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13. August 2008

Hintergründe des Kriegs in Georgien (3): Präsident Saakaschwili schildert den Ablauf der Ereignisse

Dergleichen dürfte es selten gegeben haben - daß der Präsident eines im Krieg befindlichen Landes einer Reporterin wenige Tage nach Kriegsbeginn ein eingehendes Interview gibt, in dem er Punkt für Punkt schildert, wie diese ersten Tage abliefen.

Micheil Saakaschwili hat das gegenüber der Moskauer Korrespondentin von Newsweek, Anna Nemtsova, getan. Gestern publizierte Newsweek dieses erstaunliche Dokument, dessen Lektüre ich dringend empfehle.

Das Interview fand am Montag statt, also bevor Rußland das "Ende der Kämpfe" verkündete und Georgien den EU- Plan akzeptierte.

Im Folgenden einige Auszüge. Das meiste ist von mir paraphrasiert; wörtliche Zitate sind wie üblich eingerückt und von mir übersetzt. Die Reihenfolge der Auszüge weicht von derjenigen in dem Interview ab, das thematisch sprunghaft verlief.



Vorausgehende Warnungen

Saakaschwili berichtet von Mitteilungen eines mit ihm gut befreundeten US- Diplomaten, der mit dem russischen Außenminister Lawrow zu Abend gegessen und diesem erzählt hatte, daß er im September Georgien besuchen wolle. Lawrow habe geantwortet: "Zu spät, bis dahin wird es Krieg geben".

Es gab auch Informationen von befreundeten Diensten, daß etwas im Gange sei. Wenn Georgien bis zum Herbst übersteht, sagten diese Quellen, dann wird die Lage sich beruhigen.



Vorgeschichte des Kriegs

In den vergangenen vier Monaten wurden russische Truppen in Nordossetien zusammengezogen. Georgien war beunruhigt, konnte aber nichts dagegen tun.

In den ersten Tagen der vergangenen Woche gab es eine Reihe von Zwischenfälle in Südossetien. Ein Polizeikonvoi wurde beschossen. Dörfer lagen unter Mörserfeuer. Als das am Donnerstag zunahm, rief Saakaschwili den Generalsekretär der Nato de Hoop Scheffer, den europäischen Außenbeauftragten Javier Solana sowie Staatschefs wie den litauischen Präsidenten Valdas Adamkus an und schilderte ihnen seine Besorgnis.

Anschließend telefonierte er mit dem Kommandeur der russischen Friedenstruppe in Südossetien sowie mit dem Leiter der russischen Friedensmission, Yuri Popov. Beide erklärten ihm, daß sie die ossetischen Separatisten nicht mehr unter Kontrolle hätten. Diese seien nicht ansprechbar und würden nicht ans Telefon gehen.

Dann teilte der amtierende russische Außenminister mit, daß die Separatisten die Feindseligkeiten begonnen hätten und daß Rußland versuchen würde, die Situation zu beruhigen.

Saakaschwili sagte den Russen daraufhin, daß Georgien eine einseitige Feuerpause erklären würde und daß sie ihrerseits etwas unternehmen sollten. Diese Feuerpause verkündete Saakaschwili in der Nacht zum Freitag im georgischen Fernsehen.



Das Telefonat mit dem Generalsekretär der Nato

Für die Glaubwürdigkeit Saakaschwilis ist nicht unwichtig, daß er immer wieder Telefonate mit internationalen Partnern zitiert. Die folgende Aussage wurde vom Gesprächspartner auf Anfrage von Newsweek nicht dementiert, sondern sein Büro lehnte einen Kommentar mit dem Verweis auf die Vertraulichkeit des Gesprächs ab:
When I called the secretary- general of NATO, I said, "Look, this is happening. Conditions are nasty." I said the Russians are being helpful. They are trying to stop the separatists. And you know what he told me? He said, "I don't think so. I think this is a Russian game." He was right and I was wrong.

Als ich den Nato- Generalsekretär anrief, sagte ich: "Schauen Sie, dies und jenes ist im Gang. Die Dinge stehen nicht gut." Ich sagte, die Russen würden helfen. Sie würden versuchen, die Separatisten zu stoppen. Und wissen Sie, was er mir sagte? Er sagte: "Das glaube ich nicht. Ich glaube, das ist das Spiel der Russen". Er hatte Recht, und ich hatte Unrecht.


