25. Januar 2013

Narzißmus überall. Kinderbücher, Politische Korrektheit und politische Psychologisiererei

Das gibt es noch! Natürlich in Wien, wo sonst.

Dort leben und arbeiten der Kunstkritiker Matthias Dusini und Thomas Edlinger, Kulturjournalist und Kurator. Gemeinsam haben sie im vergangenen Jahr ein Buch publiziert, "In Anführungszeichen - Glanz und Elend der Political Correctness".

Nach den Kritiken zu urteilen, ist das ein amüsantes und kenntnisreiches Buch, und keineswegs ein undifferenziertes Plädoyer für PC; oder gar eine Kritik an den Kritikern der PC. Eva Stanzl resümierte in der Wiener Zeitung:
Laut den Autoren bedingt ... die Demokratie einen fast pathologischen Kampf um Anerkennung, weil sie "nichts anderes ist als ein Umverteilungsunternehmen in Permanenz". Dabei verlieren gemeinschaftliche Anliegen gegenüber dem Streben nach Individualität an Gewicht. Wer ihm nicht Rechnung trägt, erzeugt Opfer, die auf ihre Gleichgestelltheit pochen.

Zu keinem Moment negieren Dusini und Edlinger die Existenz echter Opfer - von Rassismus, sozialer Ungerechtigkeit, Sexismus oder sonstiger ablehnender Haltungen. Doch sie streichen hervor, dass viele Menschen sich nur als Opfer fühlen, ohne welche zu sein, und damit die Opferdebatte am Köcheln halten, um ihrem eigenen Dasein mehr Gewicht zu verleihen.
Sie merken, hier wird psychologisiert: Das politische Thema der Feldzüge zur Beförderung angepaßten Verhaltens wird als ein Thema auf der Ebene des Einzelnen behandelt, der von einem Motiv angetrieben wird, nämlich dem, "seinem eigenen Dasein mehr Gewicht zu verleihen". Sigmund Freud und vor allem Alfred Adler sind in der Schrift der beiden Wiener offenbar noch springlebendig.

Wie lebendig, das merkt man, wenn man ihren Artikel liest, der gestern Mittag in "Zeit-Online" erschien und es bereits auf jetzt fast 500 Kommentare gebracht hat - der meistkommentierte, noch weit vor dem Thema Sexismus und Brüderle, zu dem bisher etwas über 300 Leser kommentiert haben.

Der Artikel ist in der Tat provokant. Oder vielmehr: Der Titel und der Vorspann sind es, die sich die Redaktion von "Zeit-Online" haben einfallen lassen:
Political Correctness - Warum wir uns bevor­mundet fühlen

Ist das alltägliche Leben eine große Kinderbuchreform? In der Klage über Tugendterror zeigt sich auch das liberale, weiße Individuum, das um seine Kompetenzen fürchtet.
Im Text ist vom "liberalen, weißen Individuum" nicht die Rede; das haben sich die "Zeit-Online"-Redakteure ausgedacht. Aber ganz falsch liegen sie damit nicht; denn die beiden Autoren wollen schon aufs Individuum hinaus. Sie wollen psychologisieren.

Ihre Sicht kreist vor allem um den Begriff des Narzißmus. Freud hatte ihn in einem sehr technischen Sinn verwendet, als das "Zurückziehen der Libidopositionen auf die eigene Person"; zu finden zum Beispiel im Schlaf und bei Paranoia ("Zur Einführung des Narzißmus", 1924). Die heutige Psychoanalyse ist großzügiger. Die beiden Autoren verwenden den Begriff so, wie er heute meist verwendet wird: Als Bezeichnung für eine starke Selbstbezogenheit.

Diese sehen die beiden Autoren - siehe das obige Zitat - als "fast pathologischen Kampf um Anerkennung" bei den von PC profitierenden Gruppen gegeben. Auch das aktuelle Thema der "Bearbeitung" von Kinderbüchern zwecks Herstellung Politischer Korrektheit sehen sie unter diesem Blickwinkel; und zwar gleich bei allen Beteiligten. Davon handelt ihr Artikel in "Zeit-Online".



