17. August 2025

W. B. Yeats, "Das Drehen des Seils" (1892/1904)





(Von den sechs Radierungen, die Yeats' Vater John Butler Yeats (1839-1922) für den Band "The Secret Rose" angefertigt hat, ist dies die einzige, die eine der Erzählungen um Hanrahan den Roten illustriert)

"Das Drehen des Seils" (1904)

Als Hanrahan eines Tages die Straßen nahe Kinvara entlangwanderte, während der Tag sich dem Ende zuneigte, vernahm er den Klang einer Geige, der aus einem Haus kam, das ein wenig seitab lag. Er wandte sich dem Pfad zu, der zum Haus führte, denn es zählte zu seinen Gewohnheiten, daß er in jedem Haus, in dem Musik und Tanz und gute Gesellschaft auf ihn warteten, einkehrte. Der Herr des Hauses stand in der Tür, und als Hanrahan näher kam, erkannte er ihn und sprach: „Ein Willkommen will ich dir entbieten, Hanrahan, denn lange bist du nicht mehr bei uns zu Gast gewesen.“ Aber die Hausherrin trat in die Tür und sprach zu ihrem Mann: „Es wäre mir recht, wenn Hanrahan heute Nacht bei uns nicht zu Gast bei uns einkehren würde, denn bei den Priestern hat er keinen guten Namen, oder unter den Frauen, die ihren eigenen Geschäften nachgehen, und so, wie er geht, hat er mehr als einen Tropfen getrunken.“ Doch der Mann sagte: „Ich werde niemals Hanrahan, dem Dichter, die Tür weisen,“ und er bat ihn, hereinzukommen.

Es waren zahlreiche Nachbarn im Haus versammelt, und manche erinnerten sich an Hanrahan; aber einige der jungen Burschen, die sich in die Ecken drückten, kannten ihn nur vom Hörensagen, und sie drängten sich nach vorn, um ihn sich gut anzusehen, und einer von ihnen sagte: „Ist das nicht jener Hanrahan, der die Schule geleitet hat, und der von IHNEN entrückt worden ist?“ Aber seine Mutter hielt ihm mit der Hand den Mund zu, und hieß Ihn, still zu sein und nicht von solchen Dingen zu sprechen. „Denn Hanrahan wird ungehalten,“ sagte sie, „wenn man diese Geschichte erwähnt, oder wenn ihn jemand danach fragt.“ Und einigen von ihnen meldeten sich zu Wort und baten ihn um ein Lied, aber der Hausherr sagte, daß es nicht an der Zeit war, ihn um ein Lied zu bitten, bevor er sich nicht ausgeruht hatte, und er reichte ihm ein Glas Whiskey, und Hanrahan dankte ihm und leerte es auf seine Gesundheit.

Der Geiger stimmte seine Fiedel für einen weiteren Tanz, und der Hausherr sagte zu den jungen Leuten, daß sie erst dann wüßten, was Tanzen ist, wenn sie Hanrahan tanzen gesehen hatten, denn dergleichen hätte es hier nicht mehr gegeben, seit er das letzte Mal hier gewesen sei. Hanrahan sagte, daß er nicht tanzen würde, er wüßte jetzt einen besseren Gebrauch für seine Füße, die ihn durch die fünf Provinzen Irlands trugen. Als er dies gesagt hatte, trat Oona, die Tochter des Hauses, durch die Halbtür herein, in den Armen trug sie Torf aus Connemara für das Feuer. Sie warf sie auf den Herd, und die Flammen schlugen empor, und ließen sehen, daß ihr Gesicht sehr anmutig war und daß sie lächelte, und zwei oder drei der jungen Männer standen auf und baten sie um einen Tanz. Aber Hanrahan ging zu ihr und schob die anderen beiseite, und sagte, daß sie mit ihm tanzen müsse, nach dem langen Weg, den er gereist war, bevor er sie gesehen hatte. Und vielleicht flüsterte er ihr noch einige angenehme Worte ins Ohr, denn sie erhob keinen Einwand, und trat zu ihm, und ihre Wangen erröteten leicht. Andere Paare standen ebenfalls auf, aber als der Tanz anhob, warf Hanrahan zufällig einen Blick nach unten, und er bemerkte, daß seine Schuhe ausgetreten und zerschlissen waren, und die groben Wollsocken durch das Leder zu sehen waren, und er sagte zornig, daß der Tanzboden schlecht sei und die Musik nichts taugen würde, und er setzte sich nieder in den Schatten, der neben dem Herdfeuer herrschte. Und das Mädchen setzte sich neben ihn. ­

Der Tanz ging weiter, und als er zu Ende war, rief man nach einem neuen, und niemand achtete eine Weile auf Hanrahan und Oona, die in ihrer Ecke saßen. Aber die Mutter wurde unruhig, und sie rief Oona zu, daß sie kommen und ihr beim Decken des Speisetischs in der guten Stube helfen sollte. Noch niemals hatte Oona nicht auf ihr Wort gehört, und sie sagte, daß sie in Kürze kommen würde - aber noch nicht jetzt, denn sie lauschte jedem Wort, das Hanrahan ihr ins Ohr flüsterte. Immer unruhiger wurde die Mutter, und sie schlich sich in ihre Nähe, unter dem Vorwand, das Feuer zu schüren oder vor dem Herd zu kehren, und sie hörte zu, was der Dichter ihrem Kind sagte. Einmal hörte sie ihn den Deirdre mit den weißen Händen erzählen, und wie sie den Söhnen Usnachs zum Verhängnis wurde, und wie die Röte in ihren Wangen nicht so rot war wie das Blut der Königssöhne, das für sie vergossen wurde, und wie ihr Schmerz niemals in Vergessenheit geraten war; und er sprach davon, daß es vielleicht die Erinnerung an sie war, der den Ruf des Regenpfeifers tief im Moor so traurig im Ohr der Dichter klingen ließ wie die Klage der Jungen Krieger um einen verlorenen Gefährten. Und wenn die Dichter nicht ihre Schönheit in ihren Versen besungen hätten, hätte es keine solche Erinnerung an sie gegeben. Und beim nächsten Mal konnte sie nicht gut hören, was er zu ihr sagte, aber soweit sie es verstehen konnte, klang es wie Dichtung, auch wenn es sich nicht reimte, und sie hörte ihn dies sagen: „Der Mond und die Sonne sind der Mann und das Mädchen, sie sind mein Leben und dein Leben, sie wandern auf ewig über den Himmel, als wenn sie unter einem Dach lebten. Gott hat sie füreinander geschaffen. Mein Leben und dein Leben hat er bestimmt, noch bevor es die Welt gab, er hat sie geschaffen, damit sie gemeinsam über die Welt ziehen, aufgehen und untergehen, wie die beiden besten Tänzer, die den langen Boden der Tenne hinauf und hinab tanzen, frisch und voller Lachen, wenn all die anderen schon erschöpft sind und sich an die Wand gelehnt ausruhen.“

Die alte Frau ging zu ihrem Mann, der Karten spielte, aber er schenkte ihr keine Beachtung, und so ging sie zu einer den Nachbarsfrauen und fragte: „Können wir sie denn nicht irgendwie auseinanderbringen?“ und ohne auf eine Antwort zu warten, wandte sie sich an ein paar der jungen Männer, die im Gespräch vertieft waren und fragte sie: „Was taugt ihr denn, wenn ihr es nicht schafft, daß das schönste Mädchen in diesem Haus mit euch tanzt? Und jetzt tummelt euch alle,“ sagte sie, „und seht zu, ob ihr sie nicht von dem Gerede des Dichters loseisen könnt.“ Aber Oona weigerte sich, auf einen von ihnen zu hören, sondern machte nur eine Handbewegung, als wenn sie sie wegscheuchen wollte. Dann traten sie vor Hanrahan und sagte zu ihm, daß er endlich mit dem Mädchen tanzen solle, oder sie mit einem von ihnen tanzen lassen solle. Als Hanrahan dies hörte, sprach er zu ihnen: „Ihr habt recht. Ich werde jetzt mit ihr tanzen; niemand in diesem Haus darf mit ihr tanzen außer ich selbst.“

Dann erhob er sich mit ihr, und führte sie an der Hand auf den Tanzboden, und einige der jungen Männer waren verärgert, und einige von ihnen machten sich über machten sich über seine zerrissene Jacke und seine löchrigen Schuhe. Aber er achtete nicht darauf, und auch Oona achtete nicht darauf, sondern sie blickten einander an, als ob es sonst niemanden auf der Welt gäbe. Aber ein anderes Paar, das wie zwei Liebende beieinander gesessen hatte, kam ebenfalls auf den Tanzboden, hielt sich an den Händen und begann, die Füße im Takt der Musik zu bewegen. Aber Hanrahan wandte ihnen den Rücken zu, als ob er zornig wäre, und anstatt zu tanzen begann er zu singen, und während er sang, hielt er ihre Hand, und seine Stimme wurde lauter, und der Spott der jungen Männer verstummte, und der Geiger hörte auf zu spielen, und es war nur noch seine Stimme zu hören, die wie der Nachtwind klang. Das was er sang, war ein Lied, das er bei seinen Wanderungen auf Slieve Echtge gehört oder gemacht hatte, und soweit es sich in englische Worte fassen läßt, klang es so:

Der Todes Knochenfinger
Hier findet er uns nicht
In dieser Stadt im Hochland
Wo laut die Liebe spricht.
Wo Zweige Früchte tragen
An jedem Tag im Jahr
Und Flüsse überschäumen –
Vor Bier, rot, braun und klar.
Ein Alter spielt den Dudelsack
Im goldnen Waldgepränge
Und Königinnen mit Eisblick
Sie tanzen in der Menge.

Und während er sang, drängte sich Oona näher an ihn, und die Farbe war aus ihren Wangen gewichen, und ihre Augen waren nicht länger blau, sondern grau von den Tränen, die darin standen, und jeder der sie sah, hätte sofort erkannt, daß sie bereit war, ihm bis ans Ende der Welt zu folgen.

