2. Oktober 2012

Marginalie: Welch Jammer, die Jugend von heute. Anmerkungen zu zwei aktuellen Wehklagen

Im aktuellen "Zeit-Magazin" beklagt Harald Martenstein das Verhalten der heutigen Jugend; der männlichen, genauer gesagt. Er schildert das Gespräch mit einem Kollegen:
Der Kollege sagte, sein Sohn schlafe meist bis zum frühen Nachmittag. Danach dusche er und setze sich an den Computer. Dort spiele er und chatte. Manchmal gehe er aus. Aber meistens sei er zu Hause. Er steht auf, er spielt, er isst, dann legt er sich wieder schlafen.
Dieser Kollegensohn ist Abiturient. Auch Martenstein hat einen Sohn, der Abiturient ist. Und siehe da, er ist nicht anders:
Ich sagte, dass mein Sohn sich eine neue Badehose kaufen möchte. Das Projekt, sich eine Badehose zu kaufen, verfolgt er seit nunmehr acht Wochen. Er hat keine Zeit. Nein, er hat keine Energie. Es ist, als ob jemand den Stecker herausgezogen hätte aus dieser Generation von Jungs.
Woran liegt's? Martenstein überlegt mit dem Kollegen hin und her. Vielleicht an der Abschaffung der Wehrpflicht und damit auch des verpflichtenden Zivildienstes. Das halten sie, der Kollege und Harald Martenstein, für das Wahrscheinlichste.



Im aktuellen gedruckten "Spiegel" findet man Zitate von Hochschullehrern, die sich über ihre Studenten äußern. Beispielsweise so:
Eine wachsende Gruppe von Studierenden ist den Anforderungen des von ihnen gewählten Studiengangs intellektuell nicht gewachsen.
Oder, konkreter:
Konjunktive schwinden aus den schriftlichen Arbeiten ebenso wie zunehmend alle Zeitformen jenseits des Präsens.
Und:
Das Wagnis, ein komplexeres Satzbaugefüge zu bilden, endet regelmäßig in peinlichen Niederlagen.
Diese und etliche ähnliche Äußerungen stehen in dieser "Spiegel"- Ausgabe (Heft 40/2012 vom 1. 10. 2012, Seite 48) in einem Kasten zu einem Interview mit dem Bayreuther Germanisten Gerhard Wolf, der diese Umfrage unter seinen Kollegen durchgeführt hat und sie so kommentiert:
Die Defizite liegen vor allem in der Sprach-, Lese- und Schreibkompetenz, das haben alle Kollegen genannt. Damit gemeint sind Rechtschreibung, Grammatik, Syntax, Interpunktion, der Umgang mit den Tempora und der Wortschatz. Beim Lesen erfassen viele die Aussage eines längeren Textes nicht. Beim Schreiben und Sprechen können viele Studenten ihre eigenen Gedanken und Argumente nicht richtig ausdrücken.



Was ist von solchen Klagen zu halten?

Vielleicht winken Sie müde ab: Das kennen wir doch. Klagen über die Inkompetenz der "Jugend von heute", über ihren allgemeinen Niedergang im Vergleich zu Eltern und Großeltern durchziehen ja schließlich die Kulturgeschichte.

Eine Zusammenstellung von Zitaten aus vier Jahrtausenden finden Sie hier; das älteste soll ein Keilschrifttext aus Ur in Chaldäa sein, verfaßt um rund 2000 v. Chr., der auf Deutsch so lauten soll:
Unsere Jugend ist heruntergekommen und zuchtlos. Die jungen Leute hören nicht mehr auf ihre Eltern. Das Ende der Welt ist nahe.
Aristoteles wird dies zugeschrieben:
Ich habe überhaupt keine Hoffnung mehr in die Zukunft unseres Landes, wenn einmal unsere Jugend die Männer von morgen stellt. Unsere Jugend ist unerträglich, unverantwortlich und entsetzlich anzusehen.
Viele dieser kursierenden Zitate sind wohl ein wenig apokryph; man findet sie so nicht wörtlich in den Werken des betreffenden Autors. Aber se non è vero, è ben trovato - wenn auch nicht wahr, ist es gut erfunden. Daß die Klagen über die Jugend ein altehrwürdiges Phänomen sind, das dürfte schon wahr sein.

Warum? Es mag da verschiedene Gründe und Motive geben.

Erstens Gedächtnisschwund. Die Alten verklären ihre eigene Jugend und messen dann die junge Generation an diesem Idealbild. Wer einmal auf die Schulzeugnisse seiner Eltern gestoßen ist, der staunt oft; angesichts der oral history, die ihm zu diesem Thema überliefert worden war.

