30. Januar 2013

Anmerkungen zur Sprache (15): Die starken Verben schwächeln. Wie sich das Fauldeutsche ausbreitet

In der Sprachentwicklung von englischsprachigen Kindern ist ein paradoxer Effekt zu beobachten: Sie lernen bis zum Alter von ungefähr zwei Jahren bestimmte Wortformen korrekt zu bilden und machen dann plötzlich Fehler.

Die Vergangenheitsform von I go ist I went. Es kommt vor, daß ein Kind, das diese Wortform bereits beherrschte, plötzlich - mit zwei Jahren oder älter - anfängt, I goed zu sagen.

Was ist da passiert? Das Kind hat eine Regel begriffen; die Regel nämlich, daß die Vergangenheitsform vieler Verben durch das Anhängen von -ed gebildet wird. Das, was für diese regelmäßigen Verben (regular verbs) gilt, überträgt es nun zu Unrecht auch auf ein unregelmäßiges Verb wie to go.

Solange es diese Regel noch nicht begriffen hat, kann es einen solchen Fehler - overregularization genannt, "Über­ver­regel­mäßigung", wörtlich übersetzt - nicht machen. In gewisser Weise ist goed also ein "guter" Fehler; ein Fehler, der auf einen Lernfortschritt hinweist (siehe Marcus et. al., 1992).

Auch im Deutschen gibt es regelmäßige und unregelmäßige Verben. Bei regelmäßigen Verben wird die Vergangenheitsform durch das Anhängen von -te an den Wortstamm gebildet; also zum Beispiel fragen --> frag-te oder stellen --> stell-te. Unregelmäßige Verben hingegen bilden die Vergangen­heits­form anders, meist durch einen Ablaut: tragen --> trug oder biegen --> bog.

Im Groben ist diese Kategorisierung mit derjenigen in "schwache" und "starke" Verben identisch; obwohl es für den Linguisten feine Unterscheidungen zwischen den beiden Dichotomien gibt. Sie brauchen uns jetzt nicht zu interessieren.

Interessant aber ist, daß es im Deutschen Verben gibt, die, sagen wir, Zwitter sind; existierend als starke und auch als schwache Konjugation. Die Vergangenheitsform von fragen zum Beispiel ist nicht nur fragte, sondern auch frug; diese starke Flexion allerdings ist sozusagen zweite Wahl. Der Duden:
Übrigens wird die aus dem Niederdeutschen stammende starke Form frug, die im 19. Jahrhundert vorübergehend auch in der Literatur häufiger auftrat, heute nur noch sehr selten und überwiegend regionalsprachlich gebraucht.
Immerhin, sie lebt noch, die starke Konjugation. Aber es geht ihr nicht gut. Wir, die Sprecher des Deutschen, scheinen uns so benehmen wie die amerikanischen Kleinkinder, die vom schon gelernten went zu goed wechseln. Und zwar nicht nur dort, wo die Sprache uns die Wahl läßt. Sondern ganz wie die goed-Kinder tendieren auch Sprecher des Deutschen dazu, schwache Verben sozusagen in eigener Machtvollkommenheit neu zu schaffen.

In "Zeit-Online" hat kürzlich die Germanistin Ariane C. Gehr Beispiele genannt:
Dass die ohnehin geringe Anzahl verbliebener starker Verben durch unsachgemäßen Gebrauch weiter dezimiert wird, ist mir bewusst geworden, als ich neulich bei einem Gespräch vernahm: "Dem Hans leihte ich mein Auto." Mich schmerzte auch, als eine Mutter ihrem Sohn beibrachte, dass bratete (und nicht etwa briet) tatsächlich die korrekte Vergangenheitsform des Verbs braten sei.
Woher diese Tendenz zur regelmäßigen Konjugation? Die Autorin läßt das offen; ihr geht es - der Beitrag heißt "Rettet die starken Verben!" - mehr um ein augenzwinkerndes Plädoyer für gesogen, buk, glomm und ihre Verwandten.

Was die regelmäßige von der unregelmäßigen Konjugation unterscheidet, das ist ihre Einfachheit, ihre leichte Faßlich­keit. Nimm den Wortstamm und hänge -te dran. Punkt.

Die Konjugation unregelmäßiger Verben muß man hingegen für jedes einzelne lernen. Man muß nicht nur lernen, daß es überhaupt unregelmäßig konjugiert wird - daß es nicht goed heißt und nicht schlagte -, sondern man muß auch für jedes einzelne unregelmäßige Verb die Konjugation individuell erlernen.

Biegen --> bog; aber liegen --> lag. Nicht biegen --> bag und liegen --> log. Singen --> sang, aber bringen --> brachte und nicht singen --> sachte und bringen --> brang. Das muß gelernt werden, und Lernen macht Arbeit. Man muß es beim Sprechen beachten; auch das macht Arbeit.



