Hanrahan, der Heckenschulmeister, ein großer, kräftiger, rothaariger Mann in jungen Jahren, trat in die Scheune, in der sich einige der jungen Männer des Dorfes am Abend des Samhainfests versammelt hatten. Es war eine Wohnstätte gewesen, und als der Mann, der sie besaß, sich ein besseres Haus erbaut hatte, hatte er die Zwischenwand eingerissen und nutzte den Raum, um seine Gerätschaften darin unterzubringen. Auf der alten Herdstätte brannte ein Feuer, und Kerzenstummel steckten in Flaschenhälsen, und eine schwarze Literflasche stand auf einem Brett, das jemand auf zwei Fässer gelegt hatte und als Tisch diente. Die meisten der Männer saßen nahe am Feuer, und einer von ihnen sang ein langes Lied über einen Mann aus Munster und einen Mann aus Connaught, die über den Vorrang ihrer Provinzen stritten.
Hanrahan ging zum Hausherrn und sagte zu ihm: „Ich habe deine Botschaft erhalten“ – aber als er das gesagt hatte, hielt er inne, denn ein alter knorriger Mann, der ein Hemd und eine Hose aus ungebleichter Wolle trug, und der für sich allein in der Nähe der Tür saß, warf ihm einen seltsamen Blick zu; er hielt einen abgewetzten Stoß Karten in der Hand und flüsterte vor sich hin. „Beachte ihn nicht,“ sagte der Hausherr, „das ist nur ein Fremder, der heute abend hereinkam. Wir haben ihn willkommen geheißen, weil doch heute Samhain ist, aber ich fürchte, er ist nicht ganz bei Verstand. Hör dir nur an, was er sagt.“
Sie hörten hin, und während der Alte die Karten mischte, hörten sie ihn flüstern: „Pik und Karo, Mut und Macht, Kreuz und Herz, Wissen und Freude.“
„So redet er schon seit einer ganzen Stunde,“ sagte der Hausherr, und Hanrahan wandte seinen Blick von dem Alten ab, als ob ihm sein Anblick mißfallen würde.
“Ich habe deine Botschaft erhalten,“ sagte Hanrahan. „‘Er sitzt in der Scheune, mit seinen drei Vettern ersten Grades aus Kilchreist,‘ so hat es mir der Bote ausgerichtet, ‚und einige der Nachbarn sind auch dabei.“
„Mein Vetter dort drüben möchte dich sprechen,“ sagte der Hausherr, und er rief einen Jungen Mann in einem Mantel aus grober Wolle, der dem Lied lauschte, zu sich. „Das hier ist Hanrahan der Rote, für den du eine Botschaft hast.“
„Eine gute Nachricht ist es, die ich habe“ sagte der junge Mann, „denn sie kommt von deiner Liebsten, Mary Lavelle.“
„Wie kommst du an eine Botschaft von ihr, und woher kennst du sie?“
“Ich kenne sie gar nicht, aber ich war gestern in Lochrea, und einer ihrer Nachbarn, mir dem ich ein Geschäft abschloß, sagte mir, daß sie ihn gebeten hat, dir eine Nachricht zukommen zu lassen, wenn er jemand treffen würde, der in diese Richtung reist. Sie läßt dir sagen, daß ihre Mutter gestorben ist, und wenn du gewillt bist, zu ihr zu kommen, dann will sie ihr Versprechen, das sie dir gegeben hat, einhalten.“
„Ich werde zu ihr kommen,“ sagte Hanrahan.