Der Beginn des Kriegs

Es liefen Meldungen ein, wonach russische Panzer und gepanzerte Truppentransporter durch den Tunnel nach Südossetien eindrangen, der es mit Nordossetien verbindet:
Finally we said, "OK, the only way to stop this convoy was to open artillery fire." We did not have enough military on the ground to start a ground assault. So we did fire at that convoy, and we fired at Tskhinvali. But before that, and every international observer saw that, there were several hours of barrage, to which we didn't respond. And in the meantime, we were trying to get international involvement.

Schließlich sagten wir: "OK, wir können diesen Konvoi nur durch Artilleriefeuer stoppen". Wir hatten nicht genügend Truppen im Feld, um einen Bodenangriff zu beginnen. Also feuerten wir auf diese Truppen, und wir beschossen Tschinvali. Aber zuvor - und jeder internationale Beobachter sah das - hatte es mehrere Stunden Sperrfeuer gegeben, auf das wir nicht geantwortet hatten. Und in der Zwischenzeit hatten wir versucht, ein internationales Eingreifen zu erreichen.


Der Verlauf des Kriegs bis Montag

Die Stadt Gori in Zentralgeorgien lag unter heftigem Feuer. Es wurde gezielt der dortige Marktplatz bombardiert, um - so Saakaschwili - Panik zu verbreiten.

Der Hafen Porti wurde ebenfalls von den Russen beschossen. Als russische Flugzeuge im Anflug auf die Hafenstadt Batumi waren, befahl Saakaschwili, die Stadt zu verdunkeln. Die Bomben verfehlten die Stadt und fielen ins Meer.

In Ostgeorgien warfen die Russen Bomben in der Nähe der Pipeline ab. Es wurden Militärbasen sowie verschiedene Bahnhöfe ohne jede militärische Bedeutung bombardiert.

Drei russische Piloten wurden gefangengenommen, von denen einer verletzt in einem Krankenhaus in Tiflis liegt. Zwei wurden tot geborgen. Andere konnten sich mit dem Schleudersitz retten, als ihr Flugzeug abgeschossen wurde.



Rußlands Absichten

Saakaschwili ist der Meinung, daß der Krieg nicht um Südossetien oder Abchasien geführt wird, sondern um Georgien selbst:
I think they want the whole of Georgia. They have clearly said through different diplomats at different levels that they want the annihilation of Georgia. (...)

And they've always been after us here. They couldn't care less about South Ossetia. President Putin told me the first time I met him he had never heard about South Ossetia. (..)

They need control of energy routes from Central Asia and the Caspian. They need seaports. They need our transportation infrastructure. And primarily, they want to get rid of us. They want to make regime change. And they want to get rid of any democratic movement in this part of their neighborhood. That's it, period.

Ich glaube, daß sie ganz Georgien wollen. Sie haben durch verschiedene Diplomaten auf verschiedenen Ebenen klar gesagt, daß sie die Beseitigung von Georgien wollen. (...)

Und sie waren hier immer auf uns aus. Südossetien könnte ihnen nicht gleichgültiger sein. Als ich Präsident Putin das erste Mal traf, sagte er mir, daß er noch nie von Südossetien gehört hätte. (...)

Sie brauchen die Kontrolle über Wege des Energietransports von Zentralasien und dem Kaspischen Meer. Sie brauchen Seehäfen. Sie brauchen unsere Verkehrs- Infrastruktur. Sie wollen einen Regimewechsel. Und sie wollen jede demokratische Bewegung in diesem Teil ihrer Nachbarschaft loswerden. Das ist es. Punkt.


Ich habe dieses Interview relativ ausführlich paraphrasiert und zitiert, weil es mir eine historische Quelle zu sein scheint. Wie jede historische Quelle natürlich der Quellenkritik bedürftig.

Saakaschwili stellt naturgemäß einseitig die georgische Sicht dar, wie sie am Montag bestand. Aber er nennt auch viele konkrete Einzelheiten, die nachprüfbar sind.

In The Outside of the Asylum findet man eine penible Rekonstruktion der Abläufe, soweit es dafür bisher Quellen gibt. Sie deckt sich außerordentlich gut mit dem, was Saakaschwili in dem Interview darlegt.