Aber einer der jungen Männer rief: „Vom welchem Land singt er da? Gibt acht, Oona, bis dorthin ist es ein weiter Weg, und die Reise wird lange dauern, bevor du dein Ziel erreichst.“ Und ein anderer sprach: „Du wirst nicht mit ihm ins Land der Jugend gehen, sondern in die Sümpfe von Mayo.“ Oona sah ihn an, als wolle sie ihn danach fragen, aber er hob ihre Hand, die in der seinen ruhte, und rief zwischen den Strophen: „Es liegt nah, dieses Land, zu allen Seiten liegt es, vielleicht auf dem kahlen Hügel hinter uns, oder im Herzen des Waldes.“ Und er sagte es, laut und klar: „Im Herz des Waldes – oh, der Tod soll uns nie finden, im Herzen des Waldes. Und gehst du mit mir dorthin, Oona?“ sprach er.

Und während er dies sagte, waren die beiden alten Frauen zur Tür hinausgeschlüpft, und Oonas Mutter weinte, und sie sagte: „Er hat sie mit einem Bann belegt. Wie bringen wir die Männer dazu, ihn aus dem Haus zu weisen?“

“Das steht nicht in deiner Macht,“ sagte die andere Frau, „denn er ist ein gälischer Dichter, und du weißt sehr gut, daß ein gälischer Dichter dein Haus mit einem Fluch belegt, der das Getreide auf den Feldern verdorren und die Milch der Kühe versiegen läßt, wenn man ihn davonjagt – auch wenn es sieben Jahre dauern mag, bis der Fluch eintrifft.“

„Gott stehe uns bei,“ sprach die Mutter, „warum habe ich nur zugestimmt, daß er unsere Schwelle überschritten hat, bei dem schlechten Ruf, den er hat!“

„Wäre er draußen geblieben, so wäre euch kein Schade geschehen, aber es wird euch nicht gut ankommen, ihn mit Gewalt fortzujagen. Doch hör mir gut zu. Ich habe einen Plan, wie wir ihn dazu bringen, daß er das Haus aus freien Stücken verläßt, ohne daß ihn jemand dazu zwingen muß.“

Nicht lange darauf kamen die beiden Frauen wieder ins Haus, und beide trugen sie ein Bündel Stroh in ihrer Schürze. Hanrahan sang jetzt nicht, aber er flüsterte sehr eifrig und leise mit Oona, und dies sagte er: „Das Haus ist schmal, aber die Welt ist weit, und es gibt keinen wahren Liebenden, der die Nacht scheut oder den Morgen oder die Sonne und die Sterne oder die Schatten oder den Abend oder sonst etwas auf Erden.“ „Hanrahan,“ sprach da die Mutter, und faßte ihn an der Schulter, „magst du mir für einen Moment zur Hand gehen?“ „Tu uns den Gefallen,“ sagte die Nachbarsfrau, „hilft uns, aus diesem Stroh ein Seil zu drehen, denn du hast geschickte Hände, und ein Windstoß hat das Dach des Heuschobers gelockert.“

“Das will ich für euch tun,“ sagte er, und er nahm den kleinen Stock in die Hände, und die Mutter gab das Stroh aus, und er drehte es zu einem Seil, er aber tat es überhastet, denn er wollte die Arbeit hinter sich haben und wieder davon frei sein. Die Frauen sprachen miteinander, und gaben weiter Heu aus, und lobten seine Arbeit, und sagten ihm, welch ein guter Seiler er doch sei, besser als ihre Nachbarn und alle, die sie im Leben gekannt hatten. Und Hanrahan sah, daß Oona ihm zusah, und er drehte noch flinker, mit hocherhobenem Kopf, und lobte die Geschicklichkeit seiner Hände, und die Gelehrsamkeit, über die er verfügte, und die Kraft seiner Arme. Und während er sich so lobte, tat er Schritt um Schritt rückwärts, drehte das Seil, bis er zur offenen Tür hinter sich kam, und trat gedankenlos über die Schwelle und stand auf dem Weg. Und kaum war er dort, sprang die Mutter auf, warf ihm das Seil nach, schlug die Tür und die Halbtür zu und schob den Riegel vor.

Sie war sehr zufrieden mit ihrem Werk und lachte laut, und die Nachbarn lachten ebenfalls und lobten sie. Aber sie konnten hören, wie er an die Tür schlug, und Flüche ausstieß, und die Mutter mußte Oona daran hindern, die nach dem Riegel griff, um wieder zu öffnen. Sie gab dem Geiger ein Zeichen, und er begann einen Tanz, und einer der jungen Männer verlor keine Zeit, sondern nahm Oona in den Arm und stürzte sich mit ihr unter die drehenden Paare. Und als der Tanz zu Ende und die Geige verstummt war, war nichts mehr zu hören, denn auf der Straße blieb es still wie zuvor.

Was Hanrahan betrifft, so wurde ihm klar, daß er ausgesperrt worden war und daß es für ihn in dieser Nacht weder ein Obdach noch Speise und Trank und auch kein Mädchen geben würde, das ihm Gehör leihen würde, und der Zorn und der Mut verließen ihn, und er zog seines Wegs, bis er ans Meer gelangte, wo die sich Wellen am Strand brechen.

Er setzte sich auf einen großen Stein, und begann den rechten Arm hin und her zu schwingen und langsam zu singen, so wie er es stets tat, um sich aufzumuntern, wenn ihm alles andere mißglückt war. Und ob er dort am Strand das Lied erdachte, das bis heute als „Das Drehen des Seils“ bekannt ist und das mit den Worten anhebt: „Welche tote Katz‘ bracht‘ mich an diesen Platz?“ oder ob es anderswo und zu anderer Zeit geschah, das weiß kein Mensch zu sagen.

Aber nachdem er so ein Weilchen gesungen hatte, schienen sich Nebel und Schatten um ihn zu ballen, die aus dem Meer aufstiegen und darüber hinzogen. Und es schien ihm, daß einer der Schatten die königliche Frau war, die er in ihrem Schlaf auf Slieve Echtge gesehen hatte – und sie schlief nicht länger, sondern verspottete ihn, und rief denen, die hinter ihr kamen, zu: „Er war schwach, er war schwach, er war ohne Mut.“ Und er spürte die Fasern des Seils noch in seiner Hand, und er drehte es weiter, und es war ihm, als ob er allen Kummer der Welt mit hineinflocht. Und es schien ihm, als ob sich das Seil im Traum in eine große Wasserschlange verwandelt hätte, die aus dem Meer an Land gekrochen war und sich um ihn wand, eng und immer enger, und wuchs und wuchs, bis sie die ganze Erde und den Himmel umschlungen hatte und die Sterne nur das das Glitzern ihrer Schuppen waren. Dann war er wieder frei, und ging seines Wegs, am Strand entlang, zitternd und schwankend, und die grauen schatten flogen und wogten um ihn herum. Und dies ist es, was sie sagten: „Es ist ein Jammer, daß er den Ruf der Töchter der Sidhe verschmäht, denn bis zum Ende des Lebens und aller Zeiten wird er keinen Trost in der Liebe der sterblichen Frauen finden, und die Kälte des Grabes wird immer in seinem Herzen sein. Er hat den Tod gewählt – so laßt ihn sterben, laßt ihn sterben, laßt ihn sterben.“

* * *

„Das Drehen des Seils und Hanrahan der Rote“ (1892/1897)

Hanrahan dachte über seinen Streit mit dem Priester und mit seinen aufgebrachten Nachbarn nach und kam zu dem Schluß, daß Rache nicht in seiner Macht lag, und er entschloß sich, nach Westen aufzubrechen, denn dort lebte das alte gälische Irland noch, und die gälischen Dichter wurden noch in Ehren gehalten. Er schnitt sich einen Prügel aus einem Heckenzweig und begab sich auf die Reise, verrichtete hier ein Tagwerk und sang da um ein Dach über dem Kopf, und während er so die englische Sprache und die englischen Sitten hinter sich ließ, wurde er zu einem neuen Menschen. War er denn nicht der letzte aus der ruhmreichen Reihe der Dichter, die ungebrochen bis zu Sancan Torpeist zurückreichte (der die Große Katze beinahe gefressen hätte) und weiter bis zu Oisin, dessen Herz drei Jahrhunderte überirdische Liebe gekannt hatte? Wenn die Sonne sinkt, gibt es einen Augenblick und dem alle Männer stattlich wirken und alle Frauen schön, und wie er so Tag für Tag ziellos dahinzog, geriet er tiefer und tiefer in diese keltische Dämmerung, in der sich Himmel und Erde so vermischen, daß beide einen Schatten der Schönheit des anderen anzunehmen scheinen. Sie erfüllte seine Seele mit einer Sehnsucht nach etwas, für das er keinen Namen wußte, und weckte in ihm einen Durst nach Erlebnissen, die er sich nie hatte vorstellen können. Zur Mitternacht badete er am Fuß des runden Hügels, unter dem Balor vom bösen Auge schläft (er gedachte der Zeit nicht, da seine Krieger seine Augenlider anhoben, die er infolge der Schwäche des Alters nicht mehr öffnen konnte, auf daß sein furchtbarer Blick auf die Kämpfer der Danaan falle, um sie in Stein zu verwandeln), und während er im ruhigen Meer schwamm, lachte er und ließ sein Lied zu den ziehenden Wolken emporsteigen, bis sie ihn wie die schemenhaften Leidenschaften schienen, von denen sein Herz bewegt wurde; und er sehnte sich danach, die silbernen Pfeile der Sternschnuppen zu spüren, die sie durchbohrten. Er verbrachte eine Nacht in der Höhle, in der Grania ein wenig Frieden vergönnt gewesen war, bevor der wilde Eber Dermot tötete, und der Zauber des alten weißhaarigen Finn erfaßte ihn, wie er sie erfaßt hatte, und während er dort lag, schien es ihm, als würde er mit den riesigen Schatten eins werden, daß er körperlos wurde und das kraftlose Leben jener Mächte durchlebte, die nie eine körperliche Gestalt angenommen haben. Die ganze Nacht hindurch erschienen sie in seinen Träumen, gekrönt mit Rubinen, mit Rosen in den Händen, und am Morgen erwachte er, gekleidet in grobe Bauernkluft, vor Kälte zitternd auf dem harten Boden.