„Und sie läßt dich bitten, nicht zu säumen, denn wenn sie keinen Mann im Haus hat, bevor der Monat herum ist, dann wird ihr kleines Stück Land an jemand anderen gegeben werden.“
Als Hanrahan dies hörte, erhob er sich von der Bank, auf der er gesessen hatte. „Ich werde nicht warten,“ sagte er. „Es ist Vollmond, und wenn ich heute Nacht bis nach Gilchreist komme, dann erreiche ich sie, bevor die Sonne morgen untergeht.“
Als die anderen dies hörten, lachten sie, daß es jemand so eilig hatte, zu seiner Liebsten zu gelangen, und einer fragte ihn, ob er denn seine Schule in der alten Kalkbrennerei aufgeben wollte, wo er den Kindern so guten Unterricht erteilte. Aber er gab zur Antwort, daß sich die Kinder morgen freuen würden, wenn niemand auf sie warten und sie zu ihren Aufgaben anhalten würde. Und was seinen Unterricht betraf, so konnte er ihn jederzeit und überall wieder aufnehmen, denn er trug sein Tintenfäßchen an einer Schnur um den Hals und trug seinen großen Vergil und seine Fibel in der Manteltasche bei sich.
Einige baten ihn, ein Glas mit ihnen zu trinken, bevor er aufbrach, und ein junger Mann faßte ihn am Ärmel und bat, nicht zu gehen, ohne vorher das Lied zu singen, daß er zum Lob der Venus und Mary Lavelle gedichtet hatte. Er trank ein Glas Whiskey, und sagte, daß er nicht länger warten, sondern aufbrechen wolle.
„Laß dir Zeit genug, roter Hanrahan,“ sagte der Hausherr. „All diese Freuden kannst du noch aufgeben, wenn die Hochzeit hinter dir liegt, und es mag lange währen, bis wir dich wieder sehen.“
„Ich werde nicht länger bleiben,“ sagte Hanrahan. „Ich würde die ganze Zeit an den Weg denken, der mich zu der Frau bringt, die nach mir gesandt hat, und sie ist allein, bis ich zu ihr komme.“
Einige der anderen gesellten sich zu ihnen, und baten ihn, der ein so angenehmer Kamerad gewesen war, der so viele Lieder und Späße kannte, nicht aufzubrechen, bevor die Nacht zu Ende war, aber er wehrte sie alle ab, und trat an die Tür. Aber als er den Fuß über die Schwelle setzte, stand der merkwürdige Alte auf und legte seine Hand, die dünn und verkrümmt war wie die Kralle eines Vogels, auf Hanrahans Hand und sagte: „Hanrahan, der gelehrte Mann und der große Liedersänger, sollte eine solche Zusammenkunft nicht verlassen, nicht in der Nacht von Samhain. Halt ein,“ sagte er, „und spiel eine Runde mit mir. Hier ist ein altes Kartenspiel, das schon viele Nächte lang dazu getreu gedient hat, und so alt es auch sein mag, hat es doch viele von den Reichtümern der Welt gewonnen und verloren.“
Einer der jungen Männer sagte: „Bei dir sind die Reichtümer der Welt jedenfalls nicht geblieben, Alter,“ und er warf einen Blick auf die Füße des alten Mannes, der kein Schuhwerk trug, und sie lachten alle. Aber Hanrahan lachte nicht, sondern setzte sich, ohne ein Wort zu sagen. Da sprach einer von ihnen: „Also bleibst du doch noch bei uns, Hanrahan,“ und der alte Mann sagte: „Natürlich bleibt er. Hast du nicht gehört, daß ich ihn darum gebeten habe?“
Sie blickten alle den Alten an, als ob sie sich fragten, woher er gekommen war. „Von weither bin ich gekommen,“ sagte er. „Durch Frankreich bin ich gekommen, und durch Spanien, und entlang dem geheimen Zufluß am Lough Graney, und nie hat mir jemand einen Wunsch abgeschlagen.“ Darauf schwieg er erneut, und niemand mochte ihn weiter ausfragen, und sie begannen zu spielen. Zu sechst saßen sie am Spieltisch, und die anderen drängten sich um sie. Sie spielten zwei oder drei Runden ohne Spieleinsatz, und dann holte der Alte eine Vierpennymünze, die sehr dünn und blankgeschliffen war, aus der Tasche und bat die anderen um einen Einsatz. Alle legten sie etwas auf den Tisch, und obschon es nicht viel war, sah es nach mehr aus, so wie die Münzen von einem Spieler zum nächsten wanderten, als erst einer und dann sein Nachbar gewannen. Manchmal wandte sich das Glück von einem der Spieler ab und er verlor alles, und dann lieh ihm jemand etwas und er konnte es zurückzahlen, denn weder Glück noch Pech blieben einem der Spieler längere Zeit hold.