Die Sprache geht, so scheint es, den Weg des geringsten Widerstands. Jedenfalls heutzutage, jedenfalls in Deutsch­land. Es setzt sich diejenige Wortform, es setzt sich die syntaktische Variante durch, die am einfachsten zu erlernen ist, die zu verwenden die geringste Mühe macht. Es siegt das, was ich Fauldeutsch nennen möchte.

"Verkürzung, Vereinfachung, Vergröberung bilden die Trias einer gespenstischen Abwärtsdynamik der gesprochenen und geschriebenen Sprache", konstatierte 2006 Matthias Schreiber in einer Titelgeschichte des "Spiegel" über die "Verlotterung der Sprache". Daß "der Dativ dem Genitiv sein Tod" ist (so Sebastian Sick vor zehn Jahren), ist mittlerweile nachgerade zum geflügelten Wort geworden.

Man sagt heute nicht mehr, wie es im Titel des Buchs von Clemens Laar aus dem Jahr 1951 steht, "meines Vaters Pferde", sondern "die Pferde von meinem Vater". Denn das erspart die Beugung, die Veränderung des Worts je nach nach seiner grammatischen Funktion. Dafür nimmt der Sprachvereinfacher gern Partikel wie "von" in Kauf.

Der Genitiv verlangt eine Änderung der Wortform, nämlich das Anfügen des Suffix -s. Der Dativ läßt die Wortform unberührt (heutzutage jedenfalls; einst sprach man von "dem Manne" und sagte "im Sinne"). Der Dativ kommt der Faulheit entgegen, der es widerstrebt, am Wort etwas ändern zu müssen. Deshalb sein Vormarsch im Fauldeutschen.

Ähnlich steht es mit dem Verschwinden des Konjunktivs. Ihm rückte die Faulheit der Deutschsprachigen gewissermaßen in zwei Angriffswellen zu Leibe. Erst wurde er zunehmend durch eine Konstruktion mit "würde" ersetzt ("Wenn ich Ihnen Recht geben würde" anstelle von "Wenn ich Ihnen Recht gäbe"). Dann begann man, ihn schlicht durch den Indikativ zu ersetzen ("Wenn ich Ihnen Recht gebe").

Diese zweite Angriffswelle steht inzwischen vor dem Durchbruch; nicht nur in der Sprache der Sportler:
Für Kevin Kuranyi war es die Schlüsselszene der Partie. Seine Großchance in der 19. Minute. "Den muss ich reinmachen, da gibt es nichts zu diskutieren", war der Stürmer nach dem Schlusspfiff selbstkritisch.
So der damals, 2008, für Schalke 04 spielende Kevin Kuranyi. Er meinte "Den hätte ich reinmachen müssen".



Möglichst keine Beugung, wenn es auch ungebeugt geht. Möglichst kein Konjunktiv. Und eben möglichst die regel­mäßige Konjugation, das schwache Verb. Warum dieser Trend zum Fauldeutsch?

Da kann man viel spekulieren. Die gesprochene, die gehörte Sprache wird immer wichtiger gegenüber der geschriebenen, der gelesenen Sprache. Die Unterschicht bestimmt zunehmend unsere Kultur: Nicht nur das Tätowieren, nicht nur das Auftreten in knalliger Freizeitkleidung ist in die Mittelschicht vorgedrungen, sondern auch Sprachgewohn­heiten der Unterschicht sind es.

Hinzu kommt der Einfluß von Sprechern, deren Muttersprache nicht Deutsch ist; die deshalb oft "Leichte Sprache" bevorzugen. Sehen Sie sich einmal an, wie der Deutsche Bundestag sich in "Leichter Sprache" vorstellt.
Bundes-Tag ist der Name für ein großes Haus in Berlin. Und es ist der Name für eine Gruppe von Menschen, die in diesem Haus arbeiten. Die Menschen in dieser Gruppe nennt man auch: Abgeordnete. (...) Die Abgeordneten werden alle 4 Jahre gewählt. Das nennt man: Bundes-Tags-Wahl. (...) Man kann auch zu den Sitzungen hingehen. Die Sitzungen im Bundes-Tag sind öffentlich.
Manches an dieser Sprachentwicklung abwärts erinnert an die Entstehung der romanischen Sprachen aus dem Vulgär­latein. Auch damals verschwanden beispielsweise Suffixe und wurden durch Partikel ersetzt ("des Sohnes" heißt lateinisch filii, französisch du fils). Aber aus diesem Niedergang entwickelte sich doch die Sprache Dantes, die Sprache Racines und die von Cervantes. Vielleicht ist das ja ein Trost. ­
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Johann Gottfried Herder. Gemälde von Johann Ludwig Strecker (1775). In der Public Domain, da das Copyright erloschen ist. Links zu allen Folgen dieser Serie findet man hier.