Was ich gestern im zweiten Teil dieses Artikels als das größte Rätsel dieses Kriegs gesehen hatte - warum Georgien in die Falle tappte, durch den Einmarsch nach Südossetien den Russen einen Vorwand zum Eingreifen zu liefern -, das findet damit eine banale Auflösung: Es war gar nicht so, daß die Georgier zuerst einmarschierten und Tschinwali beschossen. Sondern der Krieg begann damit, daß russische Truppen am frühen Morgen des 8. August durch den Roki- Tunnel nach Südossetien eindrangen.

Die Welt ist, wenn das so stimmt, einer russischen Propaganda- Lüge aufgesessen. Nicht nur war Georgien nicht der Angreifer, sondern es hat noch nicht einmal - wie ich gestern noch vermutete - präventiv gehandelt. Es reagierte erst, als russische Truppen schon im Land standen.



Und noch ein Punkt, in dem ich mich vermutlich gestern geirrt habe: Ich hatte als Erklärung für ein präventives Vorgehen Georgiens angenommen, daß dessen Militär von Ergebnissen der US- Aufklärung über den russischen Aufmarsch Kenntnis hatte.

Zumindest für den Beginn des Angriffs in den Morgenstunden des 8. August traf das, wenn man Saakaschwili folgt (und der Rekonstruktion in The Outside of the Asylum), nicht zu. Die Georgier wurden überrascht.

In "Zettels kleinem Zimmer" hatte das gestern R.A. richtig so vermutet, und ich hatte ihm zu Unrecht widersprochen.



Für Kommentare zu diesem Artikel gibt es einen Thread in "Zettels kleinem Zimmer". Dort findet man auch eventuelle Aktualisierungen und Ergänzungen.

12. August 2008

Hintergründe des Kriegs in Georgien (2): Rußlands Rückkehr zu einer imperialen Politik? Nebst der Stellungnahme von Präsident Saakaschwili

Wer seine Informationen nur aus den deutschen Medien, vor allem dem deutschen TV bezieht, der wird vermutlich einem der beiden im ersten Teil beschriebenen Master Narratives über die Hintergründe des Kriegs in Georgien zuneigen: Daß er von Georgien durch den Versuch begonnen wurde, Südossetien zurückzuerobern; oder daß man in einer Eskalation der Gewalt in diesen Krieg geschlittert ist.

Wer seine Informationen aus internationalen Medien bezieht, der wird vermutlich die dritte Möglichkeit zumindest ernsthaft in Betracht ziehen:

Drittes Master Narrative: Rußland will einen Beitritt Georgiens zur Nato verhindern und das Land unter seine Kontrolle bringen

Dieses Interpretationsschema ist in der angelsächsischen Presse weit verbreitet; ja seine Richtigkeit wird nachgerade als selbstverständlich vorausgesetzt, wie zum Beispiel gestern von William Kristol in der New York Times, der nur noch fragt: "Will Russia Get Away With It?", wird Rußland damit davonkommen?

Beispiele für dieses Master Narrative habe ich schon in früheren Beiträgen zitiert:

In einem Editorial vom Sonntag schrieb die Washington Post, das Vorgehen Rußlands sei eine Reaktion auf die Weigerung der Nato im April, Georgien den Status eines Aufnahme- Aspiranten (Membership Action Plan) zu gewähren.

Rußland wolle jetzt der Nato klarmachen, daß Georgien für eine Mitgliedschaft zu instabil sei, hieß es in dem Editorial, und das Land damit wieder unter seinen Einfluß bringen. Auch eine vollständige Eroberung Georgiens und den Sturz der Regierung schloß die Washington Post als Moskaus Kriegsziel nicht aus.

In dieselbe Richtung geht das, was gestern hier an Stimmen aus dem UK zu lesen war:

Der ehemalige britische Europaminister Denis MacShane sieht wie William Kristol in dem Angriff auf Georgien den Versuch, an die imperiale Politik der Sowjetunion anzuknüpfen: "Once again, Russia threatens peace, stability, the rule of law and the rights of sovereign democracies on its border"; wieder einmal bedrohe Rußland den Frieden, die Stabilität, die Gesetzlichkeit und die Rechte souveräner Demokratien an seinen Grenzen.

Und der Rußlandexperte Owen Matthews meinte, von jetzt ab werde Moskau jede weitere Verstärkung des westlichen Einflusses an seinen Grenzen unterbinden und seinerseits sein Einflußgebiet auszuweiten versuchen.