Einmal sagte Hanrahan, wie ein Mann im Traum spricht: „Es wird Zeit, daß ich mich aufmache;“ aber in diesem Moment erhielt er ein gutes Blatt und spielte es aus, und das Geld häufte sich vor ihm auf dem Tisch. Und einmal dachte er an Mary Lavelle und seufzte, und das Glück verließ ihn und er vergaß sie wieder.
Aber zuguterletzt wandte sich das Glück dem Alten zu und blieb ihm treu, und das Geld floß ihm zu, und er begann, vor sich hin zu lachen, und sang unentwegt „Pik und Karo, Mut und Macht“ und so weiter, als ob es eine Liedzeile wäre.
Und nach einer Weile hätte jeder, der den Männern beim Spiel zugesehen hätte, wie sie hin und her schwankten, wie ihr Blick gebannt auf die Hände des Alten gerichtet waren, glauben können, daß sie völlig berauscht wären, oder daß sie all ihren irdischen Besitz aufs Spiel gesetzt hätten. Doch war dem nicht so, denn die Flasche war seit Spielbeginn nicht angerührt worden und noch fast voll, und alles, was auf dem Tisch lag, waren Sechspencemünzen und Schillinge, und vielleicht eine Handvoll Kupfermünzen.
„Ihr seid gute Gewinner und gute Verlierer,“ sagte der Alte. „Ihr seid mit ganzem Herzen beim Spiel dabei.“ Und er find an, die Karten zu mischen, rasch und immer schneller, bis schließlich keine Karten mehr zu erkennen waren, sondern es aussah, als ob er Ringe aus Feuer in die Luft schrieb, wie es kleinen Jungen mit brennenden Zweigen zu tun pflegen, und es schien ihnen, als ob es um sie völlig dunkel geworden wären, und nicht mehr zu sehen war als seine Hände und die Karten.
Und nach kurzer Zeit sprang ein Hase zwischen seinen Händen hervor – und ob es nun eine der Karten war, die in diese Gestalt verwandelt worden war, oder ob er aus der Leere zwischen seinen Handflächen entstanden war, konnte niemand sagen, aber da lief er über den Boden der Scheune, so schnell wie nur je ein Hase im wirklichen Leben gelaufen war.
Einige sahen dem Hasen nach, aber mehr von ihnen hielten die Hände des Alten im Blick, und während sie hinsahen, sprang ein Jagdhund zwischen seinen Händen hervor, genau wie es der Hase getan hatte, und ein weiterer, und noch einer, bis eine ganze Meute von ihnen den Hasen rundherum im Kreis durch die Scheune jagte.
Alle Spieler waren jetzt aufgesprungen, den Rücken an die Wände gepreßt, um den Hunden Platz zu machen und fast ertaubt vom Lärm ihres Gebells. Aber so schnell die Hunde auch waren, konnten sie den Hasen nicht einholen, sondern die Hatz ging Runde um Runde, bis es schließlich schien, als ob ein Windstoß die Scheunentür aufdrückte , und der Hase setzte über die Bretter, die den Männern als Spieltisch gedient hatten, und schoß durch die Tür und hinein in die Nacht, und die Hunde sprangen über die Bretter und setzten ihm nach.
Dann rief der Alte: „Folgt den Hunden, folgt den Hunden, es ist eine große Jagd, die ihr heute Nacht zu sehen bekommt!“ und er lief ihnen nach. Aber obgleich die Männer die Hasenjagd gewohnt waren und zu jedem Spaß bereit waren, wagten sie sich nicht in die Nacht hinaus, und es war allein Hanrahan, der sich erhob und sprach: „Ich komme mit, ich folge euch.“
“Bleib besser hier, Hanrahan,” sagte der junge Mann, der ihm am nächsten stand. „Dort draußen droht dir vielleicht Gefahr.“ Aber Hanrahan sprach: „Ich spiele ehrlich, ich betrüge nicht,“ und er strauchelte zur Tür hinaus wie jemand, der träumt, und die Tür fiel hinter ihm zu.
