10. Oktober 2012

Zettels Meckerecke: Die Arroganz der RegisseurInnen, ihr schleichender Putsch. Zur Diktatur des Regietheaters

Seit gestern Abend ist in "Zeit-Online" ein Artikel aus der gedruckten "Zeit" der vergangenen Woche zu lesen, der sich wieder einmal mit dem beschäftigt, was mit einem verharmlosenden Ausdruck als "Regietheater" bezeichnet wird. In diesem Fall geht es um die Oper; die Autorin Barbara Beyer ist Regisseurin und seit drei Jahren auch Professorin für das Fach "Musikdramatische Darstellung – szenische Interpretation" am Musiktheaterinstitut der Kunstuniversität Graz.

Zu meckern habe ich weniger über diesen Artikel, der kenntnisreich ist, freilich in der Aussage ein wenig unbestimmt; sondern - wieder einmal - über die Praxis des Regietheaters, welche die Autorin schildert (siehe auch Was darf Regietheater?; ZR vom 18. 6. 2007). Barbara Beyer schreibt:
Der aktualisierende Stil zerstört die Oper in ihrer tradierten Form, so wie man sie bis in die siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hinein pflegte – im historischen Kostüm, mit einer treu nacherzählten Handlung, diktiert von einer redlich verstandenen Werktreue.
In der Tat. Und warum? Frau Beyer gibt uns eine nun allerdings seltsame Antwort:
Ein Zurück gibt es heute nicht mehr. Ein Figaro, eine Aida oder Fidelio im historischen Gewand – das wirkt heute nur schlecht verkleidet und allemal unzeitgemäß. Und wenn, dann schielt man damit nur auf den konservativen Zuschauer, der die verbürgte Form verteidigt wissen will.
Vielleicht würde ein Regisseur, der das tut, ja gar nicht schielen müssen, sondern nur den Blick fest auf sein Publikum richten; konservativ oder möglicherweise auch nicht.

Dieses Publikum würde es vermutlich nicht besonders mögen, wenn man als Orchester zur Aufführung von "Cosí fan tutte" die Original Siegerländer Stadtmusikanten verpflichtete. Es hat, dieses Publikum, vielmehr gern ein Orchester, das die Musik zu dem Singspiel so interpretiert, wie dies dem Werk entspricht. Warum sollte es nicht auch wünschen, daß das Stück optisch, daß es dramaturgisch werkgetreu aufgeführt wird?

Was Barbara Beyer schreibt, das ist eine petitio principii. Sie setzt das voraus, was sie begründen will. Sie sagt: Eine werkgetreue Aufführung wäre heute nicht mehr zeitgemäß, weil sie nicht zeitgemäß wäre.



Was zeitgemäß ist, das bestimmen diejenigen, die inszenieren dürfen. Es bestimmen zweitens die Kritiker, die mit ihnen in Symbiose leben. Das Publikum bestimmt es nicht.

Vielmehr fällt dem Publikum die Rolle zu, sich dem jeweiligen Zeitgeist zu beugen; sich mithin dem zu unterwerfen, was der Verbund aus angesagten Regisseuren und den ihnen wohlwollend gesonnenen, also ebenfalls angesagten Kritikern zu einer zeitgemäßen Interpretation erklärt.

Wer dieses Sichbeugen verweigert, der ist tautolo­gischer­weise nicht zeitgemäß; ja er setzt sich dem fürchterlichsten überhaupt denkbaren Verdacht aus, der auf jemanden fallen kann: dem Verdacht, konservativ zu sein. Auf so jemanden kann man allenfalls noch, die Autorin schreibt es, schielen.