Einzelheiten, die diese Interpretation stützen, berichtete Helene Cooper am Sonntag in der New York Times. Condoleeza Rice habe Putin aufgefordert, die territoriale Integrität Georgiens zu respektieren:
What did Mr. Putin do? First, he repudiated President Nicolas Sarkozy of France in Beijing, refusing to budge when Mr. Sarkozy tried to dissuade Russia from its military operation. "It was a very, very tough meeting," a senior Western official said afterward. "Putin was saying, 'We are going to make them pay. We are going to make justice.'"

Then, Mr. Putin flew from Beijing to a region that borders South Ossetia (...) The Russian message was clear: This is our sphere of influence; others stay out. (...)

"What the Russians just did is, for the first time since the fall of the Soviet Union, they have taken a decisive military action and imposed a military reality," said George Friedman, chief executive of Stratfor, a geopolitical analysis and intelligence company. "They’ve done it unilaterally, and all of the countries that have been looking to the West to intimidate the Russians are now forced into a position to consider what just happened."

Was tat Putin? Zunächst wies er den französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy in Peking zurück. Als Sarkozy Rußland von seiner Militär- Operation abzubringen versuchte, bewegte er sich nicht: "Es war ein sehr, sehr hartes Zusammentreffen", sagte danach ein westlicher Sprecher. Putin sagte immer wieder: 'Wir werden sie bezahlen lassen. Wir werden Recht schaffen.' "

Danach flog Putin von Peking in ein Gebiet an der Grenze zu Südossetien (...) Die russische Botschaft war klar: Dies ist unsere Einflußsphäre; da hat niemand sonst etwas zu suchen. (...)

"Was die Russen jetzt getan haben, ist, daß sie erstmals seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion eine entscheidende Militäraktion durchgeführt und militärische Realität erzwungen haben", sagte George Friedman, der Leiter von Stratfor, einer Gesellschaft für geopolitische Analysen und Informationen. "Sie haben es unilateral getan, und alle die Länder, die damit gerechnet hatten, daß der Westen die Russen einschüchtern würde, werden jetzt gezwungen, zu bedenken, was gerade passiert ist."



Was ist von diesen drei Master Narratives zu halten? Wirklich klären wird sich das allenfalls dann, wenn weitere Informationen vorliegen, vor allem solche aus den Berichten von Geheimdiensten. Solange das nicht der Fall ist, kann man nur Erwägungen zur Plausibilität anstellen. Hier sind einige:
  • Die drei Interpretationen schließen einander nicht völlig aus. Im Prinzip könnte es sein, daß der tatsächliche Ablauf Elemente von allen dreien enthielt. Daß beispielsweise beide Seiten zwar Pläne für diesen Krieg in ihren Schubladen hatten, daß aber eine unkontrollierte Eskalation dazu führte, daß diese Pläne jetzt umgesetzt wurden. Auch ein Plan von Tiflis, Südossetien jetzt zurückzuerobern, ist nicht unbedingt unvereinbar mit einem Plan Moskaus, Georgien zu demütigen und aus der Nato herauszuhalten.

  • In einer Zeit der Satellitenaufklärung ist es unwahrscheinlich, daß nicht beide Seiten über den Aufmarsch der jeweils anderen voll informiert waren. (Ich setze jetzt voraus, daß Erkenntnisse der USA den Georgiern zur Verfügung gestellt wurden). Daß die Georgier darauf vertrauten, Rußland würde eine Rückeroberung Südossetiens unter dem Druck der USA tatenlos hinnehmen (wie es Jürgen Gottschlich unterstellt), ist also sehr unwahrscheinlich. Man mußte in der Nacht zum Freitag in Tiflis wissen, daß Teile der 58. Armee Rußlands einmarschbereit standen.

  • Dann ist aber ein Hineinschliddern in den Krieg unwahrscheinlich. Als Micheil Saakaschwili den Befehl zum Einmarsch nach Südossetien gab, mußte er davon ausgehen, daß die Russen militärisch antworten würden.