Er glaubte, den Alten vor sich zu sehen, aber es war nur sein eigener Schatten, den der Vollmond auf den Weg vor ihm warf. Aber er konnte die Hunde hören, wie sie den Hasen über die weiten grünen Felder von Granagh hetzten, und er folgte ihnen, so schnell er konnte, denn es gab nichts, das ihn aufhielt. Nach einer Weile gelangte er zu Feldern, die von niedrigen Mauern aus lose aufgehäuften Steinen begrenzt wurden, und er stürzte sie um, während er darüber kletterte, und ließ sie so liegen, und er kam zu der Stelle in Ballylee, an der der Fluß im Erdreich verschwindet, und er hörte, wie die Hunde vor ihm auf die Flußmündung zuhielten. Bald fiel ihm das Laufen schwerer, denn der Weg führte bergauf und der Mond war jetzt von Wolken verdeckt und er konnte den Weg vor sich kaum noch erkennen. Einmal verließ er den Weg, um eine Abkürzung zu nehmen, aber sein Fuß brach an einer sumpfigen Stelle ein und er mußte zurück auf den Weg. Er wußte nicht, wie lange er so gelaufen war, und wohin ihn sein Weg geführt hatte, aber schließlich erreichte er den kahlen Berggipfel, auf dem nichts als sprödes Heidekraut wuchs. Von den Hunden war nichts mehr zu hören, und auch sonst herrschte Stille. Aber dann wurde ihr Gebell wieder hörbar, zuerst in weiter Ferne, dann in großer Nähe, und als es noch näherkam, erhob es sich in die Luft, und der Lärm der Jagd zog über seinem Kopf dahin und immer weiter nach Norden, bis er nichts mehr hören konnte. „Das ist ungerecht!“ sagte er. „Das ist ganz und gar ungerecht.“ Aber er konnte keinen Schritt mehr tun, und so setzte er sich dort wo er war nieder ins Heidekraut, im Herzen von Slieve Echtge, denn alle Kraft war von ihm gewichen, nach dem langen Weg, den er gekommen war.
Nach einer Weile bemerkte er eine Tür in seiner Nähe, aus der ein Lichtschein fiel, und er wunderte sich, daß sie ihm bisher nicht aufgefallen war. Und er stand auf, und ungeachtet seiner Müdigkeit trat er ein, und obwohl es draußen finstere Nacht war, schien drinnen die Sonne. Und nach einer Weile begegnete er einem alten Mann, der Sommerthymian und gelbe Schwertlilien pflückte. Es war, als ob alle süßen Düfte des Sommers sie umschweben würden. Und der alte Mann sprach: „Seit langem haben wir deiner gewartet, Hanrahan, gelehrter Mann und großer Sänger.“
Und mit diesen Worten geleitete er Hanrahan in ein großes Gebäude, das in der Sonne glänzte, und in dem sich all die prächtigen Dinge, von denen Hanrahan je hatte erzählen hören, fanden, in allen Farben die er kannte. Am Ende des Hauses befand sich ein großer Saal, und dort saß auf einem großen Thron eine Frau, die schönste, die die Welt je gesehen hatte, mit einem schmalen bleichen Gesicht, das von Blumen umkränzt war. Aber ihr Ausdruck war müde, als ob sie vom langen Warten erschöpft wäre. Und auf dem Stufen unter ihr saßen vier alte graue Frauen, und eine von ihnen hielt einen großen Kessel in den Händen, eine andere einen großen Stein auf den Knien, und trotz seiner Größe schien er ihr leicht zu sein; die dritte hielt einen langen Speer, der aus spitzem Holz gefertigt war, und die letzte ein Schwert ohne Scheide. Hanrahan der Rote sah sie lange Zeit an, aber keine von ihnen richtete ein Wort an ihn oder blickte ihn an. Und er wollte fragen, wer die Frau dem Thron war, die dort wie eine Königin thronte und worauf sie wartete, aber so schnellfertig er auch mit seiner Zunge war und sich vor niemandem fürchtete, scheute er sich, eine so schöne Frau anzusprechen, an solch einem prachtvollen Ort. Auch hätte er gerne gefragt, was die Dinge bedeuteten, die die vier alten grauen Frauen wie Schätze in den Händen hielten, aber die passenden Worte wollten ihm nicht einfallen.
