13. August 2012

Marginalie: Morsi macht sich zum unumschränkten Machthaber. Der Machtkampf in Ägypten geht in seine entscheidende Phase. Morsis Erlaß im Wortlaut

Schneller als erwartet bewegt sich der Machtkampf in Ägypten auf eine Entscheidung zu.

Was Präsident Morsi gestern unternommen hat, ist nicht weniger als ein Putsch von oben.

Der bisherige Machthaber im Hintergrund, der Vorsitzende der Militärjunta SCAF (Supreme Council of the Armed Forces, Oberster Militärrat), Feldmarschall Mohammed Hussein Tantawi, wurde von Morsi aller seiner Ämter enthoben; er war in Personalunion Verteidigungsminister und Oberkomman­dierender der Streitkräfte gewesen. Ebenfalls entlassen wurde Generalstabschef Sami Anan, der als der wahrscheinliche Nachfolger des 76jährigen Tantawi gegolten hatte.

Zugleich hat Morsi selbstherrlich die Verfassung geändert und sich selbst unbeschränkte Rechte gegeben. Er hat damit - sollte er durchkommen - die Möglichkeit, schon in den kommenden Monaten Ägypten zu einem Staat der Moslem-Bruderschaft umzugestalten.

Den Text von Morsis gestriger "Verfassungserklärung" kann man bei Al Ahram lesen. Er lautet (Erläuterungen von mir auf der Grundlage der Anmerkungen von Al Ahram):
1- The 17 June 2012 constitutional addendum is to be abrogated.

2- Article 25, clause 2 of the 30 March 2011 Constitutional Declaration is to be replaced with the following text: "And he will undertake all his duties as stipulated by Article 56 of this declaration."

3- If the Constituent Assembly is prevented from doing its duties, the president can draw up a new assembly representing the full spectrum of Egyptian society mandated with drafting a new national charter within three months of the assembly's formation. The new draft constitution is to be put before a nationwide referendum within 30 days after it is written. Parliamentary elections are to be held within two months of the public’s approval of the draft constitution.

4- This new Constitutional Declaration is to be published in Egypt's official gazette and will be put into effect the following day.

1. Der Verfassungzusatz vom 17. Juni 2012 wird aufgehoben. [Dieser hatte die Macht des Präsidenten durch Vorbehaltsrechte des SCAF vor allem im Bereich der Verteidigung eingeschränkt.]

2. Artikel 25, Absatz 2 der Verfassungserklärung vom 30. März 2011 wird durch den folgenden Text ersetzt: "Und er [der Präsident] erfüllt alle seine Pflichten gemäß Artikel 56 dieser Erklärung". [In Artikel 56 hatte sich im März 2011, also nach dem Sturz Mubaraks, der SCAF selbst alle exekutiven und legislativen Rechte übertragen. Sie hat sich jetzt Morsi angeeignet. Er herrscht damit seit gestern mit diktatorischen Vollmachten.]

3. Wenn die Verfassungsgebende Versammlung an der Erfüllung ihrer Pflichten gehindert wird, kann der Präsident eine neue Versammlung ernennen, die das gesamte Spektrum der ägyptischen Gesellschaft repräsentiert und die das Mandat hat, innerhalb von drei Monaten nach ihrer Einberufung eine neue Nationalcharta zu entwerfen. Dieser Verfassungsent­wurf wird innerhalb von 30 Tagen nach seiner Erstellung einem nationalen Referendum vorgelegt. Nach der Annahme des Verfassungsentwurfs finden innerhalb von zwei Monaten Parlamentswahlen statt.
[Bisher war vorgesehen gewesen, daß die Verfassung von den im Januar dieses Jahres gewählten Abgeordneten erstellt wird; diese hatten dafür ein Verfassungskommittee gebildet. Morsi will es durch von ihm selbst ernannte Mitglieder einer Verfassungs­gebenden Versammlung ersetzen.]

4. Diese neue Verfassungserklärung wird im ägyptischen Staatsanzeiger veröffentlicht und tritt am darauffolgenden Tag in Kraft.
Offenbar will Morsi den blutigen Zwischenfall auf dem Sinai nutzen, um schon jetzt die Machtfrage im Sinn der Moslem-Bruderschaft zu entscheiden.

Die New York Times schreibt dazu heute: "Mr. Morsi’s aggressive steps on Sunday contrasted sharply with his lackluster image before he became president"; Morsis aggressive Schritte am gestrigen Sonntag stünden in scharfem Kontrast zu seinem kraftlosen Image, bevor er Präsident wurde.

Aber das sind bei den Moslembrüdern nur zwei Seiten derselben Strategie, die sie von kommunistischen Bewegungen übernommen haben: Solange sie nicht an der Macht sind, geben sie sich gemäßigt und kompromißbereit, suchen Bündnisse und versprechen demokratische Freiheiten für alle. Sobald sie sich stark genug fühlen, die Machtfrage zu stellen, suchen sie die Entscheidung.

Daß Morsi das tut, ist also nicht überraschend. Erstaunlich ist allerdings, daß er sich schon jetzt stark genug fühlt, die Machtfrage zu entscheiden.­

Wie wird sich das Militär verhalten? Es umfaßt viel mehr als nur klassische Streitkräfte, nämlich einen Staat im Staate, der Wirtschaftsunternehmen betreibt und eine eigene Infrastruktur hat. Das Interesse des Militärs dürfte es vor allem sein, die damit verbundenen Privilegien nicht zu verlieren. Gibt Morsi entsprechende Zusagen, dann werden sich die Militärs möglicherweise damit abfinden, daß die politische Macht künftig ausschließlich bei der Moslem-Bruderschaft liegen soll.



Zu den Hintergründen der jetzigen Entwicklung siehe die Serie Aufruhr in Arabien sowie diese Artikel:
Marginalie: Ägypten hat gewählt. Vermutlich 62 Prozent der Abgeordneten sind Islamisten; ZR vom 8. 1. 2012

Marginalie: In Ägypten übernimmt der Militärrat wieder die Macht. Die Islamisten müssen um ihre Vorherrschaft fürchten; ZR vom 14. 6. 2012

Marginalie: In Ägypten sieht es nach einem ganz knappen Sieg Morsis aus; ZR vom 18. 6. 2012

Marginalie: In Ägypten bereiten die Sicherheitskräfte den Schutz koptischer Kirchen vor. Siegt Shafiq, werden Ausschreitungen erwartet; ZR vom 21. 6. 2012

Eilmeldung: Morsi zum Wahlsieger in Ägypten erklärt; ZR vom 24. 6. 2012
Zettel



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