21. Februar 2010

Zitat des Tages: "Das Thema der nationalen Identität richtet sich gebieterisch an jeden von uns"

Prenons maintenant la nation, avec tout ce gâchis autour du thème tout à fait défendable de l'identité nationale. (...) Qui avons-nous été, qui sommes-nous, que serons-nous? Comment faire désormais pour vivre ensemble et au nom de quelles valeurs? Ce ne sont pas seulement des questions pour les historiens, les sociologues, les hommes politiques en général, les assemblées, mais elles s'imposent à chacun d'entre nous.

(Nehmen wir jetzt die Nation, mit allem dem Wirrwarr um dieses doch ganz und gar verfechtbare Thema der nationalen Identität. (...) Wer waren wir, wer sind wir, was werden wir sein? Was ist zu tun, um in Zukunft zusammenzuleben, und im Namen welcher Werte? Das sind Fragen nicht nur für die Historiker, die Soziologen, allgemein die Politiker, die Parlamente, sondern sie richten sich gebieterisch an jeden von uns.)

Jean Daniel, Leitartikler und bis 2008 auch Herausgeber des linken Nouvel Observateur, in seinem Leitartikel in der aktuellen Ausgabe (Nº2363 vom 18. 2. 2010). Titel: "Ce vif désir d'être français", dieser heftige Wunsch, Franzose zu sein.


Kommentar: Jean Daniel ist mit seinen fast neunzig Jahren der Doyen der französischen Publizistik; ein Mann von ungebrochener Aktivität. Jede Woche erscheint im Nouvel Observateur sein Leitartikel; eine Sammlung dieser Artikel - jeder aus meiner Sicht lesenswert, viele brillant - finden Sie hier. Sein jüngstes Buch kam 2009 heraus, die Autobiografie "Les miens" (Die Meinen).

Das Thema der nationalen Identität verkörpert Jean Daniel wie kaum ein anderer französischer Intellektueller. Er wurde in Blida nah bei Alger geboren. Seine Vorfahren sind Berber, die zum Judentum übergetreten waren. Er wuchs in der Kultur des französischen Algerien auf, begeistert für Literatur und Philosophie, für die Werte der französischen Republik. Er kämpfte für Frankreich; erst in der Résistance und dann in der Befreiungsarmee des General de Gaulle.

Mit sechsundzwanzig Jahren begann er im befreiten Paris als Journalist zu arbeiten; 1947 gründete er seine erste Zeitschrift, Caliban. Er schloß Freundschaft mit Albert Camus, arbeitete mit Sartre zusammen und war politisch in der nichtkommunistischen Linken engagiert. In den fünfziger Jahren kam er zum Nachrichtenmagazin L'Express; 1964 gehörte er zu den Gründern des Nouvel Observateur, der heute mit einer Auflage von zwischen 500.000 und 600.000 Exemplaren gleichauf mit dem Express liegt.

Ich erwähne diese Details, weil aus ihnen deutlich wird, vor welchem Hintergrund sich Jean Daniel zum Thema der nationalen Identität äußert: Als Franzose, als Nordafrikaner, als Jude, vor allem als Aufklärer mit einem linken politischen Engagement.

Es stand in diesem Blog schon früher zu lesen (beispielsweise hier mit einer Hommage an Jean Daniel und hier in Gestalt eines kleinen Quiz), aber es erscheint mir wichtig genug, es zu wiederholen:

Das Thema der nationalen Identität ist in Frankreich kein Thema ausschließlich der Konservativen; und es ist kein Thema ausschließlich derer, die ihre Wurzeln in einer französischen Ahnenreihe haben. Es ist gerade auch ein Thema der Linken und der Liberalen; es ist gerade auch ein Thema derer, die sich zur französischen Nation bekennen, ohne dieser durch ihre Abstammung anzugehören.



Es ist ein Thema, das selbstredend durch die Einwanderung von Moslems und die Frage von deren Assimilation an Brisanz gewonnen hat.

Sollte der Staat auf die Religion der Einwanderer Rücksicht nehmen? Jean Daniel hat dazu eine einfache und vollkommen klare Meinung, die er in diesem Satz zusammenfaßt: Der Staat dürfe keine Rücksicht auf Religion nehmen, sondern "C'est aux fidèles de vérifier que la pratique de leur religion n'est pas contraire aux valeurs de la République"; es sei Sache der Gläubigen, dafür Sorge zu tragen, daß das Praktizieren ihrer Religion nicht im Widerspruch zu den Werten der Republik steht.

Damit zitiert Jean Daniel Mohammed Arkoun; Moslem, Islamwissenschaftler, Professor unter anderem an der Sorbonne, Offizier der französischen Ehrenlegion.



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