Zweitens ein Stichprobenfehler. Man tendiert dazu, mehr auf das Auffällige zu achten als auf das Häufige. Die vielen ordentlichen, fleißigen und wißbegierigen Jugendlichen entgehen dem Blick; aber auf diejenigen, die einen stören und ärgern, richtet er sich. Harald Martenstein schildert uns Erfahrungen mit genau zwei jungen Männern, die ihn besorgt machen. Eine doch etwas schmale Stichprobe, wenn man zu verallgemeinern wünscht.

Zum Dritten geht Lebenserfahrung damit einher, daß sich Werte und damit Wertmaßstäbe ändern. Der Ältere hat gelernt, wie wichtig solides Wissen ist; daß Formalien eben nicht "nur Formalien" sind, sondern der Grundpfeiler jeder Kultur. Als Jugendlicher hatte man das selbst einst nicht eingesehen; aber nun tadelt man als ein Manko junger Leute, daß diese es partout nicht einsehen wollen. Daß sie also locker sind; früher sagte man nonchalant.

Die etwas schlaffen Söhne von Martenstein und seinem Kollegen hätte man vielleicht "verbummelt" genannt; der verbummelte, der "ewige" Student (Karl May hat ihm in "Der blaurote Methusalem" ein Denkmal gesetzt) gehörte zu den Attraktionen jedes Universitätsstädtchens.

Generation nach Generation wurde diese Lebenshaltung getadelt und mit Begriffen belegt: Vom "Bohémien" über den "Gammler" bis zur "Null-Bock-Generation". Der schöne Film "Zur Sache, Schätzchen" (1968) hat diesen Typ trefflich in Szene gesetzt. Gespielt hat diese schlaffe Gestalt Werner Enke, der zu schlaff war, um danach ein Star zu werden.

Und viertens - das ist vermutlich der wichtigste Aspekt - ändert sich von Generation zu Generation das, was als wissenswert, was als das zu Beherrschende gilt.

Im 19. Jahrhundert war es nicht selten, daß ein Schüler die Abiturrede auf Latein hielt. Das eigentliche, das richtige Gymnasium war das humanistische; selbst der ordentlich gebildete Ingenieur oder Naturwissenschaftler war firm in den alten Sprachen und in klassischer Philosophie und Literatur. Die anderen, die nichthumanistischen Gymnasien trugen oft nicht einmal diese Bezeichnung, sondern mußten sich mit "Oberrealschule" oder "Oberschule" zufriedengeben.

Dann wurden die Naturwissenschaften immer wichtiger. Heute gelten die Gesellschaftswissenschaften als besonders wichtig. Kommunikation ist es, was heute ein junger Mensch beherrschen muß; deren Technik und vor allem auch deren soziale Techniken. Er hat, wie man es heute gern sagt, andere "Kompetenzen" nötig als ein junger Mensch vor dreißig, sechzig oder neunzig Jahren (damals waren es, nebenbei gesagt, Minister und Beamte, die "Kompetenzen" hatten).



Und doch, und doch. Auch wenn man alle diese berechtigten Einwände, diese relativierenden Gesichtspunkte berück­sichtigt, bleibt eine Besorgnis; bleibt eine Kritik an der heutigen jungen Generation, die mir nicht unberechtigt erscheint. Eine Kritik nicht im moralischen Sinn; Generationen sind nun einmal so, wie die Umstände sie formen. Aber eben eine Besorgnis. Ich könnte auch sagen: Ein Kopfschütteln.

Es gibt Kulturelles, das nicht zur Disposition steht. Dazu gehört an erster Stelle die Sprache; denn sie ist - neben dem Bildlichen, neben den Monumenten und der Musik - das Medium von Kultur. Ohne die Pflege der Sprache kann es keine Kultur geben.

Das ist unverzichtbar. Es ist unveräußerlich. Es steht nicht zur Disposition einer jungen Generation; es sei denn, man will den Niedergang der eigenen Kultur.

Die Beispiele, die der Germanist Wolf von seinen Kollegen genannt bekam, stammen größtenteils aus dem Bereich der Beherrschung der eigenen Sprache; hier also ihrer Nichtbeherrschung. Andere Beispiele konnten Sie kürzlich in ZR lesen (Zettels Meckerecke: Das Germanistikstudium und der Duden. Studieren im Wolkenkuckucksheim; ZR vom 30. 5. 2012).

Zumal dann, wenn angehende Deutschlehrer die Sprache nur mangelhaft beherrschen, die sie doch einmal lehren sollen, ist Schluß mit dem Relativieren und Verstehen. Wer kein Deutsch kann, der darf eben nicht Deutschlehrer werden. Man würde ja jemanden, der am Reck hängt wie ein nasser Sack und dem nach fünfzig Metern Gehen die Puste ausgeht, auch nicht Sport studieren lassen.
Zettel



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