5. Oktober 2012

"Forscher haben jetzt herausgefunden, daß ...". Plädoyer für einen skeptischeren Umgang mit Forschungsergebnissen in den Medien


Lesern von ZR und vor allem denen, die auch die eine oder andere Diskussion in Zettels kleinem Zimmer verfolgen, ist das Thema vertraut: Unter Überschriften wie "Forscher haben jetzt herausgefunden, daß ..." wird als Ergebnis der Wissenschaft dargestellt, was kein Ergebnis der Wissenschaft ist, sondern bestenfalls ein kleiner Schritt auf dem steinigen Weg zu gesicherten Ergebnissen; oft auch ein Schritt, der sich bei näherer Untersuchung als ein Fehltritt erweist.

Von den vielleicht 4000 bis 5000 wissenschaftlichen Artikeln, die jeden Tag publiziert werden, gelangt nur ein winziger Bruchteil an die Öffentlichkeit außerhalb der betreffenden Scientific Community. Es sind meist solche Artikel, die von der Pressestelle der Universität oder sonstigen wissenschaft­lichen Einrichtung verbreitet werden, an denen die Hauptautoren tätig sind.

Solche Ergebnisse werden deshalb der Öffentlichkeit mitgeteilt, weil die betreffende Pressestelle der Meinung ist, daß es sich um ein sensationelles und/oder ein gesellschaftlich oder politisch besonders relevantes Ergebnis handelt.

Zur ersten Gruppe gehörte zum Beispiel das anscheinende Forschungsergebnis, daß Neutrinos sich schneller als mit Lichtgeschwindigkeit bewegen können. Vor einem Jahr machte dieser Befund aus der Teilchenphysik Schlagzeilen (siehe Neues aus der Forschung (11): Neutrinos, schneller als das Licht. Ist Einstein jetzt überholt? Zum Umgang mit wissenschaftlichen Anomalien; ZR vom 25. 9. 2011).

Manche sahen damals schon die Relativitätstheorie widerlegt. Inzwischen lassen sich die Daten auf eine etwas weniger spektakuläre Weise erklären: Ein 8 km langes Fiberglaskabel saß locker, so daß die übertragene Lichtintensität etwas geringer war als nominell und dadurch ein kritischer Schwellenwert mit einer Verzögerung von 73 Nanosekunden erreicht wurde. Zweitens wich die Schwingungsperiode eines Oszillators um 124 Nanosekunden vom nominellen Wert ab. Beide Effekte zusammen können genau den Wert der Abweichung von der Lichtgeschwindigkeit erklären, der soviel Furore gemacht hatte.

Zur zweiten Gruppe - Ergebnisse werden der Öffentlichkeit mitgeteilt und gelangen über die Agenturen in die Medien, weil sie als gesellschaftlich oder politisch relevant betrachtet werden - gehören beispielsweise Untersuchungen zur Entwicklung des Klimas und zu den Folgen des nuklearen Unfalls in Fukushima.

Dabei ist eine erhebliche Filterung zu beobachten.

Ergebnisse, welche die Theorie von der menschengemachten globalen Erwärmung (anthropogenic climate change, ACC) stützen, finden regelmäßig Eingang in die Medien; selbst dann, wenn der Zusammenhang mit ACC so zweifelhaft ist wie bei der Beobachtung, daß die Schafe auf der schottischen Insel Hirta heute etwas kleiner sind als vor einigen Jahrzehnten (siehe "Schottische Schafe schrumpfen". Die globale Erwärmung und das Elend des deutschen Wissenschafts-Journalismus; ZR vom 3. 7. 2009). In der Serie Kleines Klima-Kaleidoskop finden Sie von Zeit zu Zeit Daten und theoretische Ansätze referiert, die diesen Filter in den meisten Medien nicht passieren.