Dusini und Edlinger schildern, wie Kinder, die zu Hause zu PC angehalten werden, sich auf dem Schulhof lustvoll darüber hinwegsetzen, und wie es zu Hause dafür "Erklärungsbedarf und elterliche Schamesröte" gibt. Dann weiter:
In diesem rousseauistischen Humus kann der kindliche Narzissmus prächtig gedeihen. Stampfend und trommelnd markiert er seinen Herrschaftsanspruch, während willfährige Eltern mit Bestechungsschokolade vor dem Tyrannen knien, der das Überziehen des Winteranoraks für den Rodelausflug verweigert. Wenn die Kleinen sich dann endlich gegenseitig mit Schneebällen bewerfen, wäre die Zeit gekommen, um über mögliche eigene narzisstische Kränkungen nachzudenken. Warum fühlen sich so viele Erwachsene von neu edierten Kinderbüchern bevormundet? Was empört sie, wenn einzelne Worte ausgetauscht werden?
Narzißmus der Kinder, narzißtische Kränkung - auch das ein Begriff Freuds - bei den Eltern. Man sieht, unsere Autoren fragen nicht nach den Gründen, die Menschen haben, wenn sie sich gegen derartige Zensur wehren. Sie fragen danach, was denn wohl dahintersteckt, in deren Psyche. Sie fragen nach verdeckten Triebfedern. Und finden Narzißmus auch bei denen, die PC einfordern:
Der Wunsch nach Kompensation nicht nur für reale Benachteiligungen, sondern auch für symbolische Kränkungen kann aber auch dazu führen, dass der Wunsch nach Kompensation narzisstisch über­strapaziert wird.
Bei denen nämlich, so meinen unsere Autoren, die überall Verletzungen von PC wittern - bei den Bausätzen von Lego gar, ebenso beim Design von Turnschuhen.

Narzißmus bei den Kindern, Narzißsmus bei den Politisch Korrekten. Und Narzißmus, so erfahren wir, nicht nur bei Eltern, sondern überhaupt bei den Kritikern von PC:
Beleidigt und herabgesetzt vom moralischen Zeigefinger fühlen sich vor allem jene, die sich bislang nicht durch andere beleidigt gefühlt haben. Also die vielzitierten weißen, westlichen Männer mit Geld und Status. (...) Die so heftig erregende Kränkung läuft auf den Vorwurf hinaus, dass der mündige, bildungsnahe Bürger zum unmündigen Kind degradiert wird. Das vertragen insbesondere Menschen schlecht, die über spezielle Kompetenzen verfügen. (...) Die Angst vor der Entwertung eigener Kompetenzen äußert sich auch in der Warnung vor Zensur und vor dem Ende der Meinungsfreiheit.
Narzißmus und narzißtische Kränkung also, wohin man blickt. Narzißmus ist für unsere beiden Autoren der Passepartout, der ihnen das Innere der Psychen aller Beteiligter rund um die Diskussion über die Zensur von Kinderbüchern aufschließt - der Kinder, der politisch Korrekten, ihrer Kritiker.



Haben sie Recht, der Matthias Dusini, der Thomas Edlinger? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Wie will man das wissen?

Sie haben Freud gelesen und Alfred Adler, der das Ich und seine Kränkungen in den Mittelpunkt seiner Individual­psychologie gerückt hat. In der Tradition der Wiener Kaffeehausliteratur haben sie daraus Intelligentes und Wohlgesetztes zum Kinderbuchstreit zusammenfabuliert. (Nichts gegen die Wiener Kaffeehausliteratur, nebenbei. Sie hat Großes hervorgebracht).

Wem's gefällt, der mag das glauben. Aber er soll es bitte nicht mit der politischen Auseinandersetzung über die künftige Gesellschaft verwechseln, in der wir uns befinden.

In ihr geht es darum, ob wir eine pluralistische Gesellschaft behalten, in der jeder das glauben kann, was er will, und in der jeder den Lebensstil pflegen kann, der ihm zusagt. Oder ob wir uns in Richtung auf eine formierte Gesellschaft bewegen, in der es zu den meisten Themen nur noch eine einzige gültige Meinung gibt; in der alles Abweichende zurechtgestutzt, aus den Medien ferngehalten, zensiert und sarraziniert wird.

Eine Gesellschaft, in der alle an die Klimareligion glauben, Energie sparen und Bio gut finden, gegen den Terrorismus mit Friedensappellen kämpfen und eben ihre Wortwahl streng an der jeweils gültigen Politischen Korrektheit orientieren. In der dies die einen freiwillig tun und die Anderen, Widerstrebenden dazu vergattert werden (siehe Zitat des Tages: "Die Autonomie des Individuums mit seiner Einwilligung untergraben"; ZR vom 19. 1. 2013). Zum Beispiel durch die Zensur von Kinderbüchern.

Wer eine solche Gesellschaft nicht will, der hat dafür gute, rationale Gründe. Das genügt.

Wenn Autoren wie Dusini und Edlinger sich im Stil dessen, was vor einem Jahrhundert in Wien gang und gäbe war, in der Psyche der Betreffenden zu schaffen machen, dann ist das vielleicht amüsant. Mit der politischen Auseinandersetzung hat sie exakt nichts zu tun, diese politische Psychologisiererei.
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Sigmund Freud 1922, aufgenommen für LIFE Magazine. Gemeinfrei, da das Copyright erloschen ist.