15. Januar 2013

Lance Armstrong, das Doping und das Gefangendilemma. Warum Doping zugleich absurd und rational ist

Die Show wird zwar erst am Donnerstag ausgestrahlt, aber schon jetzt wissen wir, daß darin Lance Armstrong seine große Doping-Beichte ablegen wird; bei Oprah Winfrey. Die bisher bekannten Einzelheiten kann man heute beispielsweise in der "Welt" lesen.

Armstrong war als Sportler ein Ausnahmetalent. Warum konnte er sich nicht damit begnügen, auf ehrliche Art seine Siege zu erringen; vielleicht den einen oder anderen weniger? Die Antwort ist einfach: Weil ja viele seiner Konkurrenten auch gedopt haben.

Im Grunde ist es absurd: Radprofis riskieren ihre Gesundheit, lügen und betrügen, machen sich von einer Mafia abhängig, leben Jahrzehnte mit schlechtem Gewissen - und das alles ohne jeden Vorteil für irgendwen von ihnen. Ohne Vorteil für ihre Rennställe, für die Sponsoren, für das Publikum.

Die einzigen Profiteure sind betrügerische Ärzte und Kriminelle, die am Doping verdienen, indem sie die betreffenden Mittel herstellen, ihren Vertrieb organisieren, mafiöse Strukturen aufbauen und unterhalten. Sonst hat niemand etwas von dieser Praxis. Alle anderen Beteiligten leiden unter ihr.

Denn angenommen, niemand würde dopen - dann hätten die Radsportfans denselben Spaß wie jetzt. Es würde im Radsport genauso viel Geld verdient werden wie jetzt. Die Radrennen, die großen Rundfahrten wären keinen Deut langweiliger als jetzt. Kein Rennstall würde sich schlechter stellen, kein Sponsor weniger Publicity gewinnen; ja man würde überhaupt nichts merken - kein Zuschauer kann unterscheiden, ob alle nun ein wenig schneller oder ein weniger langsamer fahren.

Ergo: Die Rennställe, die Fahrer schaden sich selbst, ohne jeden Vorteil. Warum benehmen sie sich so absurd?



Das ist eine der Fragen, mit denen sich die Spieltheorie befaßt. Eigentlich keine "Theorie", sondern eine inter­disziplinäre Wissenschaft zwischen Mathematik, Sozialpsychologie, Ökonomie und auch ein wenig der Philosophie.

Eine alles andere als spielerische Wissenschaft, trotz ihres Names. Eine Wissenschaft, die gern bestimmte Szenarien untersucht. Man entwirft eine hypothetische Situation und analysiert, wie die Beteiligten sich verhalten; vor allem, wie sie sich verhalten sollten, um ein optimales Ergebnis zu erreichen. Das Gefangenendilemma ist eine solches Szenario:

Zwei Gefangene sind getrennt eingesperrt. Jeder muß mit dem Tod rechnen, wenn der andere ihn verrät. Er kann das aber abwenden, indem er seinerseits den anderen verrät. Dann kommt er mit einer milden Strafe davon. Verrät keiner den anderen, dann sind beide frei.

Jeder von ihnen handelt rational, wenn wenn er den anderen verrät. Denn dann entgeht er auf jeden Fall der Todesstrafe, die ihn erwarten würde, wenn er selbst dicht hält und der andere ihn verrät.

Der andere stellt natürlich dieselbe Überlegung an. Also verraten beide einander.

Aber beide stünden sich besser, wenn sie miteinander kooperierten und einander nicht verraten würden. Nur setzt Kooperation Vertrauen voraus. Wenn einer zu kooperieren vermeint, der andere das aber seinerseits gar nicht tut, dann ist der Kooperierende der Dumme. Man kann also vernünf­ti­gerweise nicht zu kooperieren versuchen, solange Unsicherheit über das Verhalten des anderen besteht; es wäre selbstmörderisch.

Wenn allerdings man das Spiel wiederholt - es "iterativ" spielt -, dann kann man Vertrauen aufbauen. Bis am Ende beide Beteiligte überzeugt sind, daß die Kooperation dem einen wie dem anderen nützt, und sie sich daran halten.

Freilich kann jederzeit einer wieder auf Verrat umsteigen und sich damit einen Vorteil verschaffen. Einen Vorteil, der für den Kooperierenden unter Umständen tödlich ist.

Deshalb kann Kooperation dauerhaft nur funktionieren, wenn gegenseitige Kontrolle gewährleistet ist. Die Abrüstung der damaligen Supermächte in den achtziger Jahren beispielsweise wurde erst durch die Fortschritte in der Satelliten-Spionage möglich. Man konnte Zug um Zug abrüsten; und jeder konnte nach jedem Zug überprüfen, ob der andere vertrauenswürdig gewesen war.



Aus spieltheoretischer Sicht ist es also trivial, daß jeder Sportler dopt, wenn er voraussetzen muß, daß es auch der Konkurrent tut. Er hat kaum eine andere eine Wahl - es sei denn diejenige, aus dem Spiel auszusteigen. Also seinen Beruf aufzugeben, seinen Arbeitsplatz zu opfern; mindestens aber darauf zu verzichten, in die Spitze vorzustoßen.

Dem einzelnen Fahrer, der gedopt hat, ist deshalb nur sehr bedingt ein Vorwurf zu machen. Der Fehler lag und liegt in einem System, das nach dem Szenario des Gefangenen­dilemmas konstruiert war und ist.

Auch hier helfen nur gewissermaßen Abrüstungs­verhand­lungen - und verbesserte Kontrollen. Alle Beteiligten, mit Ausnahme wie gesagt der Mafia, haben Interesse daran, das Doping abzuschaffen. Das geht nur, wenn sie kooperieren. Und kooperieren können sie nur, wenn sie sich gegenseitig kontrollieren; wie die Großmächte in den achtziger Jahren mit der Satellitenspionage.



Wie man das im einzelnen organisieren könnte und wahrscheinlich schon zu organisieren versucht, kann ich nicht beurteilen. Vielleicht könnte man die Mannschaftsärzte regelmäßig zwischen den einzelnen Teams austauschen, so wie das Militär das traditionell mit Manöverbeobachtern macht. Vielleicht könnte man - als "vertrauensbildende Maßnahme", wie seinerzeit zwischen den Großmächten - sogar einzelne Fahrer zwischen den Teams austauschen; warum eigentlich nicht?

Jedenfalls legt die Spieltheorie nahe, daß das Problem sich nicht durch schärfere Gesetze, nicht durch Überwachung von außen und dergleichen lösen läßt. Es läßt sich nur dadurch lösen, daß die Beteiligten ihr gemeinsames Interesse entdecken und Wege finden, diesem Interesse kooperierend gerecht zu werden.
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Dies ist die aktualisierte und überarbeitete Fassung eines Artikels vom Mai 2007.