  • Warum tat er es dann aber? Warum tappte Saakaschwili in die Falle, wie es Owen Matthews formulierte? Das ist das große Rätsel dieses Kriegs. Daß Georgien gegen die russische Armee einen sehr schweren Stand haben würde, liegt auf der Hand. Hätte Saakaschwili die Auseinandersetzung mit Rußland dennoch gesucht, dann hätte er das gewiß nicht getan, solange noch 3000 Mann Elitetruppen Georgiens im Irak standen.

  • Wahrscheinlicher erscheint es deshalb, daß dieser Einmarsch - der ja nach einem anfänglich angekündigten Waffenstillstand befohlen wurde - der Versuch war, für eine bevorstehende Auseinandersetzung mit der russischen Armee wenigstens günstige Voraussetzungen zu schaffen. Sinn würde das machen, wenn die Georgier Informationen gehabt hätten, daß der Angriff der Russen bevorstand.

  • Für einen russischen Angriffsplan sprechen die mehrfachen Ankündigungen Rußlands (siehe den ersten Teil, dort unter dem 3. und 4. August genannt), es werde nicht tatenlos bleiben. Im Nachhinein erscheint das wie die vorbereitende Rechtfertigung eines Einmarschs.

  • Auch das Timing spricht dafür, daß Rußland der Aggressor ist und Georgien ihm lediglich zuvorzukommen versuchte. Denn wenn Rußland die Erhebung Georgiens zum Nato- Aspiranten (Membership Action Plan) verhindern wollte, dann stand es wegen der für Dezember vorgesehenen Entscheidung unter Zeitdruck. Georgien dagegen hätte, falls es eine militärische Lösung in Südossetien suchte, warten können, bis seine Elitetruppen aus dem Irak zurück sind.
  • Plausibilitätsüberlegungen, gewiß. Nicht mehr. Ich habe mir die Freiheit genommen, sie zur Diskussion zu stellen, weil ich den Eindruck habe, daß viele Kommentatoren in Deutschland noch nicht einmal Plausibilitätsüberlegungen anstellen, sondern die russische Version blind übernehmen.



    Audiatur et altera pars. Im Wall Street Journal hat Präsident Saakaschwili gestern den Beginn des Kriegs aus georgischer Sicht geschildert:
    Our friends in Europe counseled restraint, arguing that diplomacy would take its course. We followed their advice and took it one step further, by constantly proposing new ideas to resolve the conflicts. (...)

    Our offers of peace were rejected. Moscow sought war. In April, Russia began treating the Georgian regions of Abkhazia and South Ossetia as Russian provinces. Again, our friends in the West asked us to show restraint, and we did. But under the guise of peacekeeping, Russia sent paratroopers and heavy artillery into Abkhazia. Repeated provocations were designed to bring Georgia to the brink of war.

    When this failed, the Kremlin turned its attention to South Ossetia, ordering its proxies there to escalate attacks on Georgian positions. My government answered with a unilateral cease-fire; the separatists began attacking civilians and Russian tanks pierced the Georgian border. We had no choice but to protect our civilians and restore our constitutional order. Moscow then used this as pretext for a full-scale military invasion of Georgia.

    Unsere europäischen Freunde rieten zur Zurückhaltung und argumentierten, daß die Diplomatie ihren Gang nehmen werde. Wir folgten ihrem Rat und gingen noch einen Schritt weiter, indem wir regelmäßig neue Ideen vorschlugen, um die Konflikte zu lösen. (...)

    Unsere Friedensangebote wurden zurückgewiesen. Moskau suchte den Krieg. Im April begann Rußland damit, die georgischen Regionen Abchasien und Südossetien als russische Provinzen zu behandeln. Wiederum baten uns unsere Freunde im Westen, Zurückhaltung zu üben, und wir folgten dem. Aber Rußland schickte unter dem Deckmantel von Friedenstruppen Fallschirmjäger und schwere Artillerie nach Abchasien. Wiederholte Provokationen dienten dem Zweck, Georgien an den Rand eines Kriegs zu bringen.

    Als das scheiterte, wandte der Kreml seine Aufmerksamkeit nach Südossetien und befahl seinen Statthaltern dort, ihre Angriffe auf georgische Stellungen zu eskalieren. Meine Regierung antwortete mit einem einseitigen Waffenstillstand; die Separatisten begannen Zivilisten anzugreifen, und russische Panzer stießen zur georgischen Grenze vor. Wir hatten keine Wahl, als unsere Zivilisten zu schützen und die verfassungsmäßige Ordnung wieder herzustellen. Moskau benutzte das dann als Vorwand für eine breit angelegte militärische Invasion Georgiens.



