24. Oktober 2012

Zettels Meckerecke: Wachsende Gehaltslücke zwischen Männern und Frauen in Deutschland? Wie "Zeit-Online" desinformiert

"Gleichberechtigung - In Deutschland klaffen Gehälter immer weiter auseinander" lautet der Titel eines Artikels von Tina Groll, den man seit heute Mittag bei "Zeit-Online" lesen kann. Im Vorspann heißt es:
Gleicher Job, gleiche Qualifikation – und doch weniger Gehalt: In Deutschland verdienen Frauen immer häufiger schlechter als Männer, stellt eine neue Studie fest.
Es handelt sich um einen Bericht des World Economic Forum, dessen Kurzfassung Sie hier lesen können. Es gibt dazu eine Pressemitteilung, die auch auf Deutsch vorliegt.

Schon ein flüchtiger Blick in diese Pressemitteilung zeigt, daß "Zeit-Online" das Hauptergebnis des Berichts in Bezug auf Deutschland unterschlägt. Es lautet:
Von den vier größten Volkswirtschaften konnten die USA, Japan und Deutschland die geschlechts­spezi­fischen Unterschiede in der Wirtschaft 2012 verringern; China hat eine leichte Verschlechterung zu verzeichnen
Verringern. Nicht vergrößern. Nicht wahr, das ist das Gegenteil.



Wenn man sich den Bericht (ich beziehe mich zunächst auf die Kurzfassung) genauer ansieht, dann findet man allerdings, daß mit dem Oberbegriff "geschlechtsspezifische Unter­schiede" vier verschiedene Indices zusammenfaßt werden; nämlich Economic participation and opportunity (öko­no­mische Teilhabe und Chancen), Educational attainment (Bildungsniveau), Health and survival (Gesundheit und Lebenserwartung) und Political empowerment (Zugang zur politischen Macht).

Jeder dieser Indices setzt sich wiederum aus verschiedenen Kennwerten zusammen; derjenige zu "Ökonomischer Teilhabe und Chancen" umfaßt zum Beispiel diese fünf Kennwerte

  • Ratio: female labour force participation over male value (Anteil der Frauen an der erwerbstätigen Bevölkerung)

  • Wage equality between women and men for similar work (Lohngleichheit zwischen Frauen und Männern für ähnliche Arbeit)

  • Ratio: estimated female earned income over male value (Geschätztes Einkommen von Frauen relativ zu dem von Männern)

  • Ratio: female legislators, senior officials and managers over male value (Anteil weiblicher Abgeordneter, leitender Beamter und Manager)

  • Ratio: female professional and technical workers over male value (Anteil von Frauen in qualifizierten Berufen und im technischen Bereich).
  • Insgesamt sind es 14 solche Kennwerte, die in die vier Indices eingehen, aus denen schließlich ein Gesamtwert berechnet wird. Jeder Kennwert liegt zwischen 1.00 (völlige Gleichheit) und 0.00 (völlige Ungleichheit). Der Gesamtindex Gender gap (Geschlechterlücke) ist das arithmetische Mittel der oben genannten vier Indices.

    Von diesen vier Indices pickt sich die "Zeit-Online"-Autorin Tina Groll einen einzigen heraus, nämlich "Ökonomische Teilhabe und Chancen"; und hier wieder einen einzigen Kennwert, nämlich Wage equality between women and men for similar work, die Lohngleichheit zwischen Frauen und Männern bei ähnlicher Arbeit.

    Und dazu nun behauptet sie:
    Wie steht es um die Gerechtigkeit zwischen Männern und Frauen? Diese Frage beantwortet der jährliche Global-Gender-Gap-Report des Weltwirtschaftsforums. (...) Jetzt liegt der Report 2012 vor. Für Frauen in Deutschland hat sich die Lage demnach leicht verschlechtert, insbesondere, wenn man sich die Lohnlücke zwischen Männern und Frauen anschaut.
    Es geht also einmal um die Lage allgemein, das heißt den Index Gender gap (Geschlechterlücke). Es geht zweitens um die "Lohnlücke", also den Kennwert Wage equality between women and men for similar work. Der erste dieser beiden Werte habe sich in Deutschland "leicht" verschlechtert, behauptet die Autorin. Der zweite "insbesondere".

    Beide Aussagen sind schlicht unwahr.



    Hier sind die Zahlen aus dem Bericht:

  • Der Index für die Geschlechterlücke lag für Deutschland im Jahr 2011 bei 0.7590 und liegt 2012 bei 0.7629 (Tabelle 3a, Seite 8). Wie gesagt, ist die Gleichheit zwischen Männern und Frauen umso größer, je höher dieser Index ist. Die Lage für Frauen in Deutschland hat sich gegenüber dem Vorjahr somit leicht verbessert; so, wie es in der Pressemitteilung ja auch gesagt wird.

