23. Oktober 2012

Zitat des Tages: "Unfair, naiv und unvernünftig". Das Skandalurteil von L'Aquila

Die Vorwürfe gegen diese Wissenschaftler sind sowohl unfair als auch naiv. Diesen Anklagen liegt offenbar zugrunde, daß die Wissenschaftler die Bewohner von L'Aquila nicht vor einem bevorstehenden Erdbeben warnten. Jedoch gibt es keine Möglichkeit, wie sie das begründet hätten tun können.

Die Forschung von Jahren, zu einem erheblichen Teil von ausgewiesenen Seismographen in Ihrem Land durchgeführt, haben gezeigt, daß es keine anerkannte wissenschaftliche Methode zur Vorhersage von Erdbeben gibt, die zuverlässig eingesetzt werden könnte, um Bürger vor einer bevorstehenden Katastrophe zu warnen. Es ist unvernünftig, zu diesem Zeitpunkt mehr von der Wissenschaft zu erwarten.
Aus dem Offenen Brief von 5000 Wissenschaftlern an den italienischen Staatspräsidenten Napolitano vom 29. Juni 2012. Übersetzung von mir; das Original finden Sie unten.

Kommentar: Seit heute wissen wir, daß die italienische Justiz - genauer ein untergeordnetes Gericht, vermutlich unserem Amtsgericht vergleichbar, in der Stadt L'Aquila - sich unvernünftig verhalten hat. Nicht nur unfair und naiv, sondern nachgerade ein Skandalurteil ist das Urteil gegen die Seismographen Franco Barberi, Enzo Boschi, Gianmichele Calvi, Mauro Dolce, Claudio Eva und Giulio Selvaggi sowie Bernardo De Bernardinis, den Vizepräsidenten der italienischen Zivilschutzbehörde.

Sie wurden, einer wie der andere, zu sechs Jahren Gefängnis und Schadenersatz in Höhe von je 7,5 Millionen Euro pro Person verurteilt, davon 2 Millionen Euro sofort zu entrichten. Das Gericht verurteilte sie, weil sie nicht in der Lage gewesen waren, das Erdbeben in L'Aquila vom 6. April 2009 vorherzusagen. Sie hatten als Kommission am 31. März - zutreffend - konstatiert, daß es keine Anzeichen für ein bevorstehendes Erdbeben gab.



In früheren Zeiten pflegten Astrologen ihren Kopf zu riskieren, wenn sie die Zukunft nicht richtig vorhersagten. Ähnlich gefährdet lebten Alchimisten, denen das Goldmachen nicht gelingen wollte. Die Justiz von L'Aquila befindet sich offenkundig auf dem zivilisatorischen Niveau einer solchen unaufgeklärten Gesellschaft.

Die Erregung der Geschädigten und Hinterblieben des Bebens ist psychologisch verständlich. Sie wollen Entschädigung, und sie wollen offenbar zu ihrer psychischen Entlastung Schuldige sehen.

In einer aufgeklärten Gesellschaft erklären in einem solchen Fall die zuständigen Behörden und Gerichte den Betroffenen, daß man nur verurteilen darf, wenn eine Schuld vorliegt; nicht dann, wenn Opfer nach Genugtuung verlangen. Offenbar ist man in der Justiz von L'Aquila noch nicht zu dieser Stufe der Aufklärung vorangeschritten.

In dem Artikel in der Internetzeitschrift Daily Beast, dem ich die obigen Informationen verdanke, schreibt dessen Italien-Korrespondentin Barbie Latza Nadeau, daß in Italien die meisten Verurteilten ihre Strafe nie absitzen müssen und daß die Hälfte aller Urteile die nächste Instanz nicht übersteht.

Auch das klingt nicht sehr zivilisiert; aber vielleicht hebt ja hier die eine Rückständigkeit die andere auf.



Originaltext des Zitats:

The charges against these scientists are both unfair and naive. The basis of these indictments appears to be that the scientists failed to alert the population of L'Aquila of an impending earthquake. However, there ist no way they could have done that credibly.

Years of research, much of it conducted by distinguished seismologists in your own country, have demonstrated that there is no accepted scientific method for earthquake prediction that can be reliably used to warn citizens of an impeding disaster. To expect more of science at this time is unreasonable.
Zettel



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