30. Januar 2013

Sieben Jahre als Deutscher in Mali – Erfahrungen und Folgerungen (1): Vorboten der jetzigen Krise / Ein Gastbeitrag von Diarra

Im Jahr 2010 feierte Mali 50 Jahre Unabhängigkeit von Frankreich. Dazu gab es das ganze Jahr über viele Feiern und Gedenkveranstaltungen, und zum ersten Mal in der noch jungen Geschichte der unabhängigen Republik fand am am 22. September 2010 eine Militärparade mit allen Waffengattungen statt. Noch Wochen später zeigte das staatliche Fernsehen ORTM Wiederholungen dieser Parade und der vielen Zeremonien und Gedenkveranstaltungen. Alle blickten stolz auf die zurückliegenden 50 Jahre zurück, denn schließlich galt Mali als ein Hort für Sicherheit und Demokratie in Westafrika.

Wer damals genauer hinsah, wunderte sich zwar darüber, dass Libyens Revolutionsführer Gaddafi bei der Militärparade am 22. September den Ehrenplatz neben Präsident Amadou Toumani Touré einnahm und dass die Parade erst begann, als Gaddafi Platz genommen hatte, während die anderen Ehrengäste, darunter viele afrikanische Präsidenten und Diplomaten, schon lange gewartet hatten. Doch keiner wollte angesichts der positiven Entwicklung, die Mali ja ganz offensichtlich genommen hatte, an solch einem Feiertag kleinlich sein und sich darüber beschweren, dass ein Diktator vom Präsidenten einer "Musterdemokratie" hofiert und bevorzugt wurde.

Im Januar 2012 lud die Deutsche Botschaft in Bamako alle in Mali lebenden Deutschen zu einer Feier ein. Anlass war die Zusammenarbeit zwischen Mali und Deutschland im Bereich der Entwicklungshilfe, die zu diesem Zeitpunkt seit 50 Jahren bestand. Auch dies war eine schöne Feier mit vielen Reden und einem positiven Ausblick auf die Zukunft. Ehrengast sollte eigentlich der damalige Bundespräsident Christian Wulff sein, der zu diesem Zeitpunkt aber schon mit Vorwürfen in Deutschland zu kämpfen hatte und daher absagen musste. An seiner Statt kam Bundestagspräsident Norbert Lammert, immerhin zweithöchster Repräsentant der Bundesrepublik Deutschland. Norbert Lammert hielt eine kleine Rede, in der er die gute Zusammenarbeit lobte und darauf hinwies, dass deutsche Entwicklungshilfe ganz entscheidend zur positiven Entwicklung Malis beigetragen habe.

Wer damals genauer hinsah, wunderte sich zwar, dass Norbert Lammert am nächsten Tag Timbuktu besuchen wollte. Immerhin hatte es zu diesem Zeitpunkt im Norden Malis schon viele Überfälle auf Militärkasernen und Entführungen von Touristen durch die Tuareg-Rebellen gegeben. Erst wenige Wochen zuvor war ein deutscher Tourist in Timbuktu erschossen worden, weil er sich geweigert hatte, in das Auto der Entführer einzusteigen. Aber wer wollte angesichts der erfolgreichen Entwicklung Malis und der guten und langjährigen deutsch-malischen Zusammen­arbeit im Bereich der Entwicklungshilfe schon kleinlich sein. Es würde schon alles irgendwie wieder gut werden.

Heute, Ende Januar 2013, gibt es keine Feiern mehr in Mali, sondern Krieg. Und viele wundern sich, wie aus einer "Musterdemokratie" und einem "gelungenem Beispiel für Entwicklungshilfe" innerhalb weniger Monate ein failed state werden konnte. Was ist da falsch gelaufen?

Ich möchte behaupten: Wer sich heute wundert, hat vorher nicht genau hingeschaut. Oder schlimmer noch, er hat bewusst weggeschaut.



Ich habe von 2004 bis 2008 und wieder von 2009 bis 2012 in Mali gelebt und gearbeitet. Meine drei Kinder sind in Mali geboren, und wir haben als Familie dieses wunderbare Land und seine liebenswerten Menschen sehr intensiv kennen und schätzen gelernt. Im April 2012 mussten wir das Land fluchtartig verlassen. Wir haben bei der Flucht nicht nur unseren ganzen Hausstand, viele Bücher und persönliche Wertgegenstände zurückgelassen, sondern ein Stück unseres Herzens. Mittlerweile lebe ich mit meiner Familie in Weimar / Thüringen und arbeite auch hier.

Um die Frage, was in Mali falsch gelaufen ist, zu beantworten, kann ich keine wissenschaftliche Analyse der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Hinter­gründe der jetzigen Krise liefern, sondern nur berichten und erzählen, wie ich es erlebt habe. Daraus ziehe ich Schlüsse, die natürlich subjektiv sind, die aber trotzdem helfen können zu verstehen, warum heute Franzosen in Mali gegen Algerier kämpfen und der malische Staat im eigenen Land nur Zuschauer und Leidtragender ist.

Über die Hintergründe des aktuellen Konflikts ist mittlerweile einiges geschrieben worden. Ich möchte das, was bereits bekannt und veröffentlicht wurde, in dieser Serie nicht wiederholen und auch nicht kommentieren. Nur einen Punkt möchte ich erwähnen:

Es wird oft geschrieben, dass der Putsch im März 2012 zu einem Machtvakuum im Norden geführt habe, ein Machtvakuum, das die Islamisten dann ausgenutzt hätten, um weiter vorzudringen. Dabei sollte bedacht werden, dass das Machtvakuum im Norden (Timbuktu, Gao, Kidal) schon länger bestanden hatte und der malische Staat dort nur noch pro forma präsent gewesen war. Und gerade weil dadurch die Islamisten immer weiter vordringen konnten, haben mittlere und untere Ränge der Armee gegen den Präsidenten geputscht, den sie als untätig und unwillig erlebt hatten.

