10. August 2008

Wer sind die Adressaten des Ossetien-Kriegs? Merkel, Steinmeier, Sarkozy. Nebst einer Erinnerung an München 1938

Gestern brachte die ARD-"Tagesschau" in mehreren Ausgaben die Meldung, Südossetien gehöre zwar zu Georgien, "wird aber überwiegend von Russen bewohnt".

Das war eine krasse Falschmeldung. Tatsächlich sind - man konnte es gestern hier lesen - nur ungefähr zwei Prozent der Einwohner Südossetiens Russen. Ungefähr zwei Drittel sind Osseten, zwischen fünfundzwanzig und dreißig Prozent sind Georgier. Ein Blick in die zum Beispiel in der Wikipedia verfügbaren Daten der Volkszählungen von 1926, 1939, 1959, 1970 und 1979 hätte die Redaktion der "Tagesschau" davor bewahrt, eine falsche Behauptung zu verbreiten.



Wie kam es zu dieser Falschmeldung? Es scheint, daß die Redakteure der "Tagesschau" ungeprüft russische Meldungen übernommen und sie falsch interpretiert haben, die seit gestern verbreitet werden; ich hatte sie den Tag über in dem russischen Propagandasender Russia Today gehört. Danach haben achtzig Prozent der Bewohner Südossetiens einen russischen Paß.

Der russische Präsident Medwedew erklärte gestern, "that Russian forces in South Ossetia also have a mission to protect civilians in the province, most of whose residents hold Russian passports"; daß die russischen Streitkräfte in Südossetien auch den Auftrag haben, Zivilisten in dieser Provinz zu schützen, von deren Einwohnern die meisten einen russischen Paß besitzen.

Wieso haben die meisten Einwohner einer Provinz des souveränen Staats Georgien einen russischen Paß? Nicht, weil sie Russen wären. Sondern weil - so berichtet es zum Beispiel Robert Parsons im aktuellen Telegraph - Rußland sie in den vergangenen Jahren systematisch mit russischen Pässen ausgestattet hat:
Georgia now stands on the very brink of a grotesquely uneven conflict with a resurgent Russia itching to flex its muscles and burning with post-imperial hubris. The chosen causus belli is South Ossetia, which fought a separatist war with Georgia in 1992 and has enjoyed the support of Russia ever since.

So much so, that Russia has spent the intervening years handing out Russian passports to any South Ossetian who cares to have one. These are the people who Dmitry Medvedev had in mind on Thursday when he said that as president of the Russian Federation, he was obliged to defend the lives of Russian citizens wherever they were.

Georgien steht jetzt unmittelbar am Rand eines grotesk ungleichen Konflikts mit einem wieder aufstrebenden Rußland, das es juckt, seine Muskeln spielen zu lassen und das vor postimperialer Hybris brennt. Der Kriegsgrund, den man ausgesucht hat, ist Südossetien, das 1992 gegen Georgien einen Unabhängigkeitskrieg ausfocht und das sich seither der Unterstützung Rußlands erfreut.

So sehr, daß Rußland die zurückliegenden Jahre damit verbrachte, jedem Südossetier, der einen haben mochte, einen russischen Paß auszuhändigen. Dies sind die Leute, die Dmitri Medwedew am Donnerstag meinte, als er sagte, daß er als Präsident der Russischen Föderation verpflichtet sei, das Leben russischer Bürger zu schützen, wo immer sie seien.



Man sieht, wie langfristig die Russen das vorbereitet haben, was sich jetzt abspielt.

Südossetien gehört im gleichen Sinn, auf derselben Rechtsgrundlage zu Georgien, wie Tschetschenien zu Rußland. Tschetschenien, gegen dessen Unabhängigkeit Rußland einen blutigen Krieg geführt hat.

Warum unterstützen die Russen dann den südossetischen Separatismus? Die Frage ist begründet, wenn man sich zum Beispiel das Verhalten der Staaten Afrikas ansieht. Viele von ihnen sind von separatistischen Bestrebungen bedroht. Also stehen sie fast alle gegen jeden Separatismus zusammen, auch wenn dieser einen verfeindeten Staat treffen mag. Denn sie wissen, daß erfolgreiche Beispiele ansteckend sind.

Wenn sich Rußland so ostentativ anders verhält als die afrikanischen Staaten, wenn es in Bezug auf Südossetien exakt das Gegenteil des Prinzips vertritt, das es für Tschetschenien in Anspruch nimmt, dann muß das also schwerwiegende Motive haben.

Über das Hauptmotiv schreibt die Washington Post in einem Editorial in ihrer heutigen Ausgabe:
At its summit in Bucharest, Romania, in April, NATO offered Georgia eventual membership. This was not the more concrete promise that Georgia and the Bush administration had wanted. But Tbilisi and Washington settled for less in deference to European NATO members who wanted to avoid inflaming Russia. It didn't work, because Moscow responded by increasing its ties to Abkhazia and South Ossetia (...)

It's doubtful, though not unthinkable, that Russia plans to conquer all of Georgia. But its objectives are no less cynical for that. Simply by keeping the country in a constant state of territorial division and conflict, it hopes to show NATO that Georgia is too unstable for membership -- thus giving Georgia no choice but to submit to Moscow's "influence."

