13. August 2008

Hintergründe des Kriegs in Georgien (3): Präsident Saakaschwili schildert den Ablauf der Ereignisse

Dergleichen dürfte es selten gegeben haben - daß der Präsident eines im Krieg befindlichen Landes einer Reporterin wenige Tage nach Kriegsbeginn ein eingehendes Interview gibt, in dem er Punkt für Punkt schildert, wie diese ersten Tage abliefen.

Micheil Saakaschwili hat das gegenüber der Moskauer Korrespondentin von Newsweek, Anna Nemtsova, getan. Gestern publizierte Newsweek dieses erstaunliche Dokument, dessen Lektüre ich dringend empfehle.

Das Interview fand am Montag statt, also bevor Rußland das "Ende der Kämpfe" verkündete und Georgien den EU- Plan akzeptierte.

Im Folgenden einige Auszüge. Das meiste ist von mir paraphrasiert; wörtliche Zitate sind wie üblich eingerückt und von mir übersetzt. Die Reihenfolge der Auszüge weicht von derjenigen in dem Interview ab, das thematisch sprunghaft verlief.



Vorausgehende Warnungen

Saakaschwili berichtet von Mitteilungen eines mit ihm gut befreundeten US- Diplomaten, der mit dem russischen Außenminister Lawrow zu Abend gegessen und diesem erzählt hatte, daß er im September Georgien besuchen wolle. Lawrow habe geantwortet: "Zu spät, bis dahin wird es Krieg geben".

Es gab auch Informationen von befreundeten Diensten, daß etwas im Gange sei. Wenn Georgien bis zum Herbst übersteht, sagten diese Quellen, dann wird die Lage sich beruhigen.



Vorgeschichte des Kriegs

In den vergangenen vier Monaten wurden russische Truppen in Nordossetien zusammengezogen. Georgien war beunruhigt, konnte aber nichts dagegen tun.

In den ersten Tagen der vergangenen Woche gab es eine Reihe von Zwischenfälle in Südossetien. Ein Polizeikonvoi wurde beschossen. Dörfer lagen unter Mörserfeuer. Als das am Donnerstag zunahm, rief Saakaschwili den Generalsekretär der Nato de Hoop Scheffer, den europäischen Außenbeauftragten Javier Solana sowie Staatschefs wie den litauischen Präsidenten Valdas Adamkus an und schilderte ihnen seine Besorgnis.

Anschließend telefonierte er mit dem Kommandeur der russischen Friedenstruppe in Südossetien sowie mit dem Leiter der russischen Friedensmission, Yuri Popov. Beide erklärten ihm, daß sie die ossetischen Separatisten nicht mehr unter Kontrolle hätten. Diese seien nicht ansprechbar und würden nicht ans Telefon gehen.

Dann teilte der amtierende russische Außenminister mit, daß die Separatisten die Feindseligkeiten begonnen hätten und daß Rußland versuchen würde, die Situation zu beruhigen.

Saakaschwili sagte den Russen daraufhin, daß Georgien eine einseitige Feuerpause erklären würde und daß sie ihrerseits etwas unternehmen sollten. Diese Feuerpause verkündete Saakaschwili in der Nacht zum Freitag im georgischen Fernsehen.



Das Telefonat mit dem Generalsekretär der Nato

Für die Glaubwürdigkeit Saakaschwilis ist nicht unwichtig, daß er immer wieder Telefonate mit internationalen Partnern zitiert. Die folgende Aussage wurde vom Gesprächspartner auf Anfrage von Newsweek nicht dementiert, sondern sein Büro lehnte einen Kommentar mit dem Verweis auf die Vertraulichkeit des Gesprächs ab:
When I called the secretary- general of NATO, I said, "Look, this is happening. Conditions are nasty." I said the Russians are being helpful. They are trying to stop the separatists. And you know what he told me? He said, "I don't think so. I think this is a Russian game." He was right and I was wrong.

Als ich den Nato- Generalsekretär anrief, sagte ich: "Schauen Sie, dies und jenes ist im Gang. Die Dinge stehen nicht gut." Ich sagte, die Russen würden helfen. Sie würden versuchen, die Separatisten zu stoppen. Und wissen Sie, was er mir sagte? Er sagte: "Das glaube ich nicht. Ich glaube, das ist das Spiel der Russen". Er hatte Recht, und ich hatte Unrecht.


Der Beginn des Kriegs

Es liefen Meldungen ein, wonach russische Panzer und gepanzerte Truppentransporter durch den Tunnel nach Südossetien eindrangen, der es mit Nordossetien verbindet:
Finally we said, "OK, the only way to stop this convoy was to open artillery fire." We did not have enough military on the ground to start a ground assault. So we did fire at that convoy, and we fired at Tskhinvali. But before that, and every international observer saw that, there were several hours of barrage, to which we didn't respond. And in the meantime, we were trying to get international involvement.