Verbeugen soll er sich, der auf den Zeitgeist verpflichtete Zuschauer, vor Inszenierungen wie derjenigen, die Barbara Beyer zustimmend so schildert (Benedikt von Peters "Traviata" in Hannover):
Von Peter verbannte das Orchester auf die Hinterbühne, ebenso den Chor und setzte, mit Ausnahme der Protagonistin, sämtliche Solisten ins Dunkle, sodass zweieinhalb Stunden lang nur Violetta auf der Bühne zu sehen war. Gleichzeitig wurden Teile der Musik im Kofferradio wiederholt, und Technomusik wurde eingeblendet; Violetta sprach das Publikum direkt an und kletterte während einer ihrer Arien über die Stühle im Saal.
Jeder, der regelmäßig ins Theater und in die Oper geht, kennt solche Inszenierungen. Einen zum Jahrmarktsspektakel verhunzten "Tartuffe" habe ich in dem Artikel von 2007 geschildert. In Berlin haben wir eine Inszenierung des "Prinz von Homburg" gesehen, die ein Kritiker so beschrieben hat:
Die Bühne, ein blutroter Reichstagssaal mit preußischem Wappen an der Wand, birgt Traumtänzer ohne Tanz, Standbilder einer erschlafften Regieabsicht. (...) Wenn die Hitze der Schlacht behauptet werden soll, stürzt sich Lagerpusch [der Darsteller des Prinzen Friedrich; Zettel] in das Wasser, das den gesamten Bühnenboden bedeckt. Später tut es ihm Barbara Heynen als Homburgs Geliebte Natalie gleich, wenn sie ihren Bittgang für den Inhaftierten krönt. Die Figuren stecken unter maskenhaftem, kreideweißem Make-up, das bei dem einen (Homburg) oder der anderen (Natalie) mit zunehmender Dauer abgewaschen wird. (...) So laut der Hall des Saales tönt, so bleiern wechseln die Akteure ihre Posen und Haltungen.
Kleists grandioses Stück, das, wenn man den Text respektiert, gut zweieinhalb Stunden dauert, hatte der Meister des Regietheaters Andreas Kriegenburg auf fast die Hälfte zusammengestrichen; die komplexe Handlung wurde auf das Niveau eines Happenings reduziert. Eines öden Happenings auf einer Bühne, auf der alles rot war, von der Dekoration bis zu den Kostümen. In dieser optischen Einöde schlurften die müde deklamierenden Schauspieler herum, begleitet vom Glucksen unaufhörlich rinnenden Wassers.



Was ist da passiert, seit den - wie Barbara Beyer meint - siebziger Jahren? Passiert ist ein Putsch, ein freilich schleichender Putsch. Ein Putsch der RegisseurInnen; ich wähle hier einmal diese Schreibweise, weil sie die Orthographie so quält wie diese Leute die Texte, derer sie sich bemächtigen.

Regie heißt im Französischen mise en scène, das In-Szene-Setzen. Das ist die herkömmliche Aufgabe des Regisseurs. Er bringt ein Theaterstück, er bringt eine Oper auf die Bühne, so wie der Dirigent die Partitur zu Gehör bringt. Er ist ein Interpret; ein Deuter also.

Der Regisseur ist ein reproduktiver Künstler. Er agiert im Dienst des Werks; wie der Sänger, der eine Arie interpretiert. Wie der Sprecher, der für ein Hörbuch einen Text liest.

Ein Sprecher, der, sagen wir, Kafkas "Prozeß" grölend und glucksend herausplärren würde, wäre seine Aufträge schnell los. Exakt Entsprechendes aber macht ein Regisseur, der beispielsweise Bizets "Carmen" als verhuschtes und von Männern unterdrücktes Wesen auftreten läßt oder der Goethes "Iphigenie auf Tauris" als antikoloniales Stück inszeniert, in dem brutale griechische Herrenmenschen die armen Taurier triezen.

Er macht das, er darf das machen, der Regisseur des Regietheaters, weil er von dem schleichenden Putsch seiner Zunft profitiert, mit dem sich der Interpret zum künstlerischen Selbstherrscher erhoben hat und zum Herrscher über seine Schauspieler, die nolens volens das spielen müssen, was er sich hat einfallen lassen.

Er hat sich durch den Putsch zum Dikator aufgeschwungen, der Regisseur; und kann jetzt seine Macht genießen, sich der Arroganz der Macht erfreuen. Er dient nicht mehr dem Theaterstück, der Oper als deren Vermittler; sondern das Werk ist ein Steinbruch, aus dem er sich bedient, um sein eigenes Bauwerk zu errichten; ein oft genug windschiefes und schon bei seiner Errichtung baufälliges Gebäude.

