28. Februar 2010

Zitat des Tages: "Wissen macht nicht frei". Eine seltsame These des britischen Philosophen John Gray

Wissen macht uns nicht frei. Ja, das ist eine unstatthafte, schwer erträgliche Wahrheit. Seit Sokrates beruht das westliche Denken auf der Annahme, dass die Erkenntnis des Wahren unweigerlich zum Guten führt. Die Genesis der Bibel, der Mythos vom Sündenfall, sagt etwas anderes. Die Unschuld ist verloren, sie lässt sich nicht wiedergewinnen. Wir haben vom Baum der Erkenntnis gegessen, aber wir bleiben zu jeder Torheit und zu jeder Bosheit imstande.

Der britische Sozialphilosoph John Gray in einem "Spiegel"- Gespräch mit Romain Leick. Das Gespräch erscheint im morgigen "Spiegel" (Heft 9/2010 vom 1. 3. 2010; S. 136 - 140).


Kommentar: Die zitierte Passage beinhaltet eine seltsame, eine seltsam widersprüchliche These. Eine These, die das ganze Gespräch durchzieht. Gray behauptet, daß Wissen uns nicht frei macht. Einige Sätze später sagt er, daß wir vom Baum der Erkenntnis gegessen hätten.

Ja, bedeutet das Essen vom Baum der Erkenntnis denn nicht Wissen? Und wie könnten wir denn zu jeder Torheit und jeder Bosheit imstande sein, wenn wir nicht frei wären?

Gray wendet sich in dem Gespräch gegen die Geschichts- Metaphysik von Hegel und Marx. Sehr zu Recht. Denn die menschliche Geschichte läßt sich so wenig prognostizieren, wie Außerirdische, die zur Zeit der ersten Einzeller auf der Erde landeten, hätten vorhersagen können, wie die Evolution verlaufen würde.

Die Geschichte ist keine Heilsgeschichte. Weder kommt in ihr der absolute Geist zu sich selbst, noch gebiert sie aus Klassenkämpfen am Ende ein kommunistisches Schlaraffenland. Die Geschichte steckt voller Zufälle. Sie hätte nicht zum gegenwärtigen Zustand der menschlichen Welt führen müssen; und wir wissen nicht, in welchem Zustand sich die Menschheit in tausend oder in zehntausend Jahren befinden wird.

Soweit hat Gray Recht. Aber irritierenderweise bewegt er sich, kaum daß er der einen Geschichtsmetaphysik den Garaus gemacht hat, schon selbst mitten in eine andere Metaphysik der Geschichte hinein:
Der Nihilismus (...) verliert seinen Schrecken, wenn wir uns von der Zwangsvorstellung lösen, das menschliche Leben müsse vor dem Sturz in den Abgrund der Sinnlosigkeit bewahrt werden. Ein gelungenes oder erfülltes Leben beruht nicht auf der Kapazität, einen Beitrag zur Weltverbesserung zu leisten