17. August 2012

Mythos Herdtemperatur. Drei, vier Stufen sind genug


Demnächst werde ich einmal wieder eine Zucchinitarte backen. Ein sehr schönes Gericht in seiner italienischen Verbindung aus Zucchini, Knoblauch, getrockneten Tomaten, Pinienkernen und Pecorino.

Aber kann ich das überhaupt?

Streng genommen kann ich es nicht. Denn gebacken werden soll die Tarte laut Rezept bei 160 Grad Umluft. Unser Herd läßt sich aber nur auf 150 und dann gleich 165 Grad stellen. Wie soll die Tarte da gelingen?

Natürlich gelingt sie. Bei 150, bei 165 und auch bei 180 Grad. Denn genaue Herdtemperaturen sind ein Mythos. Sie sind weder erforderlich, noch sind sie in normalen Küchenöfen überhaupt erreichbar.

Kürzlich hat darüber in Slate Brian Palmer aufgeklärt; ein verdienstvoller Journalist, der als der Explainer, der "Erklärer" Fragen von Lesern beantwortet. Auf einem hohen Niveau, nach gründlichen Recherchen. Ich habe ihn gelegentlich lobend erwähnt (siehe zum Beispiel Warum ist Europa so schlecht? Eine Antwort aus den USA; ZR vom 10. 6. 2011; sowie "Spiegel-Online" und die zitternden Kandidaten Romney und Santorum; ZR vom 5. 1. 2012).



Daß man überhaupt die Temperatur eines Herdes einstellen kann, schreibt Palmer, ist eine moderne Erfindung; erst wenige Jahrzehnte alt. Sie war eine der Errungenschaften in dem technologischen Schub nach dem Zweiten Weltkrieg. Erstaunlicherweise konnte man aber auch zuvor schon hervorragend in den Öfen der Herde backen, braten und schmoren; obwohl man bis dahin nur sehr schlechte Kontrolle über die Temperaturen in ihrem Inneren hatte.

Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts war ein Backofen ein gemauerter oder eiserner Raum, den man so gut erhitzte, wie es ging - durch glühende Kohlen, mittels Brennholz. Ob darin die richtige Hitze war, stellte man durch grobe Tests fest. Der Bäcker beispielsweise warf eine Handvoll Mehl in den Ofen. Wurde es dunkel, ohne Feuer zu fangen, dann hatte der Ofen die richtige Temperatur zum Brotbacken. Noch beliebter war die heroische Methode, die Backtemperatur zu prüfen, indem der erfahrene Bäcker seinen Arm in den Backofen hielt. Wenn er das aushielt, während er bis dreißig zählte, war der Ofen noch nicht heiß genug.

Wenn man sich alte Kochbücher ansieht - etwa das von Henriette Davidis -, dann findet man dort keine genauen Temperaturangaben. Kaninchen werden im "heißen Ofen" gebraten, Pasteten bei "Mittelhitze" gebacken; ein Auflauf kommt in den "mäßig geheizten Ofen".

"Mäßig warm", "Mittelhitze" und "heiß" - das waren die Kategorien; englisch slow, moderate und hot. Was das bedeutete, dafür vermittelte der angehenden Köchin ihre Mutter ein Gefühl; oder beim wem immer sie das Kochen erlernte.

Erst mit dem Aufkommen von Gasherden und elektrischen Herden konnte man genauer werden. Aber auch diese hatten lange Zeit keine Temperaturangaben, sondern "Stufen". Der Gasherd hatte oft acht Stufen, in England und den USA auch zehn; beim Elektroherd war das von Marke zu Marke verschieden.

Die Gerichte gelangen auch so bestens. Kein Wunder - denn die Temperatur ist eben längst nicht so kritisch, wie das jemand glaubt, der sich Sorgen macht, weil sein Herd nur auf 165, aber nicht auf 160 Grad einstellbar ist.

Auch bei den heutigen Thermostat-Herden ist die Einhaltung einer konstanten Temperatur im Backofen ein Mythos. Der Thermostat legt einen bestimmten Bereich fest, mehr nicht. Ein Ofen, den man auf 165 Grad einstellt, ist manchmal 155 Grad warm und manchmal 175 Grad - vorausgesetzt, der Thermostat ist gut geeicht, was die wenigsten sind.

Brian Palmer zitiert den vielgelesenen Kochbuchautor Mark Bitman, der es für ausreichend hält, bei einem Rezept eine von vier Stufen anzugeben - geringe Hitze (unter 135° C), mäßige Hitze (zwischen 135° und 180°), starke Hitze (zwischen 180° und 220°) und größte Hitze (über 220°).

Im übrigen solle man nachsehen, wie es dem Backgut geht. Ich kann das aus meiner Erfahrung nur bestätigen. Eine wichtigere Errungenschaft als der Thermostat sind meines Erachtens Ofenbeleuchtung und Glasfenster, durch die man dem Gang der Dinge folgen kann, ohne jeweils die Ofentür öffnen zu müssen.

Wobei einem dann früher erst einmal ein Schwall Heißluft entgegenkam, der es dem Brillenträger schwer machte, das Brat- oder Backgut überhaupt zu inspizieren. Das ist heute Geschichte. Wer Zeit hat, der kann sich vor seinen Ofen setzen und zusehen, wie beispielsweise die Zucchinitarte sich wunderbar bräunt, bis sie genau die richtige Oberflächen­gestalt gewonnen hat. Dann ist sie gut.­
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelbild: Herd aus der Sammlung Jaske in Bawinkel. Vom Autor Willy Horsch in die Public Domain gestellt (bearbeitet). Mit Dank an SG.