Auf ihrem Gipfel in Bukarest (Rumänien) im April bot die Nato Georgien eine Mitgliedschaft als Endziel an. Das war nicht das konkretere Versprechen, das Georgien und die Regierung Bush gewünscht hatten. Aber Tiflis und Washington gaben sich mit Rücksicht auf die europäischen Nato- Staaten, die es vermeiden wollten, Rußland zu erzürnen, mit weniger zufrieden. Das funktionierte nicht, denn Rußlands Reaktion bestand darin, seine Bindungen zu Abchasien und Südossetien zu verstärken. (...)

Es ist zweifelhaft, wenn auch nicht undenkbar, daß Rußland vorhat, das gesamte Georgien zu erobern. Aber deshalb sind seine Ziele nicht weniger zynisch. Einfach indem es das Land in einem anhaltenden Zustand der Trennung seines Gebiets und des Konflikts hält, hofft es der Nato zu zeigen, daß Georgien für eine Mitgliedschaft zu instabil ist - so daß Georgien keine Wahl bleibt, als sich dem "Einfluß" Rußlands zu unterwerfen.



Das ist die Quittung dafür, daß die Nato es im April in Bukarest abgelehnt hat, Georgien den Status Membership Action Plan (MAP) zu gewähren, also die verbindliche Einleitung des Prozesses der Aufnahme in die Nato. Ob es Rußland gewagt hätte, gegen einen solchen Nato- Aspiranten so vorzugehen, wie es das jetzt gegen das ohne Verbündete dastehende Georgien tut, ist sehr die Frage.

Es ist wieder einmal - siehe auch die ausgezeichnete Analyse in "Hotel Villa de Art" - wie in München 1938: Einem aggressiven, expansiven und undemokratischen Staat mit Kompromissen entgegenzukommen, stärkt nur dessen Appetit.

Damals, im April dieses Jahres, schrieb der Economist unter der Überschrift "With allies like these" (Mit derartigen Verbündeten) über den Antrag Georgiens auf den MAP-Status:
... to many, particularly America and ex-communist states, this was a question of principle: NATO had to keep its vow to welcome fragile democracies, and should give no veto to Russia, especially in its current aggressive mood.

Germany says Russia's president-elect, Dmitry Medvedev, should get time to settle in without being forced into a spat with NATO. "What is the rush?" asked one senior official.

At a bad-tempered foreign ministers' meeting on the opening night, Germany's foreign minister, Frank-Walter Steinmeier, told colleagues Georgia would not be fit to join until it had resolved the “frozen conflicts” over two Russian-backed statelets on its soil. (...)

After much haggling, the allies declared that the two countries “will become members of NATO” eventually — but that a decision on MAP would only be taken by foreign ministers in December. Even that could be a humiliation for the Georgians, whose volatile president, Mikheil Saakashvili, privately compared anything short of MAP to appeasement of the Nazis.

Für viele, vor allem Amerika und ex- kommunistische Staaten, war das eine Frage des Prinzips: Die Nato hatte ihren Schwur zu halten, fragile Demokraten willkommen zu heißen, und durfte Rußland, vor allem in seiner momentanen aggressiven Haltung, kein Vetorecht einräumen.

Deutschland erklärt, der gewählte russische Präsident, Dmitri Medwedew, sollte Zeit bekommen, sich einzurichten, bevor man ihn in eine Auseinandersetzung mit der Nato hineinzwinge. "Wo ist der Grund zur Eile?" fragte ein leitender Beamter.

Auf einem angespannten Treffen der Außenminister am ersten Abend der Konferenz erklärte der deutsche Außenminister Frank- Walter Steinmeier gegenüber seinen Kollegen, daß Georgien solange nicht reif für eine Mitgliedschaft sei, wie es nicht die "eingefrorenen Konflikte" mit zwei von Rußland unterstützten Mini- Staaten auf seinem Boden gelöst hätte. (...)

Nach viel Geschacher verkündete die Allianz, daß die beiden Länder [es ging auch um die Ukraine; Anmerkung von Zettel] schlußendlich "Mitglieder werden" - daß aber eine Entscheidung über eine MAP von den Außenministern erst im Dezember getroffen werden würde. Selbst das konnte für die Georgier eine Demütigung sein, deren sprunghafter Präsident Michael Saakaschwili im vertraulichen Gespräch alles unterhalb einer MAP mit der Beschwichtigungs- Politik der Nazis verglich.

Wie sehr er mit seinem Vergleich recht haben würde, hat vermutlich damals selbst der georgische Präsident nicht geahnt.

Nur daß Hitlers Verhalten nach 1938 die westlichen Staaten aufrüttelte. Während Putin vermutlich zu Recht darauf spekuliert, daß - siehe oben das Editorial der Washington Post - Steinmeier, Merkel und Sarkozy die Botschaft des jetzigen Kriegs richtig verstehen werden: Wenn ihr gut Freund mit Rußland sein wollt, dann Finger weg von Georgien.



Mit Dank an Kane. Für Kommentare zu diesem Artikel gibt es einen Thread in "Zettels kleinem Zimmer". Dort findet man auch eventuelle Aktualisierungen und Ergänzungen.