Die Frage der Schuld am Krieg in Georgien ist weiter ungeklärt.
Die russische Version, wonach Georgien in der Nacht zum 8. August überfallartig in Südossetien einmarschierte und die russische 58. Armee das militärische Wunder fertigbrachte, als Reaktion darauf bereits am Nachmittag des 8. August mit Bodentruppen vor Tschwinwali zu stehen, scheint immer noch weithin akzeptiert zu werden.
An diesem offenbar schwer zu erschütternden Glauben hat bisher noch nicht einmal der Umstand gerüttelt, daß beim Beginn des Kriegs die georgische Armee folgendermaßen verteilt war:
Die Erste Brigade stand im Irak. Die Vierte Brigade befand sich im Training, um im Austausch gegen die Erste Brigade in den Irak verlegt zu werden. Die Zweite Brigade und die Dritte Brigade lagen in Westgeorgien, näher an Abchasien als an Südossetien.
Also nicht unbedingt der klassische Aufmarsch für einen Angriff auf Südossetien, bei dem angesichts des vorausgehenden russischen Manövers "Kaukasus 2008" in Nordossetien mit der Notwendigkeit gerechnet werden mußte, eine russische militärische Reaktion abzuwehren.
Wie auch immer - diese Version wird fast allgemein geglaubt. Die Version der Georgier scheinen dagegen viele Journalisten gar nicht zu kennen. Diese nämlich:
In der Nacht zum 8. August dringen russische Truppen durch den Roki- Tunnel nach Georgien ein. Präsident Saakaschwili telefoniert daraufhin u.a. mit Condoleezza Rice und dem Nato- Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer, um sich bei ihnen Rat zu holen.
Danach setzt er (gegen den Rat von zumindest Rice) georgische Truppen in Marsch, die den Russen den Weg abschneiden sollen und zu diesem Zweck (Sprengung einer strategisch wichtigen Brücke nördlich von Tschinwali) nach Tschinwali vorrücken. Beim Kampf um Tschwinwali beschießen beide Seiten die Stadt; die Zerstörungen gehen überwiegend auf das Konto der Russen.
Mir erscheint diese Version erheblich schlüssiger als die russische, zumal sie durch zahlreiche weitere Indizien gestützt wird.
Aber nun gut, bewiesen ist keine der beiden Versionen. Lassen wir einmal offen, wer diesen Krieg begonnen hat, und fragen wir uns nach den Kriegszielen. Die der Georgier liegen auf der Hand: Sie wollen wieder Herr im eigenen Land sein. Welches sind aber die Kriegsziele der Russen?
Dazu sind am Wochenende zwei interessante Analysen zu lesen gewesen.
Am Freitag erschien in der Washington Post die Kolumne von Charles Krauthammer "NATO meows", die NATO macht miau. Darin nennt er drei Kriegsziele der Russen:
Rußland sei dabei, Georgien zu strangulieren. Gelinge das, dann würden, meint Krauthammer, auch die Länder Osteuropas sich überlegen, ob es für sie nicht besser sei, sich mit den Russen zu arrangieren. Dann hätten diese alle drei Ziele erreicht.
Deshalb, argumentiert Krauthammer, ist es so wichtig, daß die Nato gegenüber Rußland endlich die Krallen zeigt. Aber nein, sie mache nur miau.
Krauthammers Überlegungen vom Freitag werden ergänzt durch einen Artikel, der am Sonntag in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" erschienen ist. Der Autor, Gerd H. Köpper, ist emeritierter Professor für Journalistik und beleuchtet das Thema mit Blick auf die Medien.
Diese, so meint er, seien zwar auf der Hut, nicht auf Kriegslügen hereinzufallen. Auf Kriegslügen der herkömmlichen Art allerdings, in Bezug auf das Vermitteln von "Abläufen, von Ereignissen, von verlautbarten Entscheidungen und sichtbaren Veränderungen bei den Kriegsparteien".
In Georgien aber operierten die Russen auch auf anderen Ebenen:
Die Medien aber würden das überwiegend nicht erkennen:
Wieder einmal geht es um den Master Narrative, das allgemeine Schema zur Einordnung und zur Interpretation der Ereignisse.
Das Schema, das die Russen lanciert haben und das jedenfalls in Deutschland bereitwillige Abnehmer findet, besagt, daß ein unberechenbarer Präsident Saakaschwili sich in ein militärisches Abenteuer gestürzt hat und dafür von den Russen bestraft wurde, die ihre Bürger geschützt und Schlimmeres verhütet haben und die jetzt als Friedensmacht weiter in Georgien für Ordnung sorgen.