Darauf erhob sich die erste der vier alten Frauen, die den Kessel in beiden Händen hielt, und sagte: „Freude,“ und Hanrahan sagte kein Wort. Dann stand die zweite Frau auf, mit dem Stein in ihren Händen, und sie sagte: „Macht,“ und die dritte Frau stand auf mit dem Speer in der Hand, und sie sagte: „Mut,“ und die letzte der alten Frauen stand auf mit dem Schwert in den Händen, und sie sagte: „Wissen.“ Und nachdem jede von ihnen gesprochen hatte, warteten sie, als ob Hanrahan ihnen eine Frage stellen sollte, aber es sagte nichts. Und die vier alten Frauen verließen den Raum und nahmen ihre Schätze mit sich, und während sie gingen, sagte die einen von ihnen: „Er hat keinen Wunsch an uns,“ und eine andere sprach: „er ist schwach, er ist schwach,“ und eine weitere: „er fürchtet sich,“ und die letzte sprach: „sein Verstand ist getrübt.“ Und dann sagten sie alle zusammen: „Echtge, die Tochter der silbernen Hand, muß weiterschlafen. Es ist schade, es ist jammerschade.“
Und die Frau, die wie eine Königin war, tat einen klagenden Seufzer, und es schien Hanrahan, als ob darin da Gemurmel der verborgenen Flüsse zu hören war. Und selbst wenn der Ort, an dem er sich befand, noch zehnmal so prächtig und kostbar geschmückt gewesen wär, hätte er sich gegen den Schlaf nicht wehren können, der ihn überkam, und er taumelte wie ein Trunkener und legte sich dort, wo er stand, nieder.
Als Hanrahan erwachte, schien ihm die Sonne ins Gesicht, aber auf dem Gras um ihn herum lag weißer Rauhreif, und Eis hatte sich auf dem Bach, neben dem er lag, gebildet, und der weiter nach Daire-caol und Druim-na-rod fließt. An den Formen der Hügel und am Blinken des Lough Greine in der Ferne erkannte er, daß er sich auf einem der Hügel des Slieve Echtge befand, aber er wußte nicht, wie er hierhergekommen war, denn er hatte alles vergessen, was in der Scheune vorgefallen war, und er von seinem nächtlichen Erlebnis war ihm nichts geblieben als der Muskelkater in seinen Füßen und die Klammheit in seinen Knochen.
Ein Jahr darauf saßen ein paar Männer aus dem Dorf Cappaphtagle in einem Haus an der Landstraße am Herdfeuer, und Hanrahan, der nun sehr mager und verwahrlost und dessen Haar sehr lang und verfilzt war, kam an die offene Halbtür und fragte, ob er hereinkommen und sich ausruhen dürfe, und sie baten ihn herein, weil es die Nacht von Samhain war. Er setzt sich zu ihnen, und sie füllte ihm ein Glas Whiskey aus der Literflasche, und sie sahen das Tintenfaß, das er an der Kette um den Hals trug, und wußten deshalb, daß er ein Schulmeister war und, baten ihn, ihnen Geschichten von den alten Griechen zu erzählen.
Er holte den Vergil aus der großen Tasche seines Mantels hervor, aber der Einband war von der Nässe schwarz angelaufen und aufgequollen, und die Seite, die er aufschlug, war völlig vergilbt. Aber das tat nichts, denn er sah aus wie ein Mann, der niemals lesen gelernt hat. Eine der jungen Männer in ihrem Kreis fing an zu lachen und fragte ihn, warum er solch ein schweres Buch mit sich herumschleppte, wenn er es doch nicht lesen konnte.