In der gesamten Zeit, in der ich in Mali gelebt habe, war von Entführungen, Überfällen und Aktionen der Tuareg-Rebellen und zunehmend auch von Islamisten die Rede. Der malische Staat war nicht in der Lage, dem Einhalt zu gebieten. Im Gegenteil nahm der Aufstand der Rebellen immer mehr zu.

Viele Malier behaupten, dass die Armee und die politische Klasse nicht wirklich hätten kämpfen wollen, da sie gut am Drogenhandel verdienten, der in der Region floriert. Drogen aus Südamerika werden dort zwischengelagert, portioniert und dann weiter nach Europa transportiert. Daran verdienen viele mit.

Der Norden Malis war schon seit vielen Jahren auf Grund der hohen Entführungsgefahr für Weiße eine no-go-area; zunehmend auch für die Malier selbst. Aufgrund der islamistischen Bedrohung galt das ganz besonders für malische Christen. Der Staat war nicht präsent und immer weiter auf dem Rückzug; ob nun gewollt oder von den Rebellen erzwungen, sei dahingestellt.

Dass die Armee ihre Soldaten völlig unzureichend vorbereitet und ausgerüstet in diesen Konflikt hineingeschickt hat, brachte das Fass zum Überlaufen. Trotz aller Unzufriedenheit war der Putsch im März 2012 aber wohl nicht langfristig geplant gewesen, sondern er geschah eher zufällig. Als der malische Verteidigungsminister das Hauptquartier in Kati besuchte, wurde er von unzufriedenen und wütenden Soldaten mit Steinen beworfen. Nachdem er geflüchtet war, bemächtigten die Soldaten sich eines Waffenlagers, fuhren in die etwa 30 Kilometer entfernte Hauptstadt Bamako, ballerten ein wenig in der Luft herum und besetzten dann den staatlichen Rundfunk ORTM.

Ihren ersten Presseerklärungen merkte man noch die Verwunderung darüber an, dass sie nun die neuen Herren im Land waren. Da sie aber einen breiten Rückhalt in der Bevölkerung hatten, die gleichfalls wütend auf den Präsidenten und seine Administration war, konnten sich die Putschisten konsolidieren. Die politische Klasse, der auch die Armeeführung angehörte und die sich bereits auf einen Nachfolger für Präsident Amadou Toumani Touré geeinigt hatte, dessen zweite Amtszeit im April 2012 enden sollte, war kaltgestellt.

Damit war das Machtvakuum im Norden perfekt geworden. Eine ohnehin schwache Armee war nun zusätzlich gespalten. Vorhanden gewesen aber war dieses Machtvakuum auch schon vor dem Putsch. Nicht erst der Putsch schuf ein Machtvakuum, das ein Vordringen der Islamisten ermöglichte. Sondern diese waren umgekehrt in ein bereits bestehendes Machtvakuum hineingestoßen. Durch den Putsch wurde diese Situation lediglich offengelegt und dann allerdings verstärkt, als sich die malische Armee schnell zurückzog und Teile zu den Rebellen überliefen.




Während die eher säkular geprägten Tuareg "nur" das Gebiet nördlich einer Linie Duentza (Region Mopti) – Gao beanspruchten und dieses Gebiet in "Azawad" umbenannten, ließen die Aktivitäten der Islamisten von Anfang an erkennen, dass sie ganz Mali unterwerfen wollten.

Bereits vor einem Jahr waren sie über Duentza und Konna (60 km nordöstlich von Mopti) hinaus aktiv. Am Tag unserer Flucht aus Ségou Anfang April 2012 wurde mir von einem malischen Kollegen aus Sévaré bei Mopti bestätigt, dass es in der Nacht zuvor einen Überfall auf eine der Kasernen in Sévaré gegeben habe und 10 malische Soldaten bei diesen Kämpfen getötet worden seien. Solche Vorfälle sind meines Wissens mehrfach vorgekommen. Die Islamisten haben von Anfang an einzelne Vorstöße über Duentza, Konna und Mopti hinaus gewagt, bis sie sich stark genug fühlten, im großen Stil nach Süden vorzustoßen.

Allen Beobachtern hätte daher spätestens Anfang 2012 klar sein müssen, dass die Islamisten früher oder später ganz Mali einnehmen würden, wenn der Westen und die west­afri­ka­nischen Staaten untätig blieben. Allerdings bleibt die Frage, warum es dann so schnell ging und zu dieser existentiellen Krise mit internationaler Beteiligung führte.

Dafür, dass Mali als Staat in dieser Krise völlig und absolut versagt hat, gibt es tiefere Ursachen. In den weiteren Folgen dieser Serie möchte ich versuchen, einige davon zu benennen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben.
Diarra



© Diarra. Für Kommentare bitte hier klicken. Der Verfasser hat von 2004 bis 2008 und wieder von 2009 bis 2012 in Mali gelebt und gearbeitet. Titelvignette: Ein Baobab (Affenbrotbaum) in Mali. Diese Bäume sehen äußerlich groß, stark und gesund aus, sind innerlich aber oft hohl und werden deshalb von starken Winden leicht umgeknickt - ein Sinnbild für Mali. Eigene Aufnahme des Verfassers. (Für eine vergrößerte Ansicht bitte zweimal auf das Bild klicken). Karte als Werk der US-Regierung gemeinfrei.