Schließlich begann ihm die Gesellschaft anderer Menschen zu fehlen, und besonders die Gegenwart einer Frau. In der folgenden Nacht klopfte er an die Tür eines weißgetünchten Bauernhauses, die von Holunder umrankt war, und fragte die hochgewachsene Frau mit dem roten Gesicht, die ihm auftat, um eine Mahlzeit und Obdach.

„Mein Name ist Hanrahan, und man nennt mich ‚den Roten,‘ damit man mich nicht mit dem ungebildeten Reimeschmied verwechselt, den sie ‚den Gälen‘ heißen, und ich habe ‚Yellow Shawn‘ und noch viele andere Lieder geschrieben, die man überall da kennt, wo man der gälischen Zunge zuhört, und ich möchte euch um einen Teller voll Fleisch und ein Bett für die Nacht bitten.“

„Die Steine meines Hauses werden sich glücklich schätzen, und auch das gelbe Riet auf dem Dach, wenn sie wissen, daß Owen Hanrahan hier am Rauchfang sitzt. Doch aus welchem Grund seid Ihr hierhergekommen, um Euer Brot unter Fremden zu brechen?“

“Ein Teufel ist mir in die Fußsohlen gefahren,“ gab der Dichter zur Antwort, während er den Kopf einzog, um unter dem Türsturz hindurch einzutreten. Dabei sang er leise vor sich hin:

Nie traf mein Blick das Fräulein Ruh
Die mit roter Kappe nickt
Denn die Winde, die die Sterne wecken
Haben mein Herz erquickt.
Nie sah ich je das Fräulein Ruh
Allein und ruhgestillt
Denn die Worte, die den Blitz erwecken
Haben mein Herz erfüllt.

Er sang sein Lied bis zum Ende, und trat in die Mitte des Raums, bevor er die Grußworte „Gott segne jeden hier“ sprach und als Antwort „Möge Gott auch dich segnen“ aus zahlreichen Kehlen vernahm. Viele Gesichter umringten ihn, und in einer Ecke begann ein Geiger ein Lied zu spielen. Er blickte sich um, und an den Schlüsselblumen, mit denen die Türschwelle bestreut war, erkannte er, daß es der Abend des ersten Mai war, und daß hier der Sommeranfang mit Tanz und Musik begrüßt wurde. Sein Blick schweifte von den Schlüsselblumen zu einem träumerisch dreinblickenden jungen Mädchen, das am Herdfeuer saß. Ihre großen Augen trafen die seinen, und sie errötete. Er setzte sich neben sie, und bevor noch die Nachricht die Runde gemacht hatte, daß sich Hanrahan der Rote die Ehre gab, hatte er begonnen, ihr in seinem tiefen musikalischen Irisch Komplimente zu entbieten. Und noch bevor der Geiger erschöpft eine Pause einlegte und einen Zug aus dem Tonkrug nahm, der in Greifweite stand, hatte er ihre Schönheit mit der weißen Deirdre verglichen, und hatte ihr von den Träumen erzählt, die die Schritte Adenes ins düstere Königreich der Shee lenkten; und er ließ sie eine Freue spüren, in die sich Schwermut mischte, denn während er so sprach, war sie gewiß, daß auch sie eine Königstochter aus der alten Linie war, und die ungeschlachten Tänzer um sie herum waren die Schatten auf ihrem Weg in der Verbannung. Noch bevor der Geiger wieder innehielt und den Krug an die Lippen führte, behielt die Frau mit dem roten Gesicht ihre Tochter scharf im Blick, und ließ sie den ganzen Abend nicht aus den Augen, und immer noch tuschelten die beiden miteinander, achteten nicht auf Geige und Tanz, und die Röte flog über die Wagen des Mädchens wie ein stürmischer Sonnenuntergang.

Um Mitternacht wurde ein großer Strauch auf die Mitte der Straße gezogen und mit Feuerstein und Stahl in Brand gesetzt, denn wenn Feuer vom Herd geholt worden wäre, hätte es den bösen Mächten Macht über alle verliehen, die sich unter diesem Dach versammelt verliehen hatten, ungeachtet der ausgestreuten Schlüsselblumen. Die Flammen loderten empor, und die Feiernden begannen, ihn langsam zu umkreisen, und sie folgten jemandem, der einen hölzernen Reifen trug, der mit Quittenblättern und Sumpfdotterblumen umwunden war und in dessen Mitte zwei kleine Kugeln hingen, die eine in Gold- und die andere in Silberpapier gehüllt, die die Sonne und den Mond darstellten. Sie bewegten sich mit langsamen Schritte von links na hc recht und sangen dabei eine irische Weise. Hanrahan und das junge Mädchen standen in der Tür, zu sehr ineinander vertieft, um sie dem Tanz anzuschließen. „Der Mond und die Sonne,“ sagte er, „das sind der Mann und das Mädchen. Das sind meine Seele und deine. Sie ziehen gemeinsam über den Himmel, sie genügen sich selbst. Gott hat sie füreinander geschaffen. Er schuf Sonne und Mond, er schuf meine Seele und die deine, lange bevor er die Welt schuf, und er schuf sie für einen langen Liebestanz.“

„Man sagt, daß du ein arges Leben geführt hast,“ antwortete sie.

„Aber das,“ gab er ihr zur Antwort, „tat ich nur, weil ich niemals jemandem begegnet bin, der so gut und rein ist wie du.“

Und während er ihr solche süßen Worte ins Ohr flüsterte, wie es seit Anbeginn der Welt geschehen ist, änderte sich der Tanz, und die Tänzer warfen den Reif mit den Quitten und Dotterblumen beiseite und umtanzten das Feuer mit raschen schlängelnden Schritten, und ihr Lied wurde lauter und wilder.

„Sieh doch,“ rief er, „der Schlangentanz, der Tanz, den die weisen Druiden erfunden haben. Gleicht er nicht dem Kommen und Gehen der Leidenschaft? Hörst du sie nicht tief in deinem Herzen: ‚Auf, fort von hier, weit fort, ganz gleich wohin, wohin es auch sei‘? Ich vernehme sie stets. Und du und ich, wir gehen auf Wanderschaft, immer weiter fort. Vernimmst du nicht den Ruf der weißen Landstraßen, die uns immerfort rufen? Wir werden dem Kuckuck zuhören, wird werden sehen, wie die Lachse in den Flüssen springen, wir werden unser Lager unter den grünen Eichenblättern aufschlagen.“ Und er sang mit leiser Stimme diese Worte aus einem irischen Liebeslied: „Nie trifft uns der Tod im Herzen des Waldes.“ Er sah ihr ins Gesicht, und die Schatten der Tänzer hüllten es abwechselnd in Dunkelheit oder ließen den hellen Feuerschein darauf fallen. „Und sollte uns der Tod finden, was macht das schon? Und durchnässt uns der Regen, was macht das schon? Und bläst auch der Wind, was macht uns das schon? Wir haben gefunden, weshalb der Wald sein grünes Dach dehnt und die Sterne ihr Licht entzünden.“ Er neigte sich zu ihr herab und küßte ihre Stirne, und zog sie näher an sich.

Die Bauersfrau hatte ihre beste Bekannte, Bridget Purcell, zur Seite gezogen, und sie tuschelten miteinander, verborgen im Schatten eines Heuschobers, und sie zeigten mit dem Finger auf die beiden, als das Feuer jäh aufloderte und sie aus der Finsternis riß. „Vielen Mädchen hat er das Herz gebrochen,“ sagte sie, „und viele Mädchen tragen schwer an den schlechten Erinnerungen an ihn. Ay, an vielen bittere Mienen trägt er die Schuld. Viele sind es, die er abgebracht hat von ihren Gebeten und vom Nähen und Stopfen und Flicken und dem Ausfegen der Stube und von ihrem Platz am Rauchfang weggelockt hat mit seiner süßen Zunge.“

“Das ist wohl wahr, Margaret Brien,“ sagte die andere; „aber wenn du einen irischen Dichter des Hauses verweist, so werden die Leute darüber tratschen, und es wär eine schändliche Tat.“

„O ich wünschte, ich hätte ihn niemals eingelassen.“

„Du hättest ihn draußen stehen lassen können, denn dein Haus ist das deine, und eins steht dir noch frei: nutz deinen Mutterwitz, damit er durch die Tür tritt, und schließ sie hinter ihm. In alten Tagen hätte der Fluch eines Sängers das Korn in der Erde verdorren lassen und die Euter der Kühe ohne Milch gelassen; aber wenn du achtgibst und keine Sünde begehst, kann es sein, daß dir kein Leid widerfährt. Sieben Jahre mußt du dich in Acht nehmen, aber wenn du freigiebig bist gegen die Armen, und dem Priester seinen Zehnten zahlst, versinkt der Fluch in der Erde oder im Meer und schmilzt dahin, oder trifft ihn selber, wenn das achte Jahr anbricht.“

„In deinen Worte liegt Weisheit, Bridget; sage mir doch, wie ich ihn dazu bringe, durch die Tür zu treten.“

„Raff dir ein Bündel Stroh zusammen, und ich werde es dir gleichtun, und dann verrate ich dir, was wir tun werden, während sich die Nachbarn auf den Heimweg machen, um schlafen zu gehen, denn jetzt beginnt es schon zu dämmern.“

Nach kurzer Zeit trat Margaret Brien wieder in die Stube und traf niemanden mehr als Hanrahan und das Mädchen, die am Feuer saßen und miteinander tuschelten. Und jedem Arm trug sie ein großes Bündel Stroh. Sie legte eines davon neben der Tür ab und sprach dann: „Owen Hanrahan, würdest du so gut sein und mir helfen, diese Strohbündel zu einem Seil zu drehen? Ein Windstoß hat den Heuschober abgedeckt, und ich sähe es gern, wenn der Schaden behoben ist, bevor mein Mann vom Markt heimkommt.“

„Ay, mit Freuden,“ sagte Hanrahan, ging hinüber zu dem Bündel, das neben der Tür lag, und zog ein Büschel heraus. Als er es ungefähr auf einen Fuß Länge zu einem Strick gedrillt hatte, gab er eines der Enden Margaret Brien zu halten, und das Schlagen des Seils begann. Sie flochten immer neues Stroh aus den Bündeln hinein, und vorsichtig stellte sich Margaret Brien so, daß Hanrahan mit dem Rücken zur Tür stand. Das Seil wurde länger und länger, bis schließlich die Füße des Dichters die Schwelle berührten, und länger und länger wurde es, bis er draußen auf der Straße stand. Margaret Brien wartete, bis er neben der glimmenden Asche des Strauchs stand, und dann lief sie unversehens zur Tür, schlug sie zu und schob den Riegel vor.