Es ärgerte Hanrahan, dies zu hören, und er steckte den Vergil wieder in die Tasche und fragte sie, ob sie ein Kartenspiel bei sich hätten, denn Karten sind besser als Bücher. Als sie die Karten herausholten, nahm er sie und begann sie zu mischen, und während er mischte, schien ihm etwas einzufallen, und er legte die Hand vor die Stirn wie jemand, der sich an etwas zu erinnern sucht, und er sagte: „Bin ich hier schon einmal zuvor gewesen? Wo war ich schon einmal in einer solchen Nacht?“ und schnellte hoch und ließ die Karten zu Boden fallen und sagte: „Wer hat mir die Nachricht von Mary Lavelle gebracht?“
„Wir haben dich noch nie zuvor gesehen, und wir haben nie von Mary Lavelle gehört,“ sagte der Hausherr. „Wer ist das?“ fragte er, „und wovon redest du überhaupt?“
„In der Nacht vor einem Jahr war ich in einer Scheune, und es wurden Karten gespielt, und es lag Geld auf dem Tisch, es wurde hin und her geschoben – und ich bekam eine Nachricht, und ich bin gegangen, weil meine Liebste auf mich wartete, Mary Lavelle.“ Und dann rief Hanrahan mit lauter Stimme: „Wo bin ich seitdem gewesen? Wo bin ich das ganze Jahr über gewesen?“
“Das ist schwer zu sagen, wo du in dieser Zeit gewesen bist,“ sagte der Älteste unter ihnen, „oder in welchem Teil der Welt du dich herumgetrieben hast. Du trägst wohl den Staub von vielen Straßen an den Schuhen. Es gibt viele, die so durch die Welt irren und alles vergessen,“ sagte er, “wenn sie vom Zauber angerührt worden sind.“
“Das ist wahr,” sagte ein anderer. „Ich kannte einmal eine Frau, die sieben Jahre so herumgeirrt ist, und als ihr Kopf wieder klar und sie nach Haus zurückgekehrt war, hat sie ihren Freunden erzählt, daß sie in dieser Zeit froh war, wenn sie das essen konnte, was den Schweinen in den Trog gekippt wurde. Das Beste ist es, wenn du zum Priester gehst,“ sagte er, „damit er den Fluch, der auf dir lastet, von dir nimmt.“
„Zu meiner Liebsten werde ich gehen, zu Mary Lavelle,“ sagte Hanrahan. „Ich habe schon viel zu lange gesäumt. Was mag ihr wohl im Lauf eines Jahres widerfahren sein?“
Mit diesen Worten wandte er sich zum Gehen, aber jeder riet ihm, die Nacht bei ihnen zu verbringen und Kraft für die Reise zu sammeln, und dies war ein guter rat, denn er war sehr schwach, und als sie ihm etwas zu essen vorsetzten, verschlag er es wie jemand, der noch nie zuvor eine Mahlzeit gesehen hat, und einer der Anwesen den sagte: „Er ißt, als ob er sich nur von Gras ernährt hätte.“ Er machte sich im weißen Morgenlicht auf, und es schien ihm eine lange Zeit, bis er Mary Lavelles Haus erreicht hatte. Aber als er am Ziel war, fand er die Haustür eingetreten, das Schilf bedeckte das Dach nicht mehr, und er war keine Menschenseele zu sehen. Und als er die Nachbarn fragte, was mit ihr geschehen war, konnten sie ihm nur sagen, daß sie aus dem Haus gewiesen worden war und einen Arbeiter geheiratet hatte und daß sie auf der Suche nach Arbeit nach London oder Liverpool oder irgendeine andere Großstadt gezogen waren. Aber er erfuhr nie, ob sie es dort besser oder schlechter getroffen hatte, denn er traf sie nie wieder und hörte niemals mehr etwas von ihr. (3499 Wörter)
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(Inhaltsverzeichnis der von Norah McGuiness illustritern Ausgabe der "Stories of Red hanrahan" von 1927)
Obwohl „Red Hanrahan“ seit dem Erscheinen der „Stories of Red Hanrahan“ im Mai 1905 den Auftakt des Erzählzyklus bildet, handelt es sich um den letzten Prosatext, den Yeats dieser Figur gewidmet hat. Als Yeats 1902-1903 auf Anraten von Maud Gonne daranging, die sechs kurzen Geschichten aus dem Band „The Secret Rose“ von 1897 stilistisch zu überarbeiten und sprachlich einem einfacheren, „volkstümlicheren,“ Ton anzugleichen, ersetzte er damit den ersten und frühesten Text, „The Book of the Great Dhoul and Hanrahan the Red.“ Wen der irische Dialektausdruck „dhoul“ vor ein Rätsel stellt, dem sei gesagt, daß die Erstveröffentlichung im „National Observer“ vom 26. November 1892 den Titel „The Devil’s Book“ trug. Der Leibhaftige ist ins Irische als „diabhal“ eingegangen (vom Französischen „diable“) und im Folgenden zu „divil“ oder eben „dhoul“ verschliffen worden.
