz im Sinne bereits früher gemachter unsäglicher Äußerungen über eine angebliche Vererbbarkeit von Intelligenz").

  • Die Nazis waren auf eine mörderische Art fremdenfeindlich. Also will man jetzt um jeden Preis fremdenfreundlich sein. Man hat schon im Kindergarten gelernt, daß man Fremde nicht diskriminieren darf, sondern nett zu ihnen sein muß und immer hilfsbereit. Jede kritische Äußerung über Fremde, über Einwanderer zumal, wird als unmoralisch, als Verletzung von Anstand und Ethik wahrgenommen.

  • Die Nazi-Ideologie räumte der Demographie einen breiten Raum ein. Die beabsichtigte Annexion und Entvölkerung von Teilen Osteuropas wurde beispielsweise damit begründet, daß eine wachsende deutsche Bevölkerung "Lebensraum" brauche. Die Reaktion auf diese inhumane und natürlich indiskutable Art von demographischem Denken bestand darin, die Demographie überhaupt zu tabuisieren; sie jedenfalls an den Rand zu drängen. Das dramatische Schrumpfen der deutschen Bevölkerung, das unsere Zukunft prägen wird wie kaum ein anderer Sachverhalt, wird mit einem Schulterzucken abgetan.

  • Und schließlich waren die Nazis nicht nur Nationalisten, sondern ihr Nationalismus war ein Imperialismus, gerichtet vor allem gegen die als "minderwertig" eingestuften Völker des Ostens. Die Reaktion darauf war und ist, schon das Wort "deutsche Nation" als anstößig zu empfinden und sich der Frage nach unserer nationalen Identität (eine Frage, die seit Monaten in Frankreich intensiv diskutiert wird; siehe Sarkozy und Sarrazin; ZR vom 26. 8. 2010) gar nicht erst zu stellen.
  • Es fanden Verkehrungen ins Gegenteil statt. Die eine extreme ideologische Position wurde durch die andere, diametral entgegengesetzte extreme ideologische Position ersetzt. Wie gesagt, ungleich sympathischer; aber eben doch extrem.

    Das Heilmittel gegen Extremismus ist aber nicht dessen Negativ, sondern eine vernünftige, skeptische Art des Herangehens.



    Zu einer solchen Betrachtung der Thesen Sarrazins möchte ich mit dieser Serie beitragen. Ich werde sie nacheinander unter die Lupe nehmen und zu zeigen versuchen, was nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung von ihnen zu halten ist.

    Ist Intelligenz wirklich "zu fünfzig bis achtzig Prozent vererbt"? Stimmt es, daß "alle Juden dasselbe Gen teilen"? Stimmt andererseits die in der Presse verbreitete Gegenthese zu Sarrazin, daß schon ab der zweiten Generation "Migranten nicht mehr Kinder bekommen als Deutsche"?

    Wie man sich denken kann, sind die wissenschaftlichen Antworten auf solche Fragen nicht immer eindeutig. Aber es sind doch jedenfalls wissenschaftliche Fragen, die man empirisch beantworten kann, statt in sein ideologisches Schatzkästlein zu greifen und die Antwort aus diesem hervorzuziehen.

    Und wenn man an solche Fragen wissenschaftlich herangeht, dann verfliegen auch meist die Affekte. Nichts hilft besser gegen die Irrationalität, zu der wir alle neigen - die einen mehr, die anderen weniger - , als sich in Zahlen, Fakten, Berechnungen zu vertiefen.



    Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette von der Autorin Nina unter Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported-Lizenz freigegeben. Bearbeitet.