12. Februar 2010

Marginalie: Amerikanische Populisten, europäische Populisten. Ein Mißverständnis. Wen interessieren die Steuern?

In der Washington Post ist gestern die neue Kolumne von David Ignatius erschienen. Sie illustriert ein klassisches europäisch- amerikanisches Mißverständnis.

Der Artikel trägt die Überschrift "Europe could use its own Tea Party" - Europa könne seine eigene Tea Party gebrauchen. Also eine Bürgerbewegung nach dem Vorbild der amerikanischen Tea Party- Bewegung, über die ich kürzlich aus Anlaß des Auftritts von Sarah Palin bei deren erstem nationalen Kongreß berichtet habe (Das Geheimnis von Sarah Palins Hand; ZR vom 10. 2. 2010).

Ignatius bekennt sich keineswegs zu dieser Bewegung; in verschiedener Hinsicht könne man sie als rechtsgerichtet ("right wing") bezeichnen, schreibt er. Und fährt dann aber fort:
But these conservative populists do perform the useful function of focusing American political attention on the need for fiscal responsibility. They make a good point, for example, in arguing that we shouldn't add a major new entitlement program for health care until we've figured out how to pay for the entitlement programs we've already got.

Aber diese konservativen Populisten haben sehr wohl die nützliche Funktion, die politische Aufmerksamkeit in Amerika auf die Notwendigkeit einer verantwortlichen Ausgabenpolitik zu richten. Sie weisen zum Beispiel auf etwas Wichtiges hin, wenn sie argumentieren, daß wir nicht massive neue Anrechte in das Gesundheitssystem einfügen sollten, bevor wir nicht geklärt haben, wie wir für die Anrechte in denjenigen Programmen bezahlen sollen, die wir schon haben.
So etwas könne Europa mit seiner ungezügelten Ausgaben- Politik auch brauchen, schreibt Ignatius; denn genau das fehle dort:
Europe, by contrast, lacks this sort of potent conservative movement to constrain government spending. Given Europe's experience last century with virulent right- wing populism, its wariness of extremism is understandable. But it means that Europe lacks a strong voice for reducing public- sector spending and debt.

In Europa fehlt hingegen eine potente konservative Bewegung dieser Art, um die Ausgaben der Regierungen zu zügeln. Angesichts der Erfahrungen, die Europa im letzten Jahrhundert mit einem virulenten rechtsgerichteten Populismus gemacht hat, ist dieser Argwohn gegen Extremismus verständlich. Aber er bedeutet, daß es Europa an einer starken Stimme fehlt, die dafür eintritt, die Ausgaben der öffentlichen Hand und das Schuldenmachen zu reduzieren.



Ignatius war einige Jahre Chefredakteur der in Paris erscheinenden International Herald Tribune. Dennoch unterliegt er mit der Idee, in Europa könne eine rechtspopulistische Bewegung Ausgabendisziplin anmahnen, einem Mißverständnis.
Einem sehr amerikanischen Mißverständnis. Amerikaner sehen Staatsausgaben als ein Übel an; ein im besten Fall notwendiges Übel. Für sie sind Steuern ihr eigenes Geld, das der Staat sich nimmt. Warum und zu welchen Zwecken er das tut, das hat er ihnen gegenüber zu rechtfertigen; den Steuerbürgern gegenüber, den einfachen Bürgern.

Ja, den einfachen Bürgern gegenüber. Denn diese Haltung herrscht in den USA nicht nur bei den Besserverdienenden, sondern sie reicht bis weit in die untere Mittelschicht, bis in die Arbeiterschaft hinein.

Ein populistisches Aufbegehren ist deshalb in den USA zuvörderst ein Aufbegehren der Steuerbürger gegen den Staat, der ihnen ihr Geld abnimmt, um damit Dinge zu finanzieren, die sie gar nicht wollen.

In Europa gibt es dergleichen kaum; jedenfalls kaum noch.
Es gab einmal rechtspopulistische Bewegungen, in deren Mittelpunkt das Thema Steuern stand; in Frankreich zum Beispiel die Poujadisten in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts; Anfang der siebziger Jahre in Dänemark dann die Bewegung von Mogens Glistrup. Aber für heutige rechtspopulistische Bewegungen spielt das Thema "Steuern" kaum noch eine Rolle. Ihre Themen sind Kriminalität, Einwanderung, Islam; dazu eine generelle Ablehnung unseres politischen Systems.

Das Thema "Steuern" hat generell in Europa längst nicht dieselbe Bedeutung für den Normalbürger wie in den USA. In seiner Minderrangigkeit spiegelt sich ein anderer Blick auf den Staat.
Von vielen - wohl von immer mehr - Menschen in Europa und besonders in Deutschland werden Staatsausgaben nicht als das Ausgeben von Geld wahrgenommen, das der Staat ihnen abgenommen hat; sondern vielmehr als Wohltaten, die der Staat seinen Bürgern gewährt.

Bei einer Umfrage im Januar dieses Jahres waren 58 Prozent der Befragten gegen Steuersenkungen im Jahr 2011; nur 38 Prozent sprachen sich dafür aus. Gewiß hat dabei - vor allem wohl bei den Besserverdienenden, von denen eine große Mehrheit Steuersenkungen ablehnte - die Überlegung eine Rolle gespielt, daß die Sanierung der Staatsfinanzen in der gegenwärtigen Situation Vorrang haben muß. Aber generell sind in Deutschland, anders als in den USA, die Steuern kein Thema, das den Normalbürger in Wallung bringt.

Nicht eine europäische Variante der Tea Party- Bewegung hätte sich Ignatius also wünschen sollen. Von Populisten ist in dieser Hinsicht auf unserem alten Kontinent nichts zu erwarten. Was einmal das Anliegen der Massen war, ist jetzt nur noch die Forderung der liberalen Parteien.



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