15. Februar 2010

Marginalie: Die Maabambler. Zum Rosenmontag ein Lob der deutschen Provinz. Nebst einer Anmerkung zur DDR

Der Karneval in den rheinischen Metropolen ist - zwar nicht ausschließlich, aber doch inzwischen wesentlich - eine Großveranstaltung; nicht zuletzt für Touristen. Aber das ist nur ein Aspekt, ein gar nicht repräsentativer, des Karnevals, der Faßnacht, des Fasching in Deutschland.

Das Hessische Fernsehen überträgt heute Nachmittag Rosenmontags- Umzüge. Man begann mit Frankfurt, wo es ähnlich ist wie im Rheinland. Die karnevalistischen Honoratioren winken dort ihrem Volk aus unnahbarer Ferne zu, nämlich vom Balkon des Römers. Die Wagen sind professionell hergestellt.

Aber wie anders die Provinz!

Im Augenblick sehe ich den Umzug in Seligenstadt; einem Städtchen am Main von 20.000 Einwohnern, das seine Gründung auf Einhard, den Biographen Karls des Großen, zurückführt. Tiefste Provinz. Fachwerkhäuser, im Zentrum des Städtchens die Einhards- Basilika. Bei den letzten Kommunalwahlen 51,7 Prozent für die CDU. Zunehmende Geburtenrate.

Über hundert "Nummern" machen den Zug in Seligenstadt aus. Keine "Prunkwagen" wie in Köln oder Düsseldorf. Überhaupt relativ wenige - nur 22 - Wagen; es überwiegen die "Gruppen".

Gruppen, die nur selten von einem Karnevalsverein gestellt werden. Oft sind es vereinsübergreifende oder von Vereinen unabhängige Zusammenschlüsse von Karnevalisten; nicht nur aus Seligenstadt, sondern überwiegend aus der Umgebung.

Viele werden auch von Vereinen gestellt, deren Zweck nicht der Karneval ist; ein Hundeverein zum Beispiel, der eine kleine Western- Stadt auf seinem Wagen mitführt. Zahlreiche Gesangsvereine, Freiwillige Feuerwehren, Turnvereine. Motorradfahrer. Katholische Frauen, die als Torten kostümiert mitziehen.

Oder auch schon mal Leute, deren Gemeinsamkeit darin besteht, daß sie rund um den Steinheimer Torturm in Seligenstadt aufgewachsen sind. Sie tun sich zusammen und gestalten einen Wagen der "Turmmännsche", auf dem sie als Zwerge mit Zipfelmütze stehen und ihre "Gudsel" in die Menge werfen.

Oder Leute, die alle denselben Namen tragen und die finden, daß das genug der Gemeinsamkeit ist, um eine Gruppe zu gründen.



Und was machen sie nun, alle diese Gruppen? Sie haben sich ein Motto oder Thema ausgedacht - eher selten ein politisches -, haben dazu Kostüme geschneidert, manchmal einen Wagen gebaut, und ziehen nun im Zug mit. Das ist im Grunde alles. Sie haben ihren Spaß, die Zuschauer haben ihren Spaß.

Beeindruckend ist der schier unglaubliche Aufwand, den viele dieser Gruppen für die zwei oder drei Stunden im Jahr treiben, in denen sie ihre Kostüme im Zug spazierenführen.

Eine Gruppe hat sich als Vogelscheuchen verkleidet. Jedes Kostüm ist anders; zu Hause geschneidert. Sie sind aber aufeinander abgestimmt. Es paßt; so wie beim Werk eines Kostümbildners auf dem Theater. Eine andere Gruppe tritt als Fledermäuse aus; mit Kostümen, die jedem Kostümbildner Ehre machen würden. Es gibt Hexen und Teufel; es gibt Kostüme aus dem Karneval in Venedig.

Oder man hat erkannt, daß die Politik ein Kasperletheater ist. Das ist also das Thema dieser Gruppe. Zusätzlich zum Kostüm trägt jeder einen Kasten vor dem Bauch, der ein Kasperletheater darstellt. Jeder Kasten mit Figuren bestückt; jeder anders. Vermutlich haben das die Männer in den Monaten gebastelt, in denen die Frauen die Kostüme schneiderten.

Und die Maabambler? Das sind Leute, die gern am Maa (Main) sitzen und ihre Beine in den Main bambeln (baumeln) lassen. Auch eine Gemeinsamkeit, aus der heraus man eine Gruppe im Zug bilden kann.



Das ist sie, die deutsche Provinz. Das ist sie auch, die vielbelächelte deutsche Vereinsmeierei. Vielfältig, phantasievoll und sozial engagiert.

Ja, sozial engagiert. Dieser Begriff wird heute meist in der Eingeschränktheit von "sich um Benachteiligte kümmernd" verwendet. Aber das ist ja nur ein kleiner Aspekt sozialen Engagements.

Alle diese Vereine und Gruppierungen machen den Reichtum der deutschen Volkskultur aus. Jener Kultur, auf welche diejenigen, die sich für die einzigen Kulturträger halten, gern herabsehen. (Volkskultur wissen sie allerdings dann zu schätzen, wenn es diejenige beispielsweise von Kurden oder Hopis ist).

Diese Volkskultur wurde in der DDR systematisch zerstört und durch das ersetzt, was die Herrschenden für "kulturvoll" hielten. Restbestände konnten sich halten; zum Beispiel mehr oder weniger von der SED geduldete Karnevalsvereine. Grundsätzlich war aber jede solche Initiative den Herrschenden suspekt, weil es eben eine Initiative war. Initiativ hatten die Untertanen nicht zu werden; das war der SED vorbehalten.

Im Karneval ist man lustig; vor allem aber macht man sich lustig. In einer freien Gesellschaft darf man sich über fast alles lustig machen; vor allem auch über die Herrschenden. Vereine und Gruppierungen, die sich spontan bilden, sind der staatlichen Steuerung entzogen. Dort, wo man Karneval so feiern kann wie in der deutschen Provinz, braucht einem um die Freiheit nicht bange zu sein.



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