„Mögen sich die Raben und die Krähen und die Raubvögel an deiner Leiche gütlich tun! Mögen die Teufel deine Seele holen, und mögest du für alle Ewigkeit auf den rotglühenden Kohlen der Hölle schmoren!“ schrie er und schlug gegen die Tür.

„Es trifft sich gut für uns,“ sprach Margaret Brien zu ihrer Tochter, „daß heute Nacht die Schlüsselblumen auf der Schwelle gestreut und daß Quittenzweige ins Dachstroh geflochten sind!“ Bald darauf hörte das Hämmern gegen die Tür auf, und sie hörte, wie Hanrahan sich schnellen Schritts entfernte.

Er ging hinunter zum Meer, und während er so ging, wich sein Zorn einer tiefen Schwermut. Zahllose Gedanken und Empfindungen stiegen in ihm auf. Am Ufer machte er halt, setzte sich auf einen großen Stein nieder, fing an, seinen rechten Arm hin und her zu schwenken und leise vor sich hin zu singen. Wie so häufig suchte er dort Trost, wo er ihn oft gefunden hatte: in Reimen und in Musik, denn wie viele der irischen Dichter war er ebenso bekannt für seine Verse wie für seine Melodien. Er ersann die Strophen und die Melodie, die den Namen „Das Drehen des Seils“ tragen, und während er sie ersann, änderten sich seine Träume und wurden tiefer, bis er schließlich über das Flechten des Seils des Kummers der Menschen sang. Graue Gestalten, halb sichtbar und halb nur zu ahnen, schienen sich um ihn zu versammeln und auf dem Meer zu wandeln. Und unter ihnen war Cleena von den Wogen, nicht länger entstellt durch menschliche Gestalt, sondern lachend und spottend mit einer Krone aus Rubinen. Und es schien ihm, als ob sich das Seil der menschlichen Sorgen in seinem Traum in eine große Schlange verwandelte, die sich um ihn schlang und sich immer fester um ihn wand, bis sie die ganze Erde und das Firmament erfüllte und, und die Sterne das Glitzern auf ihre Schuppen waren. Er stand auf und taumelte am Meeresufer entlang, und es schien ihm, als die die grauen Gestalten ihn im Flug endlos umkreisten. Und sieh da! – sie sangen: „Kummer ist das Los dessen, der die Liebe der Töchter der Dana verschmäht, und die Liebe der Töchter Evas wird ihm kein Trost sein. Das Feuer in seinem Herzen lodert vergeblich. Verstoßen sei er, verstoßen, verstoßen!“

* * *

I.

In meinem letzten Posting habe ich erwähnt, daß Yeats die sechs Erzählungen um Hanrahan den Roten, die unter den 14 Texten der Sammlung „The Secret Rose“ (1897) finden, wenige Jahre später auf Anregung von Lady Gregory umgeschrieben schrieben hat, bevor sie im Mai 1905 als viertes Buch der Dun Emer Press unter dem Titel „Stories of Red Hanrahan“ als eigene Veröffentlichung erschienen. Evelyn Gleeson und Elizabeth Yeats, die das Dun Emer Studio 1902 als Werkstätte ganz im Geist von William Morris‘ Arts and Crafts Movement gegründet hatten, hatten ursprünglich geplant, die übrigen, eher mythologisch-legendär angelegten Erzählungen in einem zweiten Band herauszubringen, sahen dann aber aufgrund der unsicheren Verkaufschancen davon ab. Die Preise für die bibliophilen Ausgaben waren sowieso schon so hoch wie möglich angesetzt, und die Auflagenhöhe von 500 Exemplaren übertraf bei weitem die Zahl der eingegangenen Vorbestellungen. (Für diesen 4. Band habe ich keine Preisangabe finden können, aber William Murphy nennt in seinem Buch Family Secrets: William Butler Yeats and His Relatives, für die erste Veröffentlichung der Presse, Yeats‘ Gedichtband „In the Seven Woods,“ mit einer Auflage von 325 Exemplaren einen Verkaufspreis von 10s 6d, was dem doppelten Preis bibliophiler Erstausgaben jener Jahre entsprach und dem vierfachen Ladenpreis eines Romans – und etwa zwei vollen Monatslöhnen der jungen Frauen, die bei der Press beschäftigt waren – womit sichergestellt war, daß nur Buchhändler mit einer wohlbetuchten Käuferschicht und bibliophile Sammler als Abnehmer in Frage kamen.)

Yeats war schon bald nach dem Erscheinen von „The Secret Rose“ mit dem Stil, den er für die Fährnisse seines Barden gewählt hatte, unzufrieden: zu „literarisch,“ zu sehr dem „keltischen Dämmer“ mit seinem Fin-De-Siècle-Flair à la Walter Pater verhaftet. 1925 schrieb er in seiner Autobiographie „The Trembling of the Veil“:

In der Form, in der sie zuerst veröffentlicht wurden, waren sie in jenem unechten, komplizierten Englisch abgefaßt, mit dem so vielen von uns in den neunziger Jahren gespielt haben, und ich konnte sie nicht mehr ausstehen. Ich bat Lady Gregory um Mithilfe, und wir machten uns gemeinsam ans Werk … manchmal schlug sie eine neue Formulierung oder einen Einfall vor, manchmal ich, bis der ganze Text in jenem schlichten Englisch gehalten war, das sie bei ihren Landleuten in Galway gelernt hatte und mehr dem Alltag der Menschen dort entsprach.


Am 8 März 1904 schrieb er in ein Widmungsexemplar von „The Secret Rose“: „Ich schreibe alle Erzählungen dieses Buchs um in ganz schlichte Worte, so wie man sich auf dem Land Geschichten erzählt – das wurde auch dringend nötig.“ Isabella Augusta Persse (1852-1932), seit ihrer Heirat 1880 Lady Gregory (ihr Gatte, Sir William Henry Gregory, war 32 Jahre älter als sie), hatte ihr staatliches Herrenhaus in Coole Park in der Grafschaft Galway an der Westküste Irlands Yeats, der seit zehn Jahren seine Zeit zumeist in London verbrachte, seit 1897 für seine Aufenthalte in Irland zur Verfügung gestellt. 1901 hatten sie erste Pläne für solch eine Überarbeitung erörtert, und im Lauf des Jahres 1903 setzte sich Yeats ans Werk.

Sowohl Yeats als auch Lady Gregory sind in ihren Erinnerungen aus der Distanz von Jahrzehnten notorisch unzuverlässig, was ihre Zeitangaben betrifft, aber am 2. Januar 1904 schrieb Yeats aus den Vereinigten Staaten, wo er sich zu einer Lesereise aufhielt, an seine Schwester Lily, sie möge ihm doch bitte einen Termin für die Drucklegung nennen, und drei Wochen später heißt es in einem Brief an Lady Gregory: „Quinn möchte sich gern das Copyright für die Hanrahan-Erzählungen sichern, indem er sie im ‚Gael‘ bringt, bevor meine Schwester sie veröffentlicht. Was halten Sie davon? Für mein Schwestern entsteht dadurch kein Nachteil, und wenn ich darauf verzichte, wird Mosher wahrscheinlich einen Raubdruck auf den Markt bringen, denn ich habe den Eindruck, daß die Hanrahan-Erzählungen das Populärste sein werden, das ich in Prosa verfaßt habe.“

Wie ich in meinem letzten Beitrag angemerkt habe, hat es leider nichts, gar nichts, von dem was Yeats in Prosa verfaßt hat, auch nur in die Nähe irgendeiner „Popularität“ geschafft. Bei „Mosher“ handelt es sich um Thomas B. Mosher (1852-1923), einen aus Irland stammenden Verleger aus Portland in Maine, der 1891 damit begonnen hatte, erfolgreiche englische Titel nachzudrucken, ohne vorher die Genehmigung des Autoren einzuholen, und der in den 30 Jahren danach zum „König der Raubdrucker“ wurde. Unter den 780 Titeln, die bis 1923 erschienen, befanden sich auch mehrere von Yeats, unter anderen der Gedichtband „In the Seven Woods.“ Mosher nutzte hier eine Gesetzeslücke, nach der „limitierte“ Auflagen als „Privatdrucke“ gewertet wurden und somit keinen Copyright- und Zensurbestimmungen unterlagen, weil sie – zumindest offiziell - nicht in den Handel gelangten. In der „alten Welt“ wurde in dieser Zeit die gleiche legale Konstruktion für „Liebhaberdrucke“ genutzt, um Titel wie „Josefine Mutzenbacher,“ „Aus den Memoiren einer Sängerin“ oder „Mein geheimes Leben“ unter dem Siegel der Verschwiegenheit zu verbreiten.

