5. August 2012

Marginalie: Zu wenige Migranten sind ein wesentlicher Grund für die Euro-Krise

In einem lesenswerten Artikel in der heutigen F.A.S. beschreibt Winand von Petersdorff-Campen, stellvertretender Leiter des Wirtschaftsressorts, einen Sachverhalt, der dem ökonomischen Laien auf den ersten Blick wenig einsichtig erscheinen mag: Eine wesentliche Ursache für die Krise des Euro ist, daß es im Euroraum zu wenige Migranten gibt.

Warum gibt es diesen Zusammenhang? Wenn man die jetzige Krise verstehen will, dann sollte man fragen, auf welchen falschen Prognosen die Einführung des Euro basierte.

Denn diejenigen, die verantwortlich waren für die Entwicklung hin zum Vertrag von Maastricht 1992, waren ja keine Hasardeure. Sie waren auch nicht ohne ökonomischen Sachverstand; mindestens hatte sie kompetente Berater. Aber sie machten falsche Prognosen oder vertrauten ihnen.

Daß die Einführung des Euro ein Risiko war, wußten alle. Aber man sah es als vertretbares Risiko an. Zwei der prominentesten Skeptiker in der jetzigen Krise, Thilo Sarrazin und Hans-Werner Sinn, räumen freimütig ein, daß sie bei der Einführung des Euro an dessen Erfolg geglaubt hatten. Sarrazin schreibt das in seinem Buch, und Sinn hat es beispielsweise in einem kürzlichen Interview gesagt (siehe Volkswirtschaft, verständlich erklärt: Hans-Werner Sinn zur Eurokrise; ZR vom 7. 7. 2012; sowie "Wie Goethes Zauberlehrling". Thilo Sarrazin erklärt die Euro-Krise; ZR vom 17. 7. 2012).

Die Risiken waren bekannt gewesen: Solange jedes Land seine eigene Währung hat, kann es bei Bedarf seine Wettbewerbsfähigkeit verbessern, indem es seine Währung abwertet. Die Einheitswährung versperrt diesen Ausweg. Und solange Staatsanleihen in der Landeswährung ausgegeben wurden, machte eine unsolide Haushaltspolitik diese riskant und führte damit zu höheren Zinsen, was die Staatsverschuldung automatisch bremste. Staatsanleihen in Euro galten hingegen lange als sicher, so daß sie auch dann noch niedrig verzinst wurden, wenn die betreffenden Länder unsolide wirtschafteten.

Als man dachte, diese Risiken beherrschen zu können, spielte eine wesentliche Rolle das Beispiel des US-Dollar. Der Wirtschaftsraum, in dem er gilt, ist ähnlich heterogen wie die EU. Warum sollte also nicht auch der Euro trotz der bekannten Risiken funktionieren?

Man hatte drei entscheidende Randbedingungen nicht hinreichend gewürdigt, die Ende vergangenen Jahres der Harvard-Ökonom Martin Feldstein dargelegt hat (siehe Warum funktioniert die Einheitswährung Dollar, aber nicht die Einheitswährung Euro? Drei Faktoren; ZR vom 6. 12. 2011):
  • Die Staaten der USA sind durch ihre Verfassungen verpflichtet, ausgeglichene Haushalte vorzulegen. Schulden dürfen nur für Infrastruktur-Maßnahmen gemacht werden.

  • Die USA sind faktisch ein einziger Arbeitsmarkt. Wenn irgendwo die Arbeitslosigkeit steigt, dann wandern zahlreiche Arbeitnehmer dorthin, wo es Arbeit gibt. Das wirkt hoher regionaler Arbeitslosigkeit entgegen.

  • Die Staaten der USA bilden eine Transferunion; und zwar dadurch, daß die Steuern überwiegend an die Zentralregierung in Washington gehen. Aus wirtschaftlich schwachen Staaten kommen weniger Steuern, aber sie profitieren stärker von Hilfen der Bundesregierung. Wohlstandsgefälle werden dadurch tendenziell augeglichen.
  • Diese dritte Randbedingung wollte man bei der Einführung des Euro nicht und konnte sie nicht wollen; denn sie hätte die weitgehende Aufhebung der nationalen Souveränität bedeutet.

