18. Juni 2007

Zettels Meckerecke: Was darf Regietheater?

Was darf Satire? Alles, bekanntlich. So lasen es vor einigen Generationen die Leser Tucholskys. So lernen es heute die Gymnasiasten. (Naja, in den besseren Gymnasien vermutlich, immerhin).

Was darf Regietheater? ALLES! ALLES! ALLES!

So ist es offenbar heutzutage Konsensus in den Theatern; jedenfalls den europäischen.

Wer als Dirigent Haydn interpretiert oder Mozart, der setzt, wenn er gut ist, seinen Ehrgeiz ein, um einen eigenen Stil der Interpretation zu finden. Er sieht - oder vielmehr hört - das Stück in einer bestimmten Weise, und das bestimmt seine Interpretation.

So ist es, wenn ein anderer reproduktiver Künstler seinem Beruf nachgeht. Der Schauspieler, der - im Zeitalter der Hörbücher ja sehr im Kommen - Thomas Mann liest oder Kafka, macht sich ein Bild von dem Text und prägt ihn, verändert ihn, indem er ihn liest.

So ist es, möchte man denken, auch beim Theater. Der Regisseur sieht das Stück in einer bestimmten Weise, und er interpretiert es so. Er inszeniert das Stück, so wie es sich ihm darstellt. Er macht bestimmte Züge des Stücks sichtbar, ermöglicht vielleicht einen neuen Blick auf sie. Aber was er spielen läßt, das ist doch das Stück, so wie der Autor es schrieb.

Aber es ist nicht so. Es ist heutzutage - jedenfalls in Europa - so, daß das sogenannte Regietheater sich manchmal dem Text gegenüber, den es spielt, ungefähr so verhält wie Geier gegenüber ihrer Beute.

Sie ist ja tot, die Beute. Also kann man über sie herfallen, Stücke herausreißen, sich daran gütlich tun nach Belieben. Man verfährt mit dem Text so, wie ein Dirigent mit Haydn verfahren würde, der ihn von den Original Oberkrainern mit ihrer Blasmusik interpretieren ließe, abwechselnd mit der Rapper-Gruppe des Multikulti-Zentrums von Duisburg-Ruhrort.

Solange ein Autor noch lebt, oder wenn es streitbare Erben gibt wie bei Bert Brecht, dann sind der Ausweidung eines Stücks Grenzen gesetzt, enge zum Teil. George Bernard Shaw hat seinen Texte lange Regieanweisungen beigefügt. Sie werden kaum noch gespielt, seine Stücke. Bei den meisten älteren Autoren gibt es keine solche Grenzen.



Zum Ausklang der diesjährigen Ruhr-Festspiele Recklinghausen wurde eine Produktion des Thalia- Theaters gezeigt, der Tartuffe. Eines meiner Lieblingsstücke von Molière. Die glanzvolle Inszenierung von Benno Besson im Pariser "Odéon" war die beste Molière- Aufführung, die ich jemals gesehen habe.

Die Inszenierung des Thalia-Theaters hatte ein gewisser Dimiter Gotscheff zu verantworten.

Die Namen der Personen waren von Molière. Auch so etwas wie das grobe Handlungsgerüst war erkennbar geblieben; wie das Skelett des Opfertiers übrigbleibt, wenn die Geier ihr Werk getan haben. Wieviel Prozent des Textes von Molière waren, kann ich schwer einschätzen. Die Obszönitäten, die Blasphemie, die die ganze Aufführung durchzog, jedenfalls nicht.

Das Stück ist eines der raffiniertesten von Molière. Es lebt von der Hintergründigkeit, der Mehrdeutigkeit dessen, was die Protagonisten sagen; seinerzeit zensurbedingt zum Teil. Gotscheff hat daraus ein Spektakel gemacht, in dem die Schauspieler ständig schreien, grimassieren, sich verausgaben müssen.

Sie laufen auf der Bühne herum, so als hätten sie alle eine Überdosis Kokain intus. Sie benehmen sich wie die Mitglieder einer Encounter Group aus den Siebziger Jahren. Und natürlich gibt es jede Menge "Zeitkritik". Mal ertönt das Horst-Wessel-Lied, mal geht's gegen die Mercedesfahrer. So richtig schön kritisch.

Das Publikum reagierte während der Aufführung kaum. Manchmal gab es verstohlene Lacher - man wußte ja nicht, was nun ernst gemeint war und was sozusagen zum Lachen freigegeben. Der Schlußapplaus aber war heftig. Denn die Aufführung gilt als "vielbeachtet". Wer möchte sich da blamieren und sich als Banause zu erkennen geben, der diese hohe Kunst nicht zu würdigen weiß.



PS: Die Aufführung hatte einen großen Moment, ziemlich am Anfang, als Konfettikanonen schossen, Konfettischlangen fielen, farbige Scheinwerfer sozusagen aus vollen Rohren das Ganze illuminierten. Das war zwar nicht Theater, aber ein schönes Happening.

PPS: Wenn einer es kann, dann ist das "moderne Regietheater" manchmal grandios. Zadek zum Beispiel kann es. Sein "Othello", sein "Hamlet" haben sich auch manchmal weit von Shakespeare entfernt. Aber immer mit Bewunderung, mit Respekt für den Autor. Davon war bei Gotscheff kein Fitzelchen zu spüren.