Barbara Beyer beschreibt das ohne erkennbares Entsetzen:
Die meisten Operninszenierungen folgen heute einem ausgeklügelten Regiekonzept, das auf der Bühne konsequent umgesetzt, bebildert und konfiguriert wird. Dabei haben viele Regisseure eine Tendenz zur Aktualisierung zum Prinzip ihrer Inszenierungen erhoben. Doch diesem Prinzip wohnt, bewusst oder unbewusst, eine erhebliche Selbstbezüglichkeit inne – man spiegelt die eigene Welt in einem fremden Werk. (...) Dabei definiert sich das Selbstverständnis der jungen Regisseure weniger durch ihre Rolle als Vermittler als über eine selbstbewusste Autorschaft. Sie versuchen, dem Werk "auf Augenhöhe" zu begegnen.
Ach was, Augenhöhe. Der Regisseur, der ja aus Gründen nicht selbst Theaterautor geworden ist, weil ihm nämlich dazu die künstlerische Potenz fehlt - dieser Putschist, dieser Usurpator nimmt das große Werk und assimiliert es seiner eigenen Kleinheit.

Was der Autor erdacht, woran er - wie Goethe an der "Iphigenie" - Jahrzehnte gearbeitet hat, das grapscht sich der Regisseur und mißbraucht es für seine antikoloniale Agitprop, zur Illustration seines Weltschmerzes, für eine Zurschaustellung seines Narzißmus oder zur Veranstaltung eines Kasperletheaters, das er vielleicht als Kind nie hatte spielen dürfen.



Wir lassen es uns gefallen. Das Kartell aus Regisseuren und Kritikern funktioniert. Die Autoren, die Komponisten können sich nicht wehren, weil sie tot sind. Die Philologen, die Musiklehrer, die ihren Schülern ein Verständnis für die Werke beizubringen versuchen, müssen mit ansehen, wie diese - sollten sie denn ins Theater oder in die Oper gehen - statt des Werks seine Verballhornung zu sehen bekommen.

Ja, aber muß Kunst denn nicht immer Neues wagen? Was wäre denn ein Regisseur für ein Künstler, der sich nur in ausgetretenen Pfaden bewegt; der die "Iphigenie" oder den "Prinzen von Homburg" so inszeniert, wie sie schon hundertmal inszeniert worden sind?

Er soll das ja nicht. Auch der Dirigent findet immer wieder eine neue Sicht auf ein Werk, ohne es durch seine Interpretation zu vergewaltigen, ohne die Intention des Komponisten in ihr Gegenteil zu verkehren. Ein großes Werk ist so reich an Möglichkeiten der Interpretation, daß es eine Herausforderung an jeden Regisseur darstellt, der sein Handwerk beherrscht.

Sein Handwerk: Dasjenige nämlich, sich die Vielfalt eines Stücks zu erschließen, an ihm Neues, vielleicht besonders Zeitgemäßes zu entdecken; dieses herauszuarbeiten. Den Text in Aktion umzusetzen, das Sprachliche ins Optische. Das kann so geschehen, daß man auch einmal in modernen Kostümen spielen läßt; daß man das ganze Stück in eine andere Zeit verlagert. Ebenso kann eine Interpretation es verlangen, strikt den zeitgenössischen Rahmen einzuhalten. In Frankreich wird Molière oft in historischen Kostümen gespielt, in England Shakespeare.

Ob man es so oder so macht, das hängt vom Regiekonzept ab; also davon, wie sich der Regisseur ein Stück erschlossen hat, welche Sicht darauf er spielen lassen will. Aber es muß eben eine Sicht auf das Stück sein. Die künstlerische Leistung des Regisseurs, der Kunstgenuß des Zuschauers bestehen darin, einen neuen Blick auf das vielleicht Wohlbekannte zu gewinnen. Ungefähr so, wie der große Koch einem klassischen Gericht neue Geschmacksnuancen abgewinnt.

Das ist es, was dem Regisseur aufgetragen ist und worum sich vor dem großen Putsch auch jeder Regisseur bemüht hatte. Statt wie ein Berserker in einem Text herumzu­fuhrwerken und sich für den Größten zu halten, wenn man ein großes Kunstwerk auf das eigene bescheidene künstlerische Niveau heruntertransformiert hat.
Zettel



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