Der Vorabdruck von „Red Hanrahan“ erfolgte in der dritten Ausgabe der „Independent Review“ vom Dezember 1903, die seit Oktober vom Trinity College der Universität Dublin herausgegeben wurde.
Fußnoten:
„Bevor die Sonne untergeht“: der alte keltische Tagesanfang fiel mit dem Sonnenuntergang zusammen; Samhain, das Ende des alten Jahres markiert, beginnt somit am Abend des 31. Oktober und endet mit dem Sonnenuntergang des 1. November, der zu dieser Zeit um 17:06 stattfindet. Daß zu dieser Zeit die Trennscheide zwischen der Sidhe, der „Überwelt“ und der Welt der Sterblichen durchlässiger wird, habe ich in meinem letzten Beitrag schon erwähnt.
Beim Inhalt der „Literflasche“ (im Original „quart bottle“) handelt es sich um eine Viertelgallone; nach englischen Raummaß entspricht das 1,14 Litern.
Der „junge Mann mit einem Mantel aus grober Wolle“ ist im Original ein „frieze-coated young man.“ Der Name des groben, ungefärbten Stoffs geht auf den Ausdruck „panni frisi“ (friesischer Stoff) zurück, der sich im mittelalterlichen Dokumenten findet, obwohl die grobe und damit kostengünstigere Webart erst im 14. Jahrhundert von England aus sowohl in den Niederlanden als auch in Irland eingeführt wurde.
(Gemälde von Francisco de Zurbaran)
Beim Lough Graney (Yeats verwendet noch die alte Schreibweise „Greine“ handelt es sich um den größten See in der Grafschaft East Clare, mit einer Oberfläche von gut 100 Hektar). Der Slieve Echtge (auch Slieve Aughty) ist ein Hügelzug, der sich durch die beiden Grafschaften Galway und Clare zieht; der irische Lokalpatriotismus besteht darauf, daß es sich um „Bergketten“ handelt, obwohl die höchste Erhebung, der Maghera offiziell auch als „hill“ klassifiziert, gerade einmal 400 Meter aufragt. Die Gegend gilt als recht verwunschen und naturbelassen (der Kleine Zyniker holt bei solcher Gelegenheit gern die Vokabel „strukturschwach“ aus dem Tornister), mit ausgedehnten Heidelandschaften. Die Lokalsagen bringen sie oft mit der Lady Echtge in Verbindung, den der sie ihren Namen hat. Echtge ist die Tochter des Nuada, oder Núadu Argatlám, „Nuada mit der silbernen Hand,“ der König der Túatha de Danann war und als Krüppel sein Königsamt nicht mehr ausüben durfte, nachdem er einen Arm in einer Schlacht verloren hatte. Der weiseste Arzt der Túatha, Dian Cécht, fertigte ihm daraufhin mit Hilfe des Silberschmieds Credne eine Prothese aus Silber an. Daß seine Tochter Echtge weiterschlafen muß wie ihre Kollegen Kaiser Rotbart Lobesam im Kyffhäuser, in der irischen Mythologie Fionn mac Cumhaill, König Artus, Merlin, Karl der Große, König Ogier von Dänemark, der serbische Königssohn Marko oder Wenzel von Böhmen (Volkskundler sprechen hier vom Motiv der „Bergentrückung“), dürfte nicht allzu bedauerlich sein. Die Sage sagt ihr als Lieblingsspeise Menschenfleisch nach.