II.

Ich habe mich für die zweite Geschichte aus dem Hanrahan-Zyklus entschieden, um einmal den Unterschied zwischen den beiden Fassungen vor Augen zu führen. Die erste Version ist, wie nachzulesen ist, die Endfassung von 1903 (bzw. 1905), die zweite die ursprüngliche Variante, die in dieser Form zuerst am 24. Dezember 1892 im „National Observer unter dem Title „The Twisting of the Rope” publiziert wurde und so auch als „The Twisting of the Rope and Hanrahan the Red” Aufnahme fand.

Der Unterschied im ersten und letzten Absatz der kleinen Erzählung verdankt sich dem Umstand, daß Yeats in der Fassung von 1897 die erste Geschichte, „The Book of the Great Dhoul and Hanrahan the Red“ durch einen völlig neuen Text, „Red Hanrahan,“ ersetzt hat, den ich als Auftakt dieser Serie übersetzte habe. Im alten Auftakt erwehrt sich Hanrahan (bzw. O’Sullivan, wie er in den ersten Geschichten und Gedichten noch hieß) der Nachstellungen einer Fei, eines Meerweibs, eben jener „Cleena von den Wogen,“ die eine stets handfestere körperliche Gestalt annimmt und sich für die Zürückweisung rächt, indem sie Hanrahan beim Priester des Dorfes anschwärzt und ihm der Umgang mit „unreinen Geistern“ die Exkommunikation, eine Tracht Prügel durch die Dorfbewohner und die Vertreibung in eine andere Grafschaft einträgt.

Aufmerksamen Lesern wird nicht entgangen sein, daß Hanrahan in der Fassung von 1905 auf dem Tanzboden ein Lied vorträgt, dessen erste Strophe ich bereits beim „Lied er umherirrenden Aengus“ zitiert habe und wo er heißt, daß es dort im späteren Auflagen in der fünften Erzählung, „Hanrahan’s Vision“ erklingt und dessen Verse ich der Vollständigkeit halber noch einmal anführe:

O Death's old bony finger
Will never find us there
In the high hollow townland
Where love's to give and to spare;
Where boughs have fruit and blossom
At all times of the year;
Where rivers are running over
With red beer and brown beer.
An old man plays the bagpipes
In a gold and silver wood;
Queens, their eyes blue like the ice, Are dancing in a crowd.

Hanrahans erste Verse in dieser Erstfassung lauten im Original:

I never have seen Maid Quiet,
Nodding her russet hood,
For the winds that awakened the stars
Are blowing through my blood.
I have never seen Maid Quiet
Nodding alone and apart
For the words that called up the lightning
Are calling through my heart.

In der leicht revidierten Form, in der das Gedicht Ausnahme in Yeats‘ dritte Lyriksammlung, „The Wind Among the Reeds“ (1899) fand, lautet es so:

Where has Maid Quiet gone to,
Nodding her russet hood?
The winds that awakened the stars
Are blowing through my blood.
O how could I be so calm
When she rose up to depart?
Now words that called up the lightning
Are hurtling through my heart.

III.

In meinen Fußnoten zum „Lied des umherirrenden Aengus“ habe ich erwähnt, daß manche Yeats-Spezialisten die Quelle für die „Gold- und Silberäpfel“ der Sonne und des Mondes Lady Wildes „Ancient Cures, Charms and Usages“ von 1890 ausgemacht haben. Wie aus der Urfassung unseres Textes hier erhellt, war Yeats dieser Brauch durchaus geläufig, aus welcher Quelle er dies auch haben mag. Bei Lady Wilde lautet die entsprechende Stelle:

„Der erste Mai war zu alten Zeiten die heiterste Festzeit in Irland, ein Fest, auf dem mit Tanz und Kränzen die Wiedergeburt der Natur gefeiert wurde, so wie der November die Zeit der feierlichen Schwermut und der Trauer um den Tod der Sonne war. Das Jahr war in diese beiden Abschnitte geteilt, die den Tod und die Wiederauferstehung symbolisierten, und der Jahreslauf wurde mit einem Wort bezeichnet, das „der Kreis der Sonne“ bedeutete. Das Symbol dafür war ein Reifen, der bei allen volkstümlich Umzügen mitgeführt wurde, umwunden mit Ebereschenzweigen und Sumpfdotterblumen, und in dessen Mitte zwei Kugeln hingen, die Sone und Mond darstellten und in manchen Fällen in Gold- und Silberpapier gewickelt waren. Ein solches Zeichen wird immer noch auf den Maiumzügen auf den Dörfern mitgeführt, aber die ursprüngliche Bedeutung ist in Vergessenheit geraten, als es noch dem Ball gewidmet war, wie es im alten irischen Eid heißt: „durch Sonne, Mond, Sterne und Wind.“ Beim Tanz am ersten Mai faßte sich jedermann bei der Hand und tanzte um einen großen Maistrauch, der auf einer Aufschüttung platziert worden war. Die Mädchen trugen Kränze, und die Pfeifer und Harfenspieler den Tanz lenkten. Der älteste Ritus der Welt schloß die Verehrung des Baums ein; und der Schlangenbaum war das Symbol der Weisheit, und der Tanz um den Maibusch, der die schlängelnde Bewegung der Schlange nachahmte, war Teil des alten ophitischen Rituals, die mit dem Baal verbunden war. Den Tanz und den Maibusch gibt es immer noch, aber die Musik der Feen scheint für immer verloren. In alten Tagen war sie auf jedem Hügel in Erin zu hören, und auf diese Weise lernten das Volk und die hiesigen Muskanten die schönsten Melodien. Von Carolan, dem gefeierten Barden, heißt es, daß er seine magischen Melodien empfing, als er des nachts auf einem Feenhügel schlief, als er die Musik im Traum hörte, und als er erwachte, spielte er die Lieder aus der Erinnerung. Es aber dieser Zeit herrscht Stille auf den Hügeln, und keine neuen erlesenen Melodien sind der armseligen Nationalmusik Irlands hinzugefügt worden. (Ancient Cures, Charms, and Usages, London: Ward and Downey, 1890, S. 101-103)


Die Frage lautet natürlich, hat Yeats diesen Passus gekannt? Bei den meisten solcher Herleitungen zu „Beeinflussungen“ und „Zitaten“ sind die Literaturkundler auf Mutmaßungen und mehr oder weniger deutliche Parallelen angewiesen - es sei denn, der Autor „erklärt sich,“ wie etwa im Fall von Robert Louis Stevensons „Schatzinsel“: In „My First Book: Treasure Island“ (im September 1894 in „McClure’s Magazine“ erschienen), erklärt R.L.S., daß der Fernglas, das am Ende zum (leeren) Versteck der Piratenschatzes führt, aus Edgar Allen Poes Erzählung „Der Goldkäfer“ entlehnt ist und „des Toten Mannes Kiste“ (The Dead Man’s Chest) sich Charles Kingleys „At Last: a Christmas in the West Indies“ (1871) verdankt. Doch ansonsten mutieren Literatoren in dieser Hinsicht gemeinhin von Literatenden zu Literatur-Ratenden und sind auf Formulierungen wie „möglicherweise“ oder „es liegt nahe“ angewiesen. Nicht in diesem Fall. Yeats zählte zu den guten Bekannten von Lady und William Wilde, seit er ihnen zuerst im September 1888 in William Morris‘ Heim Kelmscott House im Londoner Stadtteil Hammersmith vorgestellt worden war. In dem Empfehlungsschreiben, um das Yeats die Zunftgenossin Katharine Tynan gebeten hatte, gibt es der Hoffnung Ausdruck, „sie möge sich als so anregend erweisen wie ihr Buch ‚Ancient Legends, Mystic Charms, & Superstitions of Ireland‘,“ das 1887 erschienen war und aus dem Yeats vier Texte für eine erste Anthologie irischer Legenden und Märchen, „Fairy and Folk Tales of the Irish Peasantry“ (London: Walter Scott, 1888) übernahm. Beide waren Mitglieder der Irish Literary Society, die Yeats 1892 in London gründete, bis sich Lady Wilde im Juli 1893 aus Gesundheitsgründen aus der Leitung zurückzog. In seinen Briefen, vor allem an Tynan und Maud Gonne, erwähnt Yeats immer wieder die Gespräche, die er mit ihr geführt hat.

Vor allem aber hat Yeats Lady Wildes „Ancient Cures, (etc.)" eine ausführliche Besprechung in dem von W. E. Henley edierten „Scots Observer“ vom 1. März 1890 gewidmet, wobei er allerdings ihren glühenden irischen Nationalismus, mit dem sie für die Unabhängigkeit des Landes eintrat, unerwähnt ließ (die Ausrichtung des „Scots Observer“ war strikt gegen jegliche derartigen Separatistenbewegungen eingestellt), die in dem von John R. Frayne herausgegebenen ersten Band der „Uncollected Prose“ (Macmillan, 1970), vier engbedruckte Seiten einnimmt. Nicht zuletzt war das ein Dank für die freundlichen Besprechungen, die Lady Wildes zweiter Sohn Oscar, zu den „Fairy and Folk Tales“ und den „Wanderings of Oisin“ verfaßt hatte (in „Woman’s World,“ Februar 1889 und „The Academy,“ Nr. 882 vom 30 März 1889). Insofern darf meine Frage wohl mit „Ja“ beantwortet werden – obwohl Lady Wilde an anderer Stelle wohlwollend den aus Schottland stammenden Kritiker Sidney Smith (1771-1845) zitiert, dessen bekanntestes Bonmot lautet: „Ich lese nie ein Buch, das ich rezensiere. Man wird so leicht voreingenommen“ – ein Satz, der gemeinhin eben Oscar Wilde zugeschrieben wird.

IV.