Ebenso finden alle Forschungsergebnisse, die auf schädliche Wirkungen von Strahlungen aus einem Kernkraftwerk hinweisen könnten, bevorzugten Zugang zu den Medien, auch wenn es sich um Schmetterlingsforschung handelt und wenn der Zusammenhang mit ionisierender Strahlung keineswegs erwiesen oder auch nur wahrscheinlich ist (siehe Die Deutschen und das Atom (6): Seriöse Wissenschaft und ihr Mißbrauch durch Politiker; ZR vom 11. 12.2007, und Verursacht das Endlager Asse Leukämie?; ZR vom 27. 11. 2010).



Wer die Berichterstattung in den Medien über Ergebnisse der Wissenschaften verfolgt, dessen Bild von wissenschaftlicher Forschung ist ungefähr so realitätsnah wie, sagen wir, das Bild eines Inders von den gesellschaftlichen Verhältnissen in Deutschland, der sich ausschließlich durch TV-Berichte über das Münchner Oktoberfest, den Christopher Street Day in Köln und Dreharbeiten zu einem Bollywood-Film in Heppen­heim/Bergstraße informiert.

Eigentlich geht es um zwei Probleme.

Das eine ist die beschriebene Selektivität, mit der Forschungsergebnisse in die Medien gelangen: Die Pressestellen entscheiden, was sie für mitteilenswert halten; und sie tun es nach den Kriterien des sensationellen Charakters und der vermuteten gesellschaftlichen oder politischen Relevanz eines Ergebnisses.

Das zweite Problem liegt darin, was eigentlich ein "Ergebnis" ist. Wissenschaftler sehen etwas dann als ein Ergebnis an, wenn es hinreichend gesichert ist. Die Pressestellen neigen aber dazu, gerade das noch nicht Gesicherte in den Vordergrund zu stellen - nämlich das, was die betreffenden Forscher als erste gefunden haben; oder vielmehr gefunden zu haben vermeinen. Oder wovon sie fälschlicherweise behaupten, es herausgefunden zu haben; denn auch Fälle von regelrechtem Betrug werden gelegentlich aufgedeckt (siehe Neues aus der Forschung (13): Ein Fall von Wissenschaftsbetrug. Nebst Anmerkungen zur Sozial­psycho­logie; ZR vom 6. 11. 2011).

Eigentlich sollte das nicht passieren; jedenfalls nicht Bestand haben. Denn auf eine Erstveröffentlichung folgen dann, wenn sie wichtig erscheint, die Überprüfungen. Von anderen, auf demselben Gebiet arbeitenden Wissenschaftlern werden die betreffenden Experimente wiederholt ("repliziert").

Man sucht nach möglichen Fehlerquellen. Man überprüft vor allem auch alternative Interpretationen der Daten, die es fast immer gibt. Wenn um ein KKW herum erhöht Fälle von Leukämie auftreten als im Landesdurchschnitt, dann könnte das auch an den besonderen Umweltbedingungen in einem Industriegebiet liegen. Wenn Schmetterlinge in der Umgebung von Fukushima Veränderungen zeigen, dann könnte das auch durch die bei dem Unfall freigesetzten chemischen Substanzen verursacht worden sein, statt von ionisierender Strahlung.

Dieser an die anfängliche Publikation anschließende Forschung­sprozeß dringt selten an die Öffentlichkeit; und nur in wenigen Fällen werden Korrekturen registriert - wie im Fall der "überlichtschnellen" Neutrinos.

Aber auch die Forschung selbst steht vor diesem Problem, daß Ergebnisse vorschnell akzeptiert werden, bevor sie den Prozeß der Überprüfung durchlaufen haben.

Manche gewinnen den Status von Fakten, ohne je hinreichend überprüft worden zu sein. Sie werden zitiert; sie gelangen irgendwann vielleicht gar in die Lehrbücher. Dies - und vor allem auch Betrug - ist deshalb möglich, weil das Überprüfen eine zwar notwendige, aber für Wissenschaftler nicht unbedingt attraktive Arbeit ist. Lieber finden sie selbst etwas Neues heraus, als daß sie das nachprüfen, was andere publiziert haben.