    Die Behauptung der Autorin Groll ist das Gegenteil der Wahrheit. Sie hätte sich übrigens noch nicht eimal die Mühe machen müssen, die Prozentwerte selbst zu vergleichen, den dieser Vergleich wird in Tabelle 3c (Seite 12) direkt vorgenommen. Dort ist unmittelbar abzulesen, daß sich bereits seit 2008 der Gender gap in Deutschland Jahr für Jahr verringert hat; die Gleichheit also zunahm.

  • Was nun die Lohnlücke (Kennwert Wage equality between women and men for similar work) angeht, so enthält die Kurzfassung des Berichts dazu gar keine Angaben; sondern lediglich zu dem übergeordneten Index Economic participation and opportunity . Bei ihm liegen (Tabelle 5, Seite 15) auf den ersten fünf Plätzen (in dieser Reihenfolge) die Mongolei, die Bahamas, Burundi, Norwegen, Malawi. Deutschland liegt mit einem Index von 0.7399 auf Platz 31. Ein Vergleichswert von 2011 wird nicht genannt.
  • Wo also hat die Autorin Tina Groll ihre Behauptung her, laut dem Bericht hätte sich die Situation der Frauen in Deutschland verschlechtert, "insbesondere wenn man sich die Lohnlücke anschaut"? Sollte sie sich nicht mit der Pressemitteilung und der Kurzfassung (immerhin 34 Seiten) begnügt, sondern den ganzen Bericht studiert haben?

    Ich habe das getan. Man kann sich die 381 Seiten hier herunterladen. Alle Daten für Deutschland sind auf den Seiten 186 und 187 zusammengestellt. Auf Seite 186 findet man den Kennwert für die Lohnlücke Wage equality for similar work. Er betrug 2012 für Deutschland 0.62. Aber selbst in dieser Langfassung des Berichts gibt es keine Vergleichszahlen zu 2011.

    Wir wissen also immer noch nicht, wie die Autorin Groll auf ihre Behauptung gekommen ist. Hat sie sich etwa noch zusätzlich die Mühe gemacht, den Bericht für das Jahr 2011 zu suchen, um selbst zu vergleichen?

    Ich habe auch das noch getan. Man findet diesen Bericht von 2011 hier. Die Daten für Deutschland stehen auf den Seiten 182 und 183. Im Jahr 2011 lag der Wert für die Lohnlücke in Deutschland bei 0.62. Also genau dort, wo er auch 2012 liegt. Wiederum erweist sich die Angabe von Frau Groll als unzutreffend. Es gibt keine Verschlechterung bei der Lohnlücke.



    Ein letzter Versuch: Meint etwa Tina Groll mit "Lohnlücke" gar nicht den Kennwert Wage equality for similar work? Meint sie vielleicht das absolute Einkommensniveau von Frauen in Relation zu dem von Männern; unabhängig von der beruflichen Position? Also den Kennwert Ratio: estimated female earned income over male value?

    Dieses Verhältnis des Einkommens von Frauen zu dem von Männern betrug im Jahr 2011 in Deutschland laut dem Bericht aus diesem Jahr (Seite 182) 0.69. Im Jahr 2012 betrug er (in dem betreffenden Bericht auf Seite 186) 0.74.

    In absoluten Zahlen: Im Jahr 2011 betrug das Einkommen von Männern in Deutschland umgerechnet und kaufkraftbereinigt 40.000 US$ und das von Frauen 27.457 US$. Im Jahr 2012 lag es laut dem Bericht (etwas erstaunlich) für Männer bei unverändert genau 40.000 US$, ist bei Frauen aber auf 29.616 US$ angestiegen.

    Die Autorin Tina Groll, deren Namen man sich deshalb merken sollte, hat die Stirn, das Gegenteil zu behaupten; und ich zitiere das jetzt bewußt noch einmal:
    Für Frauen in Deutschland hat sich die Lage demnach leicht verschlechtert, insbesondere, wenn man sich die Lohnlücke zwischen Männern und Frauen anschaut. Lag die Bundesrepublik im Vorjahr noch auf Platz elf, rutschte sie in diesem Jahr auf Platz 13.
    Von Platz 11 auf Platz 13 rutschte Deutschland, wie erwähnt, nicht beim Lohn, sondern im Gesamtindex Gender gap (obwohl auch dieser sich - siehe oben - im Kennwert verbesserte). Den Grund hätte die Autorin erfahren können, wenn sie den Bericht gelesen hätte: "Germany (13) loses two places this year as a result of new data becoming available for tertiary education" - Deutschland verliert in diesem Jahr zwei Plätze aufgrund von neu verfügbaren Daten zur Universitätsbildung (Seite 22 der Kurzfassung).

    Mit einer Lohnlücke hat das exakt nichts zu tun.
    Zettel



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