„Ich habe den Sachsen das Angeln beigebracht – seitdem heißen sie Angelsachsen.“ König Artus (Graham Chapman) in „Die Ritter der Koskosnuß“ (1975)


Sollte sich jemand wundern, woher die phönizische Gottheit Baal (samt seiner Mitgottheit Astarte) auf einmal auf der Grünen Insel auftaucht: Lady Wilde hält sich in ihrer Tour d’horizon durch Volksbrauch und Sagenwelt an die Vorgabe des „Lebor Gabála Érenn,“ dem „Buch von der Landnahme Irlands,“ einer Kompilation aus dem 11. Jahrhundert über die mythische Vorgeschichte der Grünen Insel, die von sechs aufeinanderfolgenden Ankünften von Göttern, magischen Wesen und schließlich den Menschen zu berichten weiß, die allesamt ihren Vorgängern das Leben schwer machten. Die fünfte Kohorte waren die Túatha de Dánann, die „Kinder der Göttin Dana,“ mit ihren magischen Kräften, die die Nachgeborenen als Feen kennen; und die eigentlichen Vorfahren der heutigen Iren waren die Milesier, die aus Spanien kamen und als phönizische (bzw. karthagische) Kolonisten den Kult des Baal mitbrachten. Bis im frühe 17. Jahrhundert galt der Text als verläßliches historisches Zeugnis.

Gemäß dem „Lebor Gabàla Érenn“ sind die Milesier die Nachfahren des skythischen Königs Fénius Farsaid, der einer der 72 Häuptlinge war, die den Turm zu Babel bauten. Von seinem Enkel Goídel stammen die nach diesem benannten Goídels, die Gälen ab, die zur gleichen Zeit die das Volk Israel der ägyptischen Gefangenschaft entflohen und nach 440 Jahren Wanderschaft die Halbinsel Hibernia, also das heutige Spanien, eroberten. (Literatur-Ratende sehen darin den Versuch der mittelalterlichen Chronisten, den Vorfahren der Iren eine Parallele zu den Wanderungen des Volks Israel auf der Suche nach dem Heiligen Land anzudichten.) Goídels Nachfahre Íth, der von dem Turm, den sein Vater Breogán in der Stadt Brigantium errichtet hat, Irland erspäht hat, wird nach der Überfahrt von den drei Königen der Túatha de Danánn willkommen geheißen, dann aber bei einem Überfall getötet, und seine Männer besiegten in einem Rachefeldzug die Kinder der Danu, denen als Wohnstatt der unterirdische Bereich der Feenwelt als Exil zugewiesen wird. Bei Brigantium handelt es sich um die heutige Stadt La Coruña in Galizien, und bei dem Turm um den „Turm des Herkules,“ dem ältesten erhaltenen römischen Leuchtturm aus dem 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung, der mit seinen 57 m Höhe im Mittelalter als „Farum Brigantium“ bekannt war.



(Torre de Hércules in La Coruña. Das Standbild des Bréogan im Vordergrund ist ein Werk des 1946 in San Ciprián de Viñas - Galizisch San Cibrao das Viñas - geborenen Bildhauers Xosé Cid Menor von 1995.)



(Goídel Glas und seine Frau Scotha nach der Flucht aus Ägypten. Aus einer illuminierten Handschrift des „Scotichronicon“ von Walter Bower, geschrieben zwischen 1440 und 1447. Das Werk in 16 auf Latein verfaßten Büchern beginnt mit der Gründung Irlands und damit auch Schottlands.)

Im Metier der Literatur-Raterei gibt es, gerade in der Unterabteilung „wie uns die Alten sagen,“ den Begriff des „Euhemerismus.“ Dieser Ausdruck geht auf den Philosophen Euhemeros von Sizilien zurück, der im vierten Jahrhundert v. Chr. die Ansicht vertrat, die großen mythischen Berichte und Legenden über Götter, Heroen und mythische Ungeheuer gingen auf Kämpfe und Fährnisse normaler Sterblicher aus grauer Vorzeit zurück, die Überlieferung und Lokalstolz ganz nach Belieben ausgeschmückt hätten. Erich von Däniken (der im April seinen 90. Geburtstag feiern konnte), ist von einem skeptisch angefressenen Kritikaster schon vor einem halben Jahrhundert mit der Vokabel „Erzeuhemerist“ belegt worden, weil er schlicht alle legendäre Kulturstiftung und Wundererscheinungen als das Werk technisch etwas weiter fortgeschrittener außerirdischer Besucher gedeutet hat. Der berühmteste (oder berüchtigste) Vertreter dieser Denkschule war wohl Heinrich Schliemann, der, anders als die meisten Altertumsforscher des 19. Jhdts., in der „Ilias“ nicht einen symbolischen Kampf der Elemente und einen Gründungsmythos der griechischen Kultur sehen wollte, sondern einen mehr oder weniger historisch getreuen Bericht über Belagerung und Untergang einer Handelsstadt in Kleinasien. Ein anderer Name, der in diesem Zusammenhang zu nennen wäre, ist der des russisch/jüdisch/amerikanischen Privatgelehrten Immanuel Velikovsky (1895-1979), der in seinem Bestseller „Worlds in Collision“ (1950, dt. „Welten im Zusammenstoß“) die These vertrat, die Wunderberichte, die sich um den schon erwähnten Auszug des Volkes Israel aus der ägyptischen Gefangenschaft ranken, hätten sich tatsächlich im Buch Exodus berichtet zugetragen, und seien auf krass-konkrete astronomische Ereignisse zurückzuführen. Nämlich, daß sich der Planet Venus aus dem Jupiter gelöst hätte und als glühender Irrstern durchs innere Sonnensystem gezogen sei. Nahbegegnungen mit der Erde hätten das „Sonne stehe still zu Gibeon und Mond im Tale Ajalon“ (Josua 10, 12-13) zur Folge gehabt und der Kontakt der kohlenwasserstoffhaltigen Venusatmosphäre mit dem Sauerstoff der Erdatmosphäre hätte zum Regnen von Manna geführt. Velikovskys Problem dabei war, daß sein „Erklärungsansatz“ zahllose Gesetze der Physik und der Himmelsmechanik mit Füßen trat und ohne eine Spur an Beweisen seltsamerweise auf keinerlei Wertschätzung bei der „etablierten Wissenschaft“ stieß. Und der Name der Althistorikerin Adrienne Mayor gehört ebenfalls hierher, die in ihrem Buch „The First Fossil Hunters. Paleontology in Greek and Roman Times“ (Princeton University Books, 2000), von dem bis heute keine deutsche Übersetzung vorliegt, die wesentlich plausiblere These verficht, viele der mythischen Untiere der griechischen Sagen seien auf fehlgedeutete Fossilien zurückzuführen – so etwa die Zyklopen mit ihrem einen Auge in der Mitte der Stirn auf die Schädel von Zwergelefanten oder die geflügelten Greifen, dessen Körper, Schwanz und Hinterbeine die eines Löwen sind, während Kopf und Vorderbeine denen eines Adlers entsprechen, auf ein fehlgedeutetes Fossil eines Protoceratops.

Um auf unseren Zeitrahmen – die mythische bzw. legendäre Vergangenheit der englischen Inseln (zu denen hier aufgrund des keltischen Hintergrund Irland einmal zugeschlagen wird) – zurückzukommen, so gibt es hier in den letzten 20, 25 Jahren einen vergleichbaren Umschlag zu vermelden, allerdings in umgekehrter Stoßrichtung: daß nämlich die „alte Denkschule“ richtiger gelegen hat als ihre Nachfolger. In diesem Fall handelt es sich um die englischen, vor allem aber die deutschen Historiker, die im 19. Jahrhundert im Zug der Veröffentlichung der alten Chroniken in textkritischen Ausgaben und im Lauf der Entwicklung der Archäologie versuchten, ein wenig Licht in die Vorgänge des „Dunklen Zeitalters“ zwischen dem Ende des römischen Reichs und der Entstehung geregelter Herrschaftsformen, die den Beginn des Hochmittelalters markieren, zu bringen. Historiker wie Leopold von Ranke vertraten die Ansicht, nach der Invasion Englands durch die Angeln, Jüten und (Alt)-Sachsen unter dem Brüderpaar Hengist und Horsa (Altenglisch für „Hengst“ und Pferd“) auf Einladung des Königs Vortigern, um sein Land gegen die Bedrohung durch die Pikten aus Schottland zu schützen, von der etwa die „Angelsächsische Chronik“ (entstanden zwischen dem 9 und 12. Jahrhundert) und die „Historia Brittonum“ des Nennius (entstanden um das Jahr 828) berichten, seien weite Teile Norddeutschland „so gut wie menschenleer“ gewesen; eine erneute Besiedlung habe erst gegen Ende des 6. Jahrhunderts eingesetzt. (Für die Sicht auf Richtung des „alten Kontinents“ gibt es für diese Epoche keine schriftlichen Aufzeichnungen, da es sich bei den Germanen jener Zeit um schriftlose Völker handelte. Die Notwendigkeit des Schriftverkehrs ergab sich erst mit der Christianisierung durch die Ausbildung der Priester und Mönche und die Verwaltung nach der Eingliederung ins Karolingerreich zu Beginn der 9. Jahrhunderts. Der einzige umfangreiche auf Altsächsisch erhaltene Text, der „Heliant“ mit seinen fast 6000 Zeilen, entstanden um das Jahr 830, erzählt die Passionsgeschichte im Stil eines mündlich vorgetragenen Heldengedichts im Stil des „Beowulf“ nach und diente der Missionierung der sächsischen Notablen.)

Ab den 1950er Jahren hat sich die Historikerzunft von dieser Vision einer „geschlossenen Völkerwanderung“ aus dem norddeutschen Raum abgewandt. Keineswegs die „gesamten“ Stämme hätten damals ihre Zelte abgebrochen; es dürfte sich höchstens um ein Zehntel der Gesamtbevölkerung gehandelt haben; und in der Besiedlungsgeschichte wäre es somit zu keinem Bruch gekommen. Archäologisch ist eine solche These, wie auch ihr Gegenteil, anhand von konkreten Fundplätzen schwer zu verifizieren, da es sich hier nicht um klar auszumachende, befestigte Orte handelt, sondern um Zufallsfunde an verstreut liegenden Einzelgehöften, die keine Rückschlüsse auf die Bevölkerungsdichte oder die Gesamtbevölkerung zulassen.

