21. Oktober 2012

Nach der Psychoanalyse jetzt die Somanalyse? Selbstbespiegelung mit dem Smartphone

Wer das aktuelle Kreuzworträtsel der "Zeit" gelöst hat, der weiß, daß - 10 waagerecht - "der Psyche Wohnsitz, seit alter Hellenen Zeiten" soma heißt, der Körper.

Seit rund hundert Jahren macht uns die Psychoanalyse das Angebot, in uns zu gehen und nach allen Regeln der Deutungskunst unsere Psyche zu erforschen. Jetzt scheint sich etwas Analoges für unseren Körper anzubahnen. Die zutreffende Bezeichnung für dieses nicht minder ehrgeizige Unternehmen wäre "Somaanalyse" oder, weil ein Doppelvokal oft getilgt wird, "Somanalyse".

Was ich damit meine, das können Sie gegenwärtig in FAZ.Net mit allen Details lesen. Der Artikel der Feuilleton-Redakteurin Melanie Mühl trägt den Titel "Das Handy wird zum Körperteil".

Nanu, dachte ich, als ich das las, das ist aber seltsam. Man weiß von Prothesenträgern, daß sie ihre Prothese als einen Körperteil wahrnehmen; daß sie also beispielsweise in ihrer subjektiven Wahrnehmung nicht die Prothesenhand bewegen, sondern mit dieser einen Gegenstand; ganz so wie mit einer biologischen Hand. Aber das Handy als Körperteil? Schon der Umstand, daß es den größeren Teil seiner Zeit mehr oder weniger fern vom Körper verbringt, macht das doch unwahrscheinlich.



Gemeint ist denn auch etwas Anderes: Die, wie es in dem Artikel heißt, "ostentative Selbsterkundung mit dem Smartphone". Genauer: Mit dessen Apps und Tools. Melanie Mühl:
Sie messen unseren Puls, unsere Lungen- und Herzfunktion, den Blutzuckerspiegel, wie viele Kalorien wir verbraucht haben, wie viele Schritte und Stufen wir gegangen sind und was das in Kilometer und Höhenmeter umgerechnet bedeutet. Sie messen, wie wir uns fühlen und wie produktiv wir sind. Ein "Neuroheadset", das die Gehirnströme aufzeichnet, kostet nur wenige hundert Euro. Die Liste ließe sich ins Endlose erweitern.
Keine Frage, daß sie sich erweitern ließe, diese Liste. Die Folgen dürften freilich nicht besser sein als diejenigen der Psychoanalyse.

Diese sei, hatte Freuds Wiener Zeitgenosse Karl Kraus geschrieben, "jene Geisteskrankheit, für deren Therapie sie sich hält". Da mag Kraus die Schmäh a bisserl überzogen haben, aber er trifft etwas Richtiges:

Das Maß an Selbstbeschäftigung, dieses jahrelange Kreisen um die eigene Person, das eine richtige Psychoanalyse beinhaltet, tut den meisten Menschen nicht tut. Es mag den Patientinnen Freuds gutgetan haben, die fast alle aus den begüterten Kreisen stammten und sonst wenig zu tun hatten. Für den tätigen Menschen ist es besser, sich mit der Welt und ihren Aufgaben zu befassen, als mit dem eigenen Selbst und seinen krausen Anfängen in den Kinderjahren.

Unsere Psyche ist von der Natur nicht dafür eingerichtet, um sich selbst zu kreisen; sozusagen im eigenen Seelensaft zu schmoren. Ebensowenig ist homo sapiens darauf programmiert, zu viel über den eigenen Körper zu wissen.



Unsere Sinnessysteme sind sehr gut darin, uns über die äußere Welt auf dem Laufenden zu halten. Dieses Wissen braucht der Mensch, will er überleben. Man muß sich orientieren, will man sich in der Welt bewegen. Man muß Objekte erkennen, um sie handhaben zu können; und so fort.

Es wimmelt in unserem soma aber auch von Sensoren, die ständig den Zustand des Systems selbst überprüfen - die beispielsweise den Sauerstoffgehalt des Bluts messen und seinen CO2-Gehalt; die unseren Blutdruck überwachen und den Dehnungszustand von Muskeln, auch den des Verdauungstrakts. Andere Sensoren ermitteln ständig, in welcher Lage und Stellung sich unsere Gliedmaßen gerade befinden, damit wir sie auch sachgerecht gebrauchen können.

Dieses ganze sehr komplexe System der Proprio- Intero- und Viszerozeption arbeitet überwiegend im Hintergrund; wie auch viele andere Systeme unseres Körpers, beispielsweise die Immunabwehr. Einen kleinen subklinischen Infekt merken wir in der Regel gar nicht; Lymphozyten, Killerzellen und die anderen Komponenten der Immunabwehr tun ihr Werk genauso unbemerkt wie das Virenschutzprogramm eines heutigen Computers.

Die Evolution hat es so eingerichtet, daß nur das an derartigen Meldungen, wie man sagt "bewußtseinsfähig" oder gar "bewußtseinspflichtig" ist, was unsere Aktion verlangt - Schmerzen beispielsweise, die auf eine zu versorgende Wunde hinweisen; Hunger und Durst. Unser Herz­minuten­volumen reguliert sich aber auch ohne unser Zutun; davon brauchen wir also nichts zu wissen.



Die Evolution hat uns nicht dafür geschaffen, unser Denken und Trachten nach Anleitung durch Meister Freud um unsere eigene Psyche kreisen zu lassen. Sie hat uns aber auch nicht dafür geschaffen, diese somatischen Überwachungssysteme aus dem Hintergrund hervorzuholen; so wie ein Nerd, der sich ständig anzeigen läßt, wie stark die Speicher seines Rechners von Minute zu Minute ausgelastet sind, wieviel von der Kapazität welchen Rechnerkerns für welche Task verbraten wird usw.; oder der sich ständig über die Arbeit seines Virenschutzprogramms informiert hält.

Das ist nicht gut. Eine Smartphone-gestützte ständige Beschäftigung mit dem eigenen Körper wird, je nach Disposition, einen Hypochonder oder einen Narziß hervorbringen. Lesen Sie einmal, wie das - beschrieben von Melanie Mühl - schon jetzt aussieht:
Inzwischen haben sich in mehr als zwanzig Ländern Quantified-Self-Gruppen zusammengeschlossen, auch in Deutschland. Ihre Mitglieder begreifen sich selbst als Forschungsvorhaben und kreisen um sich und ihre Befindlichkeiten, als läge ihr Körper pausenlos unter einem Mikroskop.
Geworben werde damit beispielsweise mit diesem Video:
Wir sehen einen smarten, leicht gebräunten Mann, der freundlich ins Publikum blickt und seinen kurzen Vortrag mit ein paar persönlichen Lebensdaten beginnt: Er sei vergangene Nacht um 0.45 Uhr ins Bett gegangen, einmal aufgewacht und schließlich um 6.10 Uhr aufgestanden. Seine Herzfrequenz betrug 61 Schläge pro Minute und so weiter. Wozu diese ganzen Zahlen dienten, fragt er, und gibt gleich die Antwort. Sie seien der Spiegel, der uns am Ende ein besseres Leben beschere.
Ehrlich gesagt, da lobe ich mir doch die Selbstbezogenheit derer, die sich liebevoll damit befassen, ihren Ödipuskomplex aufzuarbeiten.
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Titelseite von Julien Offray de La Mettries (1748) "L'homme machine"; Maschine Mensch. Für eine vergrößerte Version bitte auf das Bild klicken.