In der FAZ hat sich am vergangenen Montag der Chef von deren Wissenschaftsressort, Joachim Müller-Jung, mit diesem Thema befaßt. Unter der Überschrift "Windelweiche Wissenschaft" schildert er, wie eine fragwürdige, nicht überprüfte Arbeit über angebliche Schädigungen durch gentechnisch veränderten Mais Furore machte, und weist auf die Brisanz dieses Problems hin, daß nicht nachgeprüfte "Ergebnisse" akzeptiert werden:
Im vorigen Jahr haben Wissenschaftler von Bayer Health-Care versucht, 67 vorklinische Experimente mit vermeintlich neuen Wirkstoffkandidaten zu reproduzieren. Ergebnis: In drei Viertel der Fälle scheiterten sie. Wie fatal die Situation ist, wird auch anhand einer aktuellen Untersuchung von Arturo Casadevall von der Washington University School of Medicine deutlich. Zusammen mit seinen Kollegen berichtet er in den "Proceedings" der amerikanischen Nationalen Akademie der Wissenschaften, wie viele Paper aus den Lebenswissenschaften seit Aufnahme in der zentralen Literatur-Datenbank "Pubmed" im Jahre 1940 offiziell widerrufen wurden. Es waren 2047 Artikel.
Was tun, zumal der Trend dahin geht, daß solche Fälle zahlreicher werden?

Müller-Jung nennt die Reproductability Initiative, die gegen eine entsprechende Vergütung anbietet, die Nachprüfung bei ihr eingereichter Ergebnisse zu vermitteln, bevor diese publiziert werden. Das mag im Einzelfall nützlich sein; aber Forscher sind nun einmal vital daran interessiert, ihre Daten möglichst schnell zu publizieren, damit ihnen nicht andere zuvorkommen. Teuer dafür zu bezahlen, daß sich die Publikation verzögert - und daß möglicherweise auch noch Andere vor der Publikation von den Ergebnissen erfahren - dürfte für die meisten Wissenschaftler wenig attraktiv sein.

Müller-Jung hat eine andere Idee:
Warum nicht anders herum: eine Kennzeichnungspflicht für nicht reproduzierte Arbeiten - ein unter dem Autorenverzeichnis deutlich sichtbarer Hinweis, dass der vorgestellte Befund noch nicht von unabhängig Seite bestätigt wurde. Mit einem solchen Label versehen könnte auch die Unterrichtung der Öffentlichkeit öfter mal weniger sensationalistisch ausfallen, als es in der kurzatmigen Welt von heute schon gewohnheitsmäßig der Fall ist.
Ja, das wäre fein. Aber wie will man eine solche Pflicht durchsetzen; wer hätte überhaupt die Autorität, sie durchzusetzen?

Und eine solche Kennzeichnung würde wenig für das Kernproblem bringen, das ja eben kein innerwissenschaft­liches ist: Daß Journalisten, daß die Öffentlichkeit kaum von der berufsmäßigen Skepsis des Wissenschaftlers angekränkelt sind und nur allzu gern das für bare Münze nehmen, was ihnen in den Kram paßt - sei es als Sensation, sei es als "Beleg" für politische Meinungen, die man ohnehin hat.



Das Titelbild zeigt den großen skeptischen Wissenschafts­theoretiker Karl Popper. 1953 hat er in einem sehr lesenswerten Vortrag in Cambridge seine Position zusammengefaßt. Dort sagte er:
... the acceptance by science of a law or of a theory is tentative only; which is to say that all laws and theories are conjectures, or tentative hypotheses (...).

... die wissenschaftliche Anerkennung eines Gesetzes oder einer Theorie gilt nur auf Widerruf; was bedeutet, daß alle Gesetze und Theorien Vermutungen sind, vorläufige Hypothesen.
Statt "Forscher haben jetzt herausgefunden, daß ..." sollten Berichte in den Medien eigentlich lauten: "Wissenschaftler haben jetzt erste Hinweise darauf publiziert, daß möglicherweise ...".
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelbild: Karl Popper 1990. Foto gemeinfrei.