Es gibt aber auch andere Analyseverfahren, die in den letzten Jahrzehnten entwickelt und ausgiebig genutzt worden sind; dazu zählen die Dendrochronologie, die anhand der typischen unterschiedlichen Wachstumsmuster eine genaue Datierung von ausreichend großen Holzfunden auf ein Jahr genau ermöglicht, und die Pollenanalyse aus den Sedimenten von Seeböden und Hochmooren, die die Zusammensetzung der damaligen Pflanzenwelt erlaubt. Und hier haben die Auswertungen der Bodenproben ab der Mitte der neunziger Jahre den eindeutigen Nachweis erbracht, daß die Vision des „menschenleeren Landes“ voll und ganz zutrifft: Zwischen den Jahren 550 und 700 gibt es kaum einen Nachweis für Getreidepollen oder andere Nutzpflanzen, auch Blumen und andere Blütenpflanzen, die auf offenes Gelände, Waldränder und freie Weideflächen angewiesen sind, finden sich kaum – was darauf schließen läßt, daß so gut wie keine, alle 10 bis 20 Jahre wiederholten Brandrodungen mehr stattfanden. Im Katalog zur Landesaustellung „Saxones“ die 2019/2020 im Landesmuseum Hannover und im Braunschweigischen Landesmuseum stattfand, schreibt Hauke Jöns in seinem Beitrag „Wüstes Land? Die Siedlungslücke des 6. und 7. Jahrhunderts in Nordwestdeutschland“:

In den schleswig-holsteinischen Landschaften Angeln und Schwansen endet die Belegung aller bislang dort bekannten, zum Teil ausgedehnten römisch-kaiserzeitlichen Gräberfelder in der Zeit um 500 n.Chr. Die Nutzung der wenigen bekannten Siedlungen bricht ebenfalls spätestens im diesem Zeitraum ab. … Aus der Folgezeit des 6 und 7 Jh.s sind aus Angeln und Schwansen nur noch vereinzelte Hort- und Grabfunde bekannt, die allesamt im Nahbereich wichtiger Verkehrswege wie der Eide und dem Heerweg entdeckt wurden. Es ist deshalb anzunehmen, dass das weitgehend unbesiedelte Gebiet zumindest als Verkehrsraum weiterhin von Bedeutung war. Eine erneute Besiedlung der Landschaft ist erst ab dem frühen 8. Jh. festzustellen. Vegtationsgeschichtliche Analysen unterstreichen auch hier zumindest für große Teile des 6. und 7. Jh.s das Szenario einer weitgehend aufgelassenen Landschaft. Die dokumentierten Pollenspektren zeigen deutlich, dass zwar während der Vorrömischen Eisenzeit und der Römischen Kaiserzeit ein ausgeprägter Getreideanbau stattgefunden hat; während des späten 5., im 6., im 7. und im frühen 8. Jh. ist jedoch stattdessen eine kontinuierliche Ausdehnung bewaldeter Flächen zu verzeichnen, während der Anteil der Pollen typischer Besiedlungsanzeiger stark abgenommen hat. Entsprechend ist zumindest von einer deutlich reduzierten Siedlungstätigkeit, wenn nicht gar von einem vollständigen Siedlungsabbruch auszugehen. Erst für die Zeit ab etwa 800 n. Chr. lassen die Pollendiagramme wieder Hinweise auf einen erneut intensivierten Getreideanbau erkennen. (Jöns 2019, 222-224)


Und die Herausgeberin des Katalogs, Babette Ludovici, faßt einleitend zusammen:

An der Küste und am Unterlauf von Weser und Elbe wirkt das Land hingegen wie ausgestorben. Aus der Zeit zwischen 550 und 700 kennen wir von dort nur sehr wenige archäologische Funde. Was ist da los? Vielerorts im norddeutschen Flachland kommt im 6 und 7 Jh. die Landwirtschaft zum Erliegen. Das haben Archäobotaniker festgestellt, die die Pflanzenwelt dieser Zeit rekonstruieren. Bei der Untersuchung von See- und Moorsedimenten, die sich damals ablagerten, sehen sie: Die Proben enthalten kaum Pollen von Getreide und anderen Nutzpflanzen, aber sehr viele Baumpollen. Das heißt: Wald breitete sich aus, Äcker und Felder verwilderten und wucherten zu. Erklärungsversuche gibt es dafür viele: Das Elbe-Weser-Dreieck ist entvölkert, seit dem 5. Jh. waren viele Menschen nach England abgewandert. Oder hat die Pest gewütet? Gab es Naturkatastrophen? 536, 540 und 547 brachen in Südostasien Vulkane aus. Gigantische Aschewolken zogen um den gesamten Globus. Bis in die 660er-Jhre wurde es in vielen Regionen der Welt kälter. Missernten und Hunger waren oft die Folge. Auch im norddeutschen Flachland? Um ehrlich zu sein. Wir wissen es nicht. (ebd. S. 221)


V.

Und für einen kurzen Zeitraum sah es so aus, als wäre in der Causa „Die Herkunft der Kelten“ eine ebensolche Wendung à la „die alten Legenden haben doch recht!“ zu vermelden. 2006 veröffentlichte nämlich Bryan Sykes, Professor für Humangenetik an der Universität Oxford, die Ergebnisse seiner Untersuchungen an der Bevölkerung der Britischen Inseln unter dem Titel Blood of the Isles (die amerikanische Ausgabe erschien im gleichen Jahr als Saxons, Vikings and Celts: The Genetic Roots of Britain and Ireland) – und der wichtigste Schluß, zudem er dort kam, war, daß die „ursprüngliche“ Bevölkerung Englands und Irlands, die die Inseln nach dem Ende der letzten Eiszeit ab dem 8. Jahrtausend v. Chr. wieder besiedelte, und die seit der römischen Zeit als „Kelten“ bekannt sind, mit ihren Namensvettern und Gallien und im Süden Germaniens genetisch keine Verwandtschaft aufweisen, dafür aber mehreren Gruppen von Fischern aus eben Hibernia, aus dem Norden von Spanien abstammen, die in der Zeit zwischen 5000 und 4000 v. Chr. in England und Irland Fuß faßten.



Sykes‘ Analyse fußte auf der genetischen Sequenzierung von 10,000 Blut- und Speichelproben, die er über fünf Jahre lang aus allen Teilen der „vier britischen Inseln“ (England, Wales, Schottland und Irland) gesammelt hatte. Dabei machte er sich einen – beziehungsweise zwei – Umstände zunutze – die schon bei der ersten solchen „Durchleuchtung“ der menschlichen Vorgeschichte, dem Nachweis der „Eva der Mitochondrien“ im Jahr 1987, eine entscheidende Rolle gespielt haben. Bei den Mitochondrien handelt es sich um die „Kraftwerke“ in tierischen (und somit auch menschlichen Zellen), die über die Umwandlung von ATP (Adenosintriphosphat) eukaryotische Zellen (also solche mit einem Zellkern) mit Energie versorgen. Jede menschliche Zelle enthält hunderte davon (die Ausnahme sind Spermatozoen und rote Blutkörperchen); bei Leberzellen machen 1000 bis 2000 davon ein gutes Fünftel des Zellvolumens aus. Bei dieser Zellorganelle handelt es sich wie bei allen Strukturen innerhalb der Zelle um das Überbleibsel eines vor Milliarden von Jahren absorbierten Einzellers, mit dem die Vorläufer der eukaryotischen Zellen eine Symbiose eingegangen sind. Die Mitochrondrien verfügen weiterhin über ihr eigenes Erbgut. Da die Mitochondrien nur eine einzige Funktion zu erfüllen haben, ist dies auf das absolute Minimum reduziert worden: in tierischen Zellen verfügen sie typischerweise über 37 Gene (bei 19800 Basenpaaren), von denen 13 die Proteine codieren, aus denen die Enzyme für die (holt tief Luft) „oxydative Phosphorilierung“ gefaltet werden. Bei der Befruchtung einer weiblichen Eizelle dringt nur der Spermienkopf (ohne Mitochondrium) durch die Zellwand. Das nun hat zur Folge, daß sämtliche Mitochondrien in unseren Körper von den etwa 100.000 in eben dieser Eizelle abstammen – und diese zurück im mütterlicher Linie bis zu den ersten eukaryotischen Zellen, deren Entstehung auf eine Zeit von 1,7 bis 2,7 Milliarden Jahre geschätzt wird. Nun kommt es auch bei diesem Erbgut, ganz wie bei der DNS, durch die üblichen Störeinflüsse wie etwa ionisierende Strahlung zu gelegentlichen Reproduktionsfehlern. Solange sie nicht zu einer Funktionsstörung der entstehenden Proteine führen, sondern etwa nur die „sinnfrei wiederholten“ Abschnitte verlängern, werden auch solche Mutationen anstandslos an die nachfolgenden Generationen weitervererbt. Bei der Erstellung eines „genetischen Fingerabdrucks“ wird die Kette der vier DNS-Bausteine Adenosin, Guanin, Cytosin und Thymin durch sogenannte Enzymscheren beim Auftreten bestimmte Reihenfolgen getrennt, „zerschnitten.“ Die unterschiedlich langen Abschnitte werden nach einem halbstündigen Bad in einer Nährlösung mit diesen vier Bausteinen von einem Einzelstrang wieder zu dem Doppelstrang, den wir als Erbmolekül kennen. Danach werden durch weitere Enzyme zwei komplementäre Einzelstränge erzeugt (A bindet sich an T; G an C) und der Vorgang über 48 Stunden wiederholt. Anschließend werden die so entstandenen Millionen von Fragmente in einem Gel einer schwachen elektrischen Spannung ausgesetzt; sie wandern, weil sie selber aufgrund der Phosphate, die sie enthalten, elektrisch negativ geladen sind, wegen ihrer unterschiedlichen Länge mit unterschiedlicher Geschwindigkeit vom Minuspol, der Anode, zum Pluspol, der Anode. Anschließend wird das Gel schockgefrostet und die Verteilung der unterschiedlich langen Abschnitte mit Hilfe einer Röntgen-Elektronenmikroskops festgestellt. Dieser „genetische Fingerabdruck“ enthält also keinerlei Information über die tatsächliche Funktion dieses speziellen Erbguts, aber anhand der abweichenden (oder sich gleichenden) Muster lassen sich Verwandtschaftsverhältnisse und spezifische Muster bei unterschiedlichen Ethnien und Bevölkerungen feststellen.

