21. Januar 2013

"Leihstimmen"? Wie versucht wird, den gestrigen Wahlerfolg der FDP gegen sie zu wenden

Alle Stimmen bei demokratischen Wahlen sind Leihstimmen. Man schenkt einem Kandidaten oder einer Partei ja nicht seine Stimme; dann wäre man sie für immer los. Man verkauft sie nicht; hoffentlich nicht. Sondern man leiht sie; für die Dauer einer Legislaturperiode oder Amtszeit. Danach bekommt man sie zurück und kann sie jemandem anderen, kann sie einer anderen Partei leihen.

Am gestrigen Wahlabend durchzog das Wort "Leihstimmen" die TV-Berichterstattung; auch die Print- und Internetmedien benutzen es, von "Spiegel-Online" über die "Wirtschafts­woche" bis zum "Neuen Deutschland".

Der Grund war das - gemessen an den Umfragen - überraschend gute Abschneiden der FDP; unterfüttert durch die Ergebnisse einer Nachfrage der "Forschungsgruppe Wahlen" an den Wahllokalen unter FDP-Wählern, von denen rund 80 Prozent sagten, ihre "Lieblingspartei" sei die CDU.

Diese Daten sind für die linken Medien Anlaß, Häme über die FDP auszugießen. Besonders tut sich wieder einmal ein Kommentator der Internetausgabe der einst liberalen "Zeit" hervor; von "Zeit-Online", das heute zu einem rotgrünen Sturmgeschütz gegen den Liberalismus geworden ist: Markus Horeld, in Personalunion Leiter der Ressorts Politik, Meinung und Gesellschaft, schreibt:
Die FDP hat sich zu einer reinen Funktionspartei degradieren lassen. Inhalte zählten nicht, es ging nur um den Machterhalt. Die FDP existiere eigentlich gar nicht, lästerte der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel. Er hat Recht. Auch in der Vergangenheit galt die FDP oft als purer Mehrheitsbeschaffer. Dieses Mal aber ist die liberale Entkernung vollkommen.



Das ist natürlich Kappes. Die FDP vertritt in Niedersachsen, wie überall, liberale Werte und Ziele. Man kann sich das Wahlprogramm für die gestrige Wahl hier als PDF-Datei herunterladen. Es ist ein vernünftiges, detailliertes Programm zu 17 Politikfeldern; von "Wirtschaft, Arbeit, Verkehr und Tourismus" und "Finanzen und Haushalt" über "Wissenschaft und Forschung" und "Soziales und Gesundheit" bis zu "Kultur", "Medien" und "Sport".

Diese niedersächsische FDP ist programmatisch ungefähr so "entkernt", wie der Artikel des Ressortleiters Horeld dadurch "entkernt" werden würde, daß kaum jemand ihn liest.

Denn das ist das Problem der FDP:

Nicht, daß sie keine deutlichen programmatischen Positionen hätte; daß gar, wie der Journalist Horeld phantasiert, Inhalte für die FDP nicht zählten. Sie zählen für die FDP mindestens ebenso wie für CDU oder SPD; vermutlich mehr, denn eine Partei mit einer kleinen Wählerschaft kann ihr Programm schärfer fokussieren als eine Volkspartei, die diese und jene Klientel bedienen, die einer großen Breite von Meinungen gerecht werden muß.

Sondern das Problem der FDP ist, daß sie - unter anderem just wegen dieser Klarheit ihrer Positionen - zu wenige Menschen erreicht, die sie wegen dieser Programmatik wählen.

Dazu trägt wesentlich eine linke Mediendominanz bei, die es fertiggebracht hat, daß der ehrwürdige Begriff "liberal" im heutigen Deutschland eine nachgerade herabsetzende Bedeutung gewonnen hat; anfangs in Gestalt von "neoliberal". Eine der großen politischen Strömungen soll marginalisiert, sie soll mit dem Image des Abwegig-Abseitigen versehen werden. Das gelingt zunehmend. Markus Horelds Artikel illustriert die Arbeitsweise.



Der FDP die klare Programmatik, die Inhalte abzusprechen ist perfide. Zu behaupten, sie hätte sich durch ihren gestrigen Wahlerfolg "degradieren lassen", ist bösartig. Und vor allem zeugt es von einem bemerkenswerten Mangel an analytischer Klarheit.

Denn es geht ja um zwei ganz verschiedene Fragen:

Erstens, vertritt eine Partei klare inhaltliche Positionen; ist sie eine Partei, die für diese Positionen kämpft und nicht ihr Mäntelchen nach dem Wind hängt? Die also gerade nicht "entkernt" ist, sondern die einen soliden programmatischen Kern hat?

Die FDP ist in dieser Hinsicht geradezu vorbildlich; sie ist in ihren politischen Aussagen nicht nur klarer als die Union und die SPD, sondern beispielsweise auch als die Kommunisten, deren in letzter Minute in den Niedersachsen-Wahlkampf eingeschleuste Spitzenfrau Sahra Wagenknecht als ihr aktuelles Vorbild nicht mehr Josef Stalin, sondern allen Ernstes Ludwig Erhard preist.