    Nachtrag: Inzwischen hat im Blog "The Outside of the Asylum" Califax den Ablauf der Ereignisse penibel rekonstruiert.

    Das Beste, das ich dazu gelesen habe. Da leistet ein Blogger das, was man von den professionellen Journalisten eigentlich erwarten sollte.

    Wenn man sich diesen Ablauf ansieht, dann ist die dritte Master Narrative nicht nur die wahrscheinlichste, sondern sie erscheint als die überhaupt einzige, die mit den Details der Vorgänge im Einklang steht.



    Für Kommentare zu diesem Artikel gibt es einen Thread in "Zettels kleinem Zimmer". Dort findet man auch eventuelle Aktualisierungen und Ergänzungen. - Siehe auch die Diskussionen in diesem Thread zum selben Thema.

    Hintergründe des Kriegs in Georgien (1): In den Krieg geschliddert? Oder gepokert und verloren?

    Nicht nur im Wahlkampf gibt es die Konkurrenz um das Master Narrative, das Rahmenschema, das bestimmt, wie die Auseinandersetzung interpretiert wird, wie die Protagonisten gesehen werden. Im wirklichen, im blutigen Kampf des Kriegs ist es nicht anders. In der Weltöffentlichkeit eine bestimmte, nämlich die eigenen Sicht auf den Krieg zu verbreiten, ist unter Umständen nicht weniger wichtig als der militärische Erfolg.

    Im Irak-Krieg wollten die USA das Rahmenschema vermitteln "Saddam Hussein bedroht mit seinen WMDs, die er an Terroristen weitergeben kann, die Welt und muß deshalb gestürzt werden". Die Gegner der USA verbreiteten - weitaus erfolgreicher - das Master Narrative "Die imperialistischen USA greifen den Irak an, um dessen Öl in ihren Besitz zu bringen und den Nahen Osten zu beherrschen".

    Jetzt, wo der Krieg in Georgien kaum vier Tage alt ist, wird bereits ebenso heftig um die Herrschaft über seine Interpretation gerungen. Zwei Master Narratives stehen sich gegenüber. Und es gibt noch ein drittes, das von niemandem beworben wird, weil es niemandem nützt, wenn die Menschen es für das richtige halten. Mit ihm beginne ich.



    Erstes Master Narrative: Man ist in diesen Krieg geschliddert.

    Die Metapher vom Schliddern in den Krieg wurde bekanntlich in Bezug auf den Ersten Weltkrieg geprägt. Unter Historikern hat sie nur wenige Anhänger, wie überhaupt Historiker Zufälle nicht mögen; kein Wissenschaftler mag sie. Sie suchen lieber nach Ursachen, nach Hintergründen, nach Plänen, die die eine oder die andere Seite schmiedete und die den Krieg zumindest als Option einschlossen; etwa den "Griff nach der Weltmacht".

    Vielleicht gab und gibt es diese Pläne auch für den jetzigen Krieg. Aber sehen wir zunächst die Möglichkeit eines Hineinschlidderns an.

    Die Vorgänge, die am vergangenen Freitag zur offenen militärischen Konfrontation zwischen Rußland und Georgien führten, habe ich in der Nacht zum Samstag so zusammengestellt, wie sie (mir) damals bekannt waren. Inzwischen gibt es eine detaillierte Chronologie im Nouvel Observateur. Hier die wichtigsten Ereignisse seit Juli:
    Seit Anfang Juli kommt es in Südossetien zu Scharmützeln zwischen Rebellen und georgischen Truppen, an denen sich die Seiten gegenseitig die Schuld geben.

    9.-10. Juli: Condoleezza Rice besucht Georgien und fordert zur Einstellung dieser Kämpfe auf. Am 10. Juli überfliegen russische Kampfflugzeuge Südossetien. Georgien ruft daraufhin seinen Botschafter aus Moskau zurück.

    15. Juli: Sowohl Rußland als auch Georgien beginnen mit Manövern im Grenzgebiet.

    21. Juli: Georgische Truppen nehmen in Südossetien vier Personen fest. Laut Georgien sind es Drogenhändler. Südosseten sprechen von einer Entführung.