In seinem ersten populär abgefaßten Buch zu diesem Forschungskomplex, „The Seven Daughters of Eve“ (2001), mit dem Sykes, 1947 in Eltham geboren und 2020 in Edinburgh gestorben, diese Art der Humangenetik auf DNS-Basis in England einem größeren Publikum nahebrachte und damit für England die Rolle übernahm, die bei uns Svante Pääbo im deutschsprachigen Raum gespielt hat, wies er nach, daß fast alle Bewohner des heutigen Europa von einer von sieben weiblichen Abstammungslinien herkommen, von denen sechs mehr als 10.000 Jahre zurückreichen.

Bei der „Eva der Mitochrondrien,“ deren Nachweis Rebecca Cann, Allan Wilson und Mark Stoneking 1987 publizierten, handelte es sich um den Nachweis, daß die „gemeinsame Stammmutter,“ von der alle heute lebenden Menschen ihre Mitochondrien geerbt haben, zu einer Zeit vor 90.000 und 130.000 Jahren im östlichen Afrika gelebt haben muß. An dieser Tatsache ist nichts Überraschendes: da jeder Mensch (oder fast jeder) eine Mutter besitzt, zwei Großmütter, vier Urgroßmütter und sich diese Zahl mit jeder zurückliegenden Generation verdoppelt, und zudem die Gesamtzahl der zeitgleich auf der Erde lebenden Menschen unter den Lebensbedingungen der Steinzeit auf wenige Millionen oder gar nur Hunderttausende beschränkt war, ist eine solche Entwicklung unausweichlich – es war stets nur die Frage, wann und wo dieser Fall eingetreten ist. Immerhin wurde damit die „Out-of-Africa“-Theorie bestätigt, nach der der heutige Mensch, der Cro-Magnon-Typus, sich in Afrika entwickelt und diesen Kontinent relativ spät verlassen hat.

Für die männliche Abstammungslinie dienen in diesem Fall die Mutationen auf dem Y-Chromosom, der Geschlechtschromosom, als Indizien.





Sykes kam nun anhand seiner Auswertungen zu den folgenden Schlüssen: daß der größte Anteil der Bevölkerungen auf den „vier Inseln“ seit der „neolithischen Revolution,“ des Aufkommens des Ackerbaus um 4100 v. Chr., „standorttreu“ geblieben sei und sich aus genetischer Hinsicht nicht verändert hätte; daß sich die Pikten, also die Vorfahren der heutigen Schotten, in keiner Weise von der übrigen Bevölkerung unterscheiden; daß der genetische Eintrag, den die angelnden Sachsen in der heutigen Bevölkerung Englands hinterlassen haben, bei unter 20 Prozent liegt, daß der Einfluß der normannischen Oberschicht, die 1066 England eroberte, äußerst gering war und bei unter 2 Prozent liegt, und daß schließlich, wie schon erwähnt, die „Kelten,“ die Vorfahren der Iren und Waliser, genetisch keine nahe Verwandtschaft mit ihren Namensvettern auf dem Kontinent aufweisen, sondern die größte genetische Ähnlichkeit zu den heutigen Basken zeigen.

Allerdings haben nachfolgende Studien der genetischen Verwandtschaft der heutigen Europäer Sykes‘ Befunde nicht bestätigen können. Bei der Untersuchung der Musterähnlichkeiten der „autosomalen Gene“ (also der 22 Chromosomenpaare, die nicht für die Zweigeschlechtlichkeit zuständig sind), ergab sich eine weitgehende Übereinstimmung mit heutigen nordeuropäischen Populationen, nicht mit Basken, Spaniern oder Menschen aus dem Süden Frankreichs – und daß diese in gleicher Weise für Knochenfunde aus der Bronzezeit zutrifft. Eine Studie aus dem Jahr 2018 kommt zu dem Schluß, daß bis zu 90 Prozent der DNS der Bevölkerung der britischen Inseln während der Jungsteinzeit (deren Ende in die zweite Hälfte des 3. vorchristlichen Jahrtausends fällt) durch die von Reitervölkern aus den pontischen Ebenen am Schwarzen Meer ersetzt worden ist, die als „Schnurkeramische Kultur“ bekannt sind (Odalde et al., 2018). Das deckt sich weitgehend mit der heutigen Sicht, daß die frühen Ackerbau-Kulturen des nördlichen Europa in der Zeit zwischen 2800 und 2400 v. Chr einer gewaltigen Invasion von Reitervölkern zum Opfer gefallen ist, die in der Forschung heute als Jamnaja bekannt sind, deren markanteste heutige Hinterlassenschaft die Ausbreitung der indoeuropäischen Sprachfamilie darstellt, und die zuerst, um das Jahr 2900 v. Chr., die Triploje-Cucuteni-Kultur spurlos vernichteten, die ab dem 5. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung im Gebiet des heutigen Rumäniens und dem Süden der Ukraine (bis etwa zur Krim) entstanden war und die die ersten menschlichen Großsiedlungen der Weltgeschichte hervorgebracht hat. (Für die Siedlungen Talianki und Maidanetske in der heutigen Südukraine etwa liegen die Schätzungen für die Zeit um 3700 v. Chr bei Einwohnerzahlen zwischen 21.000 und 17.000 Bewohnern.)

Allerdings gibt es in diesem Bereich nicht nur das Scheitern einer „umstrittenen Hypothese“ zu vermelden, sondern auch eine Bestätigung davon. Zu den ersten Forschern, die die These von der gewaltsamen Auslöschung der altsteinzeitlichen Kulturen Europas durch berittene Invasoren aus dem Steppenraum östlich des Schwarzen Meeres vehement vertreten hat, gehörte die aus Litauen stammende Anthropologin und Archäologin Marija Gimbutas (1921-1994). Die „Kurgan-Hypothese“, die sie zuerst in ihrem Buch „The Prehistory of Europe“ von 1956 formulierte, ist bei ihren Zunftgenossen zu ihren Lebzeiten nicht gut aufgenommen worden. Zum Teil mag das darauf zurückzuführen sein, daß sie in ihren späteren Veröffentlichungen wie „The Goddesses and Gods of Old Europe“ (1974) oder „The Civilization of the Goddess“ (1991) allzu sehr idealisierende Züge hervorgekehrt hat, die Skeptiker zu sehr an die Romantik des „edlen Wilden“ à la Jean Jacques Rousseau gemahnten: eine matrilineare, idyllische, friedliche Jäger-und-Sammler-Kultur ohne soziale Ungleichheiten, die der brutalen Gewalt der Steppenhorden, die Himmelsgötter verehren, nichts entgegen zu setzen haben. Zahlreiche Funde aus den letzten Jahren in Europa, etwas die Ausgrabungen der Massaker von Talheim, Kilianstädten, Halberstadt und Wiederstädt, die allesamt in die Zeit um 5000 v. Chr und damit die die Anfangsphase der neolithischen Revolution zu datieren sind, haben die Vorstellung eines „friedlichen Europas“ gründlich widerlegt. Dahingegen ist Gimbutas‘ Theorie über die Ausbreitung der Kurgan-Kultur und die Vernichtung der europäischen Kulturen während der Kupfersteinzeit zwischen 3200 und 2300 v. Chr durch Bodenfunde und die Humangenetik auf ganzer Linie bestätigt worden.



(Marija Gimbutas)



(Ausbreitung der Jamnaja-Kultur)



(Rekonstruktion von Maidanetzke um 3700. Chr.)

Ergänzende Literatur:

The Secret Rose, Stories by W. B. Yeats: A Variorum Edition, hgg. Phillip L. Marcus, Warwick Gould, und Michael J. Sidnell, Ithaca und London: Cornell University Press, 1993.

David W. Anthony, The Horse, the Wheel, and Language: How Bronze-Age Riders from the Eurasian Steppes Shaped the Modern World. Princeton und Oxford: Princeton University Press, 2007.

Hauke Jöns, “Wüstes Land? Die Siedlungslücke des 6 und 7 Jahrhunderts in Nordwestdeutschland,“ in: Saxones, hg. Babette Ludovici, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2019, S. 222-229. (dort auch weiterführende Lit. zum Thema "Bevölkerungsgeschichte des 6. und 7. Jhdt.s anhand von Pollenanalysen")

William W. Murphy, Family Secrets: William Butler Yeats and His Relatives. London: Gill and Macmillan Ltd., 1995.

Iñigo Odalde, Selina Brace, Morten E. Allentoft, Ian Armit, Kristian Kristiansen, Thomas Booth, Nadin Rohland, Swapan Mallick, Anna Szécsényi-Nagy, Alissa Mittnik, Eveline Altena, "The Beaker Phenomenon and the Genomic Transformation of Northwest Europe," Nature, Bd. 555, Nr. 7695 (2018), 190–196.

Bryan Sykes, Blood of the Isles: Exploring the Genetic Roots of Our Tribal History. W. W. Norton, London, 2006.

Bryan Sykes, Saxons, Viking and Celts: The Genetic Roots of Britain and Ireland. New York: Bantam Books, 2006.







U.E.

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