Zweitens, und das ist eine ganz andere Frage: Was motiviert die Wähler, bei einer bestimmten Wahl einer bestimmten Partei ihre Stimme zu geben?

Das ist fast nie allein die Programmatik. Traditionelle Bindungen an eine Partei spielen eine Rolle; im Ruhrgebiet zum Beispiel an die SPD, im Erzbistum Paderborn an die CDU. Es spielt eine Rolle, wie sympathisch man die Führungsfiguren der Parteien findet, wievel Vertrauen man ihnen entgegenbringt; manchmal genügt das schon für den Wahlerfolg, wie bei Hannelore Kraft.

Und es spielen die Folgen der einen oder anderen Wahlentscheidung eine Rolle. Man nennt das gern "taktisches Wählen"; ein unangemessen herabsetzender Ausdruck. Denn daß man als Wähler die Folgen einer Wahlentscheidung bedenkt, ist nicht eine Frage der Taktik, sondern der politischen Reife.

Die meisten Wähler haben unterschiedliche starke Präferenzen für die eine und die andere Partei. Der Typus des "Stammwählers", für den sein Leben lang überhaupt nur eine einzige Partei in Frage kommt, ist im Schwinden begriffen.

Wenn mehrere Parteien in Erwägung gezogen werden, dann gilt es abzuwägen zwischen den verschiedenen Gesichts­punkten - der Übereinstimmung mit der Programmatik, dem Vertrauen in die betreffenden Politiker, den Folgen der jeweiligen Wahlentscheidung.

Unter Wahlsystemen wie dem amerikanischen und dem französischen ist dieses Abwägen von eklatanter Bedeutung.

Denn in einer ersten Phase (in Frankreich im ersten Wahlgang, in den USA in den Vorwahlen) kann man sich einen Kandidaten, eine Partei aussuchen, mit denen man im wesentlichen in allen Punkten übereinstimmt; die Auswahl ist ja groß genug. Dann aber reduziert sich die Auswahl drastisch; bei den französischen Präsidentschaftswahlen auf zwei Kandidaten, bei den amerikanischen auf nur zwei aussichtsreiche.

Da bleibt vielen Wählern also gar nichts anderes übrig, als jemanden zu wählen, der nicht ihre erste Präferenz war. Sie müssen zwischen Programmatik, Vertrauen und den Folgen ihrer Wahlentscheidung abwägen und sich dann für jemanden entscheiden, der, wie immer sie sich entscheiden, im Wortsinn nur "zweite Wahl" ist. Aber eben doch jemand, für den sie sich aus Überzeugung entscheiden, und keineswegs in einem abwertenden Sinn "taktisch".



Etwas sehr Ähnliches haben gestern viele Wähler in Niedersachsen getan. Die CDU war, was die Programmatik angeht, offenbar ihre erste Präferenz. Aber der Gesichtspunkt der Folgen ihrer Entscheidung überwog bei ihnen und veranlaßte sie, die an zweiter Stelle präferierte Partei zu wählen, die FDP.

Da wurde nicht mehr "geliehen" als bei jeder Stimmabgabe. Wer der FDP nicht vertraute, wer ihr nicht zustimmte, der wird sie auch nicht gewählt haben. Das Ziel war ja ein Fortbestehen von Schwarzgelb; also eine FDP in der Regierungsverantwortung. Nur daß die Zustimmung zur CDU bei diesen Wählern eben noch größer war als die zur FDP.

Es ist exakt so, wie die Mehrheit der Republikaner in den USA, die in den Vorwahlen für Newt Gingrich, Rick Santorum oder einen anderen Kandidaten votiert hatten, am 6. November für Mitt Romney stimmten. Niemand käme auf den Gedanken, das als "Leihstimmen" zu etikettieren.

Ein wirklich "taktisches" Wählen liegt dann vor, wenn jemand, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen, eine Partei wählt, mit der er überhaupt nicht übereinstimmt. Angenommen, die Kommunisten hätten in den Umfragen vor den kommenden Bundestagswahlen Werte knapp unter 5 Prozent. Dann könnte jemand, der unbedingt eine Große Koalition will, die Partei "Die Linke" wählen, um zu erreichen, daß weder Schwarzgelb noch Rotgrün eine Mehrheit hat und nur eine Große Koalition bleibt.

Aber wenn sich jemand unter Berücksichtigung der politischen Folgen nicht für die erste, sondern für die zweite Partei in seiner Präferenzliste entscheidet, dann ist das weder Taktik, noch liefert er eine "Leihstimme" ab. Er verhält sich nur rational.
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Siehe auch diesen Thread in Zettels kleinem Zimmer. Titelvignette: Stimmenauszählung bei der Bundestagswahl 1961. Bundesarchiv, B 145 Bild-F011304-0002 / Steiner, Egon / CC-BY-SA. Unter Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Germany-Lizenz freigegeben (Ausschnitt).