    25. Juli: Bei der Explosion einer Autobombe in Südossetien kommt ein Mensch ums Leben.

    1. August: Bei einem Gefecht mit georgischen Truppen kommen sechs Menschen ums Leben. Nach georgischen Angaben wurden die Georgier von ihnen angegriffen.

    3. August: Rußland warnt vor einem "größeren Konflikt" und beschuldigt Georgien, Truppenbewegungen vorzunehmen.

    4. August: Es findet ein Gespräch zwischen den stellvertretenden Außenministern Georgiens und Rußlands statt. Der Letztere äußert die russische "Besorgnis über unverhältnismäßige Anwendung von Gewalt". Die Regierung der selbsternannten "Republik Südossetien" gibt bekannt, daß sie nach blutigen Zwischenfällen mit der Evakuierung von Kindern begonnen hätte. Tiflis bezeichnet das als Propaganda.

    5. August: Rußland teilt mit, daß es sich nicht "abseits halten" könne, wenn die Spannungen weiter stiegen.

    6. August: Die beiden Seiten beschuldigen sich gegenseitig, bei Zwischenfällen das Feuer eröffnet zu haben.

    7. August: An diesem Tag kommen ein Dutzend Menschen bei Kämpfen ums Leben. Georgien und die "Republik Südossetien" vereinbaren ein Gespräch.

    8. August: In der Nacht beginnt Georgien eine Offensive gegen Südossetien. Putin kündigt "Gegenmaßnahmen" an. Russische Panzer und LKW- Kolonnen werden von Wladikawkaz im russischen Nordossetien aus in Marsch gesetzt.

    9. August: Der georgische Präsident erklärt, sein Land sei im Krieg. Das georgische Parlament beschließt einen Kriegszustand von 15 Tagen. Rußland meldet die Einnahme von Tschinwali.
    Dieser Ablauf ist vereinbar mit einem Master Narrative, wonach keine Seite den Krieg plante, sondern dieser aus sich gegenseitig steigernden Gewaltakten schließlich hervorging. Der Krieg wäre danach die Folge des Versagens von Krisenmanagement.



    Zweites Master Narrative: Georgien hat gepokert und verloren.

    Dieses Interpretationsschema wird von den Russen vertreten. Wer den Sender Russia Today einschaltet, der bekommt es rund um die Uhr nahegebracht. Auch in den deutschen Medien ist dieses Master Narrative weit verbreitet. Eine der klarsten Darstellungen hat Jürgen Gottschlich gestern in der taz publiziert:
    Michail Saakaschwili hat sich verspekuliert. Der am Freitag letzter Woche begonnene Versuch, die seit 1992 abtrünnige Provinz Südossetien mit Waffengewalt wieder unter georgische Kontrolle zu bringen, ist blutig gescheitert. (...) Was also hat den georgischen Präsidenten getrieben und worauf hat er spekuliert? (...)

    Noch gibt es dazu keine verlässlichen Informationen, aber offensichtlich ist Saakaschwili davon ausgegangen, dass seine US-Unterstützer, allen voran US-Präsident George W. Bush, dafür Sorge tragen würden, dass Russland so lange stillhält, bis die von den USA aufgerüsteten und trainierten georgischen Truppen in Südossetien neue Fakten geschaffen haben.
    Rußland tat aber, so wäre diese Interpretation fortzusetzen, Saakaschwili diesen Gefallen nicht, sondern schuf seinerseits mit seinem Eingreifen neue Fakten.

    Nach dieser Master Narrative ist man in den Krieg nicht hineingeschliddert, sondern er wurde von Tiflis geplant. Geplant allerdings nur als ein Krieg in Südossetien, der aber ungeplant ein Eingreifen Rußlands nach sich zog.

    Eine dritte Interpretation nimmt dagegen an, daß der Krieg von Anfang an von Moskau beabsichtigt wurde und das Vorgehen der Georgier lediglich den Vorwand für seinen Beginn lieferte.

    Auf diese Möglichkeit gehe ich im zweiten Teil ein, in dem ich auch eine Bewertung der konkurrierenden Erklärungen versuchen werde.

    (Fortsetzung folgt)



    Für Kommentare zu diesem Artikel gibt es einen Thread in "Zettels kleinem Zimmer". Dort findet man auch eventuelle Aktualisierungen und Ergänzungen. - Siehe auch die Diskussionen in diesem Thread zum selben Thema.