Schließlich sagten wir: "OK, wir können diesen Konvoi nur durch Artilleriefeuer stoppen". Wir hatten nicht genügend Truppen im Feld, um einen Bodenangriff zu beginnen. Also feuerten wir auf diese Truppen, und wir beschossen Tschinvali. Aber zuvor - und jeder internationale Beobachter sah das - hatte es mehrere Stunden Sperrfeuer gegeben, auf das wir nicht geantwortet hatten. Und in der Zwischenzeit hatten wir versucht, ein internationales Eingreifen zu erreichen.


Der Verlauf des Kriegs bis Montag

Die Stadt Gori in Zentralgeorgien lag unter heftigem Feuer. Es wurde gezielt der dortige Marktplatz bombardiert, um - so Saakaschwili - Panik zu verbreiten.

Der Hafen Porti wurde ebenfalls von den Russen beschossen. Als russische Flugzeuge im Anflug auf die Hafenstadt Batumi waren, befahl Saakaschwili, die Stadt zu verdunkeln. Die Bomben verfehlten die Stadt und fielen ins Meer.

In Ostgeorgien warfen die Russen Bomben in der Nähe der Pipeline ab. Es wurden Militärbasen sowie verschiedene Bahnhöfe ohne jede militärische Bedeutung bombardiert.

Drei russische Piloten wurden gefangengenommen, von denen einer verletzt in einem Krankenhaus in Tiflis liegt. Zwei wurden tot geborgen. Andere konnten sich mit dem Schleudersitz retten, als ihr Flugzeug abgeschossen wurde.



Rußlands Absichten

Saakaschwili ist der Meinung, daß der Krieg nicht um Südossetien oder Abchasien geführt wird, sondern um Georgien selbst:
I think they want the whole of Georgia. They have clearly said through different diplomats at different levels that they want the annihilation of Georgia. (...)

And they've always been after us here. They couldn't care less about South Ossetia. President Putin told me the first time I met him he had never heard about South Ossetia. (..)

They need control of energy routes from Central Asia and the Caspian. They need seaports. They need our transportation infrastructure. And primarily, they want to get rid of us. They want to make regime change. And they want to get rid of any democratic movement in this part of their neighborhood. That's it, period.

Ich glaube, daß sie ganz Georgien wollen. Sie haben durch verschiedene Diplomaten auf verschiedenen Ebenen klar gesagt, daß sie die Beseitigung von Georgien wollen. (...)

Und sie waren hier immer auf uns aus. Südossetien könnte ihnen nicht gleichgültiger sein. Als ich Präsident Putin das erste Mal traf, sagte er mir, daß er noch nie von Südossetien gehört hätte. (...)

Sie brauchen die Kontrolle über Wege des Energietransports von Zentralasien und dem Kaspischen Meer. Sie brauchen Seehäfen. Sie brauchen unsere Verkehrs- Infrastruktur. Sie wollen einen Regimewechsel. Und sie wollen jede demokratische Bewegung in diesem Teil ihrer Nachbarschaft loswerden. Das ist es. Punkt.


Ich habe dieses Interview relativ ausführlich paraphrasiert und zitiert, weil es mir eine historische Quelle zu sein scheint. Wie jede historische Quelle natürlich der Quellenkritik bedürftig.

Saakaschwili stellt naturgemäß einseitig die georgische Sicht dar, wie sie am Montag bestand. Aber er nennt auch viele konkrete Einzelheiten, die nachprüfbar sind.

In The Outside of the Asylum findet man eine penible Rekonstruktion der Abläufe, soweit es dafür bisher Quellen gibt. Sie deckt sich außerordentlich gut mit dem, was Saakaschwili in dem Interview darlegt.

Was ich gestern im zweiten Teil dieses Artikels als das größte Rätsel dieses Kriegs gesehen hatte - warum Georgien in die Falle tappte, durch den Einmarsch nach Südossetien den Russen einen Vorwand zum Eingreifen zu liefern -, das findet damit eine banale Auflösung: Es war gar nicht so, daß die Georgier zuerst einmarschierten und Tschinwali beschossen. Sondern der Krieg begann damit, daß russische Truppen am frühen Morgen des 8. August durch den Roki- Tunnel nach Südossetien eindrangen.

Die Welt ist, wenn das so stimmt, einer russischen Propaganda- Lüge aufgesessen. Nicht nur war Georgien nicht der Angreifer, sondern es hat noch nicht einmal - wie ich gestern noch vermutete - präventiv gehandelt. Es reagierte erst, als russische Truppen schon im Land standen.



Und noch ein Punkt, in dem ich mich vermutlich gestern geirrt habe: Ich hatte als Erklärung für ein präventives Vorgehen Georgiens angenommen, daß dessen Militär von Ergebnissen der US- Aufklärung über den russischen Aufmarsch Kenntnis hatte.

Zumindest für den Beginn des Angriffs in den Morgenstunden des 8. August traf das, wenn man Saakaschwili folgt (und der Rekonstruktion in The Outside of the Asylum), nicht zu. Die Georgier wurden überrascht.

In "Zettels kleinem Zimmer" hatte das gestern R.A. richtig so vermutet, und ich hatte ihm zu Unrecht widersprochen.



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