Bei den Attributen, die die vier (statt drei) Nornen Hanrahan präsentieren, handelt es sich um die „vier Schätze der Tuatha Dé Danann,“ die diese mit sich brachten, als sie vor lange vor den Sterblichen auf die Grüne Insel zogen: Muirias, der Kessel des Dagda, mit dessen Inhalt jedes Heer gespeist werden konnte; Falias, der „Stein von Fál,“ der den rechtmäßigen Herrscher von Irland verkündete, indem er einen Schrei hören ließ, wenn der richtige Thronwärter auf ihm Platz nahm, Goirias, der „Speer von Lug,“ der dem Heerführer, der ihn in der Schlacht führte, den Sieg sicherte, und schließlich Findias, das Schwert Núadas, das seinen Träger unbesiegbar machte. Entre nous soit dit: wenn Hanrahan, der als Heckenschulmeister der unwissenden Dorfjugend nicht nur Lesen, Schreiben und die Grundrechenarten, sondern auch die eigenen Traditionen und Überlieferungen nahebringen soll, dadurch vor ein unlösbares Rätsel gestellt wird, dann hat er hier kläglich versagt und ist zurecht mit dem Verlust des Gedächtnisses gestraft worden.
Bei der eingangs abgebildeten Ausgabe von "Stories of Hanrahan the Red and The Secret Rose" handelt es sich um eine Ausgabe, die 1927 im Londoner Verlag Macmillan and Co. erschienen ist. Insgesamt erschien eine Auflage von 1885 Exemplaren, wahlweise in rot und blau gebunden. Illustriert wurde dieser Band von der Dubliner Künstlerin Norah McGuiness (1901-1980), die von Yeats genaue Vorgaben über Stil und Gestaltung erhielt, deren "neobyzantinischer" Stil aber bei den Käufern auf ein sehr geteiltes Echo stieß. Wie man dem Inhaltverzeichnis entnehmen kann, war dies die erste größere Buchpublikation für Yeats' heute wohl noch bekanntestes Gedicht, "Sailing to Byzantium," in dessen vier achtzeiligen, eng gereimten Strophen er seine idealistische Vision eines nie dagewesenen Byzanz als Schnittstelle zwischen der vergeblichen Sinn- und Glaubenssuche des säkularisierten Westens und der "mystischen Vision" des Ostens - mit dem hier sowohl die rituelle Aufgeladenheit der christlichen Orthodoxie als auch die Askese der ostasiatischen Religionen des Buddhismus und Hinduismus gemeint sind. Ein weiterer Ort, den Yeats in seinen Schriften aus den zwanziger Jahren auf diese Weise beschwört, ist Ravenna. Allerdings ist diese Vision für Yeats weder durch einen Besuch der Kirche von San Vitale mit ihren Mosaiken des oströmischen Kaiserpaars Justinian und Theodora oder der Hagia Sophia ausgelöst worden, sondern durch seinen Besuch des gerade neu eröffneten Rathauses in Stockholm anläßlich der Verleihung des Nobelpreises für Literatur im Dezember 1923. Die Wandfläche des Großen Festsaals der "Goldneen Halle," dem "gyllene sallen," mit ihrer Länge von 44 Metern, waren im Lauf der fünfzehnjährigen Bauzeit von dem schwedischen Künstler Einar Forseth (1892-1988) mit goldenen Mosaiken nach byzantinischem Vorbild geschmückt worden, für die er mehr als 10 Kilogramm verarbeitete, und die für den irischen Dichter eine Offenbarung darstellten.
(Norah McGuiness)
(Selbstportrait aus dem Jahr 1942)
("Gartenlandschaft," Gouache, ohne Jahr)
U.E.
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