    Die zweite dieser Randbedingungen bildet man durch die Maastricht-Kriterien nach: Die Staatsverschuldung sollte durch sie so unter Kontrolle gehalten werden, wie in den US-Staaten durch deren Verfassungen.



    Was die dritte Randbedingung angeht, so war man einfach voller Hoffnung: Man erwartete, daß mit dem Abbau von rechtlichen Hindernissen in der EU eine freie Mobilität der Arbeitskräfte einsetzen würde. Wenn jeder Bürger des Euro-Raums in jedem Land dieses Raums arbeiten kann - dann würden eben die Menschen aus Krisenländern mit hoher Arbeitslosigkeit dorthin ziehen, wo es Arbeit gibt; so, wie das in den USA der Fall ist. Von Petersdorff-Campen:
    Für die Erbauer der Eurozone aber war die Mobilität des "Faktors Arbeit" von vitaler ökonomischer Bedeutung - als Krisenpuffer. Die gesamte Eurozone baute auf diese Mobilität, Brüssel versuchte sie mit zahllosen Initiativen zu beflügeln, berichtet Ökonom und Migrationsexperte Klaus Zimmermann. Denn Migration ist die Voraussetzung für einen "optimalen Währungsraum", wie die Ökonomen sagen.

    Nicht nur die Ökonomen sahen bei der Einführung des Euros eine große Gefahr: Seitdem können einzelne Länder in der Krise nicht mehr für sich abwerten, um so wieder zu erstarken. Regionale Wirtschaftskrisen sind die zwangsläufige Folge. Als Hoffnung bleibt den Krisenopfern, so die Vorstellung, die Auswanderung in ein stärkeres Euroland. So weit die Idee.
    Die Wirklichkeit aber hielt sich nicht an die Idee.

    Was mit der Einführung des Euro passierte, das war das Gegenteil: Gastarbeiter kehrten in ihre Heimatländer zurück; angezogen von dem trügerischen Boom, den die Einführung des Euro in diesen Ländern zunächst mit sich brachte. Man erwartete eine Angleichung der Lebensverhältnisse - also konnte man diese auch in der Heimat genießen. Die Folge nennt der Autor "skurril": "In einer der freizügigsten Regionen der Welt kam die zwischenstaatliche Mobilität von Arbeitskräften fast zum Erliegen".

    Daran hat sich bis heute wenig geändert. Im Jahr 2010 sind in den USA 2,4 Prozent der Einwohner in einen anderen Bundesstaat umgezogen. Im selben Jahr zogen in der EU 0,3 Prozent in ein anderes Land.

    Auch in der jetzigen Krise ist die Mobilität noch immer gering, wenn auch etwas erhöht. Zum einen, meint von Petersdorff-Campen, liegt das an der Hoffnung, daß es auch im eigenen Land bald wieder besser werden wird: "Wenn die Europäische Union die Krisenländer raushaut, lohnt sich für manchen potentiellen Migranten das Warten".

    Und zum anderen sind die Barrieren noch immer hoch; vor allem die sprachlichen. Viele Spanier wandern deshalb lieber in ein spanischsprachiges Land aus, und Portugiesen beispielsweise nach Brasilien.



    Von Feldsteins drei Randbedingungen erfüllt also der Euro-Raum keine einzige:

    Die Mobilität der Arbeitskräfte ist weiter gering.

    Die Maastricht-Kriterien wurden und werden nicht eingehalten.

    Bleibt die Transferunion, die man gerade nicht gewollt hatte. Jetzt erscheint sie vielen als der einzige Ausweg, der den Euro noch retten könnte. Fragt sich nur, ob die Europäer sie wollen (siehe Souveränitätsübertragung an Brüssel durch Referenden? ; ZR vom 4. 8. 2012).­
    Zettel



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