Das Master Narrative, das Autoren wie Krauthammer und Köpper vertreten und dem ich inzwischen (nachdem ich mir anfangs keine Entscheidung zugetraut hatte) ebenfalls zuneige, nimmt hingegen an:
Nach zehn Jahren der Aufrüstung fühlt sich Putin jetzt stark genug, an die Wiederherstellung des russischen Imperiums zu gehen. Georgien bot sich als Testgelände dafür an, wie die Nato reagieren würde, weil Rußland dort in einer militärisch günstigen Position ist.
Die Entscheidung fiel nach der Konferenz von Bukarest, auf der die Nato Georgien den Status "Membership Action Plan" verweigerte und die Entscheidung auf Dezember vertagte. Vor diesem Termin und vor allem vor den Wahlen im November, die möglicherweise McCain zum nächsten Präsidenten der USA machen würden, mußte Putin handeln, wenn er denn Georgien unter seine Kontrolle bringen wollte. Die Zeit der Olympischen Spiele bot sich an.
Nachtrag: In "Zettels kleinem Zimmer" hat jetzt Robin die wichtigsten Quellen zum Ablauf der Ereignisse zusammengestellt. Zum Selbststudium sehr zu empfehlen.
Die russische Version, wonach Georgien in der Nacht zum 8. August überfallartig in Südossetien einmarschierte und die russische 58. Armee das militärische Wunder fertigbrachte, als Reaktion darauf bereits am Nachmittag des 8. August mit Bodentruppen vor Tschwinwali zu stehen, scheint immer noch weithin akzeptiert zu werden.
An diesem offenbar schwer zu erschütternden Glauben hat bisher noch nicht einmal der Umstand gerüttelt, daß beim Beginn des Kriegs die georgische Armee folgendermaßen verteilt war:
Die Erste Brigade stand im Irak. Die Vierte Brigade befand sich im Training, um im Austausch gegen die Erste Brigade in den Irak verlegt zu werden. Die Zweite Brigade und die Dritte Brigade lagen in Westgeorgien, näher an Abchasien als an Südossetien.
Also nicht unbedingt der klassische Aufmarsch für einen Angriff auf Südossetien, bei dem angesichts des vorausgehenden russischen Manövers "Kaukasus 2008" in Nordossetien mit der Notwendigkeit gerechnet werden mußte, eine russische militärische Reaktion abzuwehren.
Wie auch immer - diese Version wird fast allgemein geglaubt. Die Version der Georgier scheinen dagegen viele Journalisten gar nicht zu kennen. Diese nämlich:
In der Nacht zum 8. August dringen russische Truppen durch den Roki- Tunnel nach Georgien ein. Präsident Saakaschwili telefoniert daraufhin u.a. mit Condoleezza Rice und dem Nato- Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer, um sich bei ihnen Rat zu holen.
Danach setzt er (gegen den Rat von zumindest Rice) georgische Truppen in Marsch, die den Russen den Weg abschneiden sollen und zu diesem Zweck (Sprengung einer strategisch wichtigen Brücke nördlich von Tschinwali) nach Tschinwali vorrücken. Beim Kampf um Tschwinwali beschießen beide Seiten die Stadt; die Zerstörungen gehen überwiegend auf das Konto der Russen.
Mir erscheint diese Version erheblich schlüssiger als die russische, zumal sie durch zahlreiche weitere Indizien gestützt wird.
Aber nun gut, bewiesen ist keine der beiden Versionen. Lassen wir einmal offen, wer diesen Krieg begonnen hat, und fragen wir uns nach den Kriegszielen. Die der Georgier liegen auf der Hand: Sie wollen wieder Herr im eigenen Land sein. Welches sind aber die Kriegsziele der Russen?
Dazu sind am Wochenende zwei interessante Analysen zu lesen gewesen.
Am Freitag erschien in der Washington Post die Kolumne von Charles Krauthammer "NATO meows", die NATO macht miau. Darin nennt er drei Kriegsziele der Russen:
Russia's aims are clear: (1) sever South Ossetia and Abkhazia from Georgia for incorporation into Russia; (2) bring down Georgia's pro-Western government; and (3) intimidate Eastern European countries into reentering the Russian sphere of influence.Das erste Ziel, meint Krauthammer, sei erreicht. Georgien werde seine Provinzen nicht wiederbekommen; sie würden schon bald von Rußland geschluckt werden. Das dritte Ziel sei vorläufig nicht erreicht, weil die Osteuropäer sich mit Georgien solidarisierten und sich enger an die USA anschlössen. Bleibe Ziel Nummer zwei, und um dieses werde es in den nächsten Wochen gehen.
Die Ziele Rußlands sind klar: (1) Südossetien und Abchasien von Georgien abtrennen, um sie Rußland einzuverleiben; (2) die prowestliche Regierung Georgiens stürzen; und (3) Länder Osteuropas durch Einschüchterung zurück in die russische Einflußsphäre holen.
Rußland sei dabei, Georgien zu strangulieren. Gelinge das, dann würden, meint Krauthammer, auch die Länder Osteuropas sich überlegen, ob es für sie nicht besser sei, sich mit den Russen zu arrangieren. Dann hätten diese alle drei Ziele erreicht.
Deshalb, argumentiert Krauthammer, ist es so wichtig, daß die Nato gegenüber Rußland endlich die Krallen zeigt. Aber nein, sie mache nur miau.
Krauthammers Überlegungen vom Freitag werden ergänzt durch einen Artikel, der am Sonntag in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" erschienen ist. Der Autor, Gerd H. Köpper, ist emeritierter Professor für Journalistik und beleuchtet das Thema mit Blick auf die Medien.
Diese, so meint er, seien zwar auf der Hut, nicht auf Kriegslügen hereinzufallen. Auf Kriegslügen der herkömmlichen Art allerdings, in Bezug auf das Vermitteln von "Abläufen, von Ereignissen, von verlautbarten Entscheidungen und sichtbaren Veränderungen bei den Kriegsparteien".
In Georgien aber operierten die Russen auch auf anderen Ebenen:
Es kommen zwei wirkungsvolle Ebenen hinzu: Strategien der Delegitimierung und Optionen eines Wirtschaftskrieges. (...)Köpper interpretiert (siehe dazu auch meinen ersten Beitrag zum Georgien- Krieg vom 9. August) den Georgien- Krieg als einen postkolonialen Krieg. Wie in den postkolonialen Kriegen zum Beispiel in Afrika gehe es jetzt Rußland darum, eine bestehende Regierung zu delegitimieren, bis sie stürzt und durch eine genehme ersetzt werden kann.
Das strategische Kernziel ist, die georgische Regierung zu deligitimieren. Westliche Beobachter stoßen auf deutliche Unmutsäußerungen in der Bevölkerung: Die fehlende Grundversorgung, die durch die Zerstörung der Verkehrssysteme durch russische Militäreinheiten, durch Blockaden der wichtigsten Transversalen im Lande und durch die Stilllegung des zentralen Umschlaghafens Poti erreicht wurde, ist der Grund dafür.
Die Medien aber würden das überwiegend nicht erkennen:
Das Geschehen im Kaukasus ist ein postkolonialer Machtkampf. Damit stellen sich für die neutralen Berichterstatter neue Anforderungen. (...) Zu dieser neuen Art der Berichterstattung würde gehören, den Zusammenhang kenntlich zu machen zwischen einer gezielten Verunsicherung der Bevölkerung in den von Russland militärisch besetzten Landesteilen allein durch Straßenblockaden und Hindernisse im Alltagsleben -, und dem Stillstand der Fabriken und Handelszentren. Dieser systematische Zusammenhang ist Teil eines Wirtschaftskrieges, der ein augenfälliges Ziel verfolgt. Von diesem Krieg war wenig zu erfahren.
Wieder einmal geht es um den Master Narrative, das allgemeine Schema zur Einordnung und zur Interpretation der Ereignisse.
Das Schema, das die Russen lanciert haben und das jedenfalls in Deutschland bereitwillige Abnehmer findet, besagt, daß ein unberechenbarer Präsident Saakaschwili sich in ein militärisches Abenteuer gestürzt hat und dafür von den Russen bestraft wurde, die ihre Bürger geschützt und Schlimmeres verhütet haben und die jetzt als Friedensmacht weiter in Georgien für Ordnung sorgen.
Das Master Narrative, das Autoren wie Krauthammer und Köpper vertreten und dem ich inzwischen (nachdem ich mir anfangs keine Entscheidung zugetraut hatte) ebenfalls zuneige, nimmt hingegen an:
Nach zehn Jahren der Aufrüstung fühlt sich Putin jetzt stark genug, an die Wiederherstellung des russischen Imperiums zu gehen. Georgien bot sich als Testgelände dafür an, wie die Nato reagieren würde, weil Rußland dort in einer militärisch günstigen Position ist.
Die Entscheidung fiel nach der Konferenz von Bukarest, auf der die Nato Georgien den Status "Membership Action Plan" verweigerte und die Entscheidung auf Dezember vertagte. Vor diesem Termin und vor allem vor den Wahlen im November, die möglicherweise McCain zum nächsten Präsidenten der USA machen würden, mußte Putin handeln, wenn er denn Georgien unter seine Kontrolle bringen wollte. Die Zeit der Olympischen Spiele bot sich an.
Nachtrag: In "Zettels kleinem Zimmer" hat jetzt Robin die wichtigsten Quellen zum Ablauf der Ereignisse zusammengestellt. Zum Selbststudium sehr zu empfehlen.
Mit Dank an Thomas Pauli. Für Kommentare zu diesem Artikel gibt es einen Thread in "Zettels kleinem Zimmer". Dort findet man auch eventuelle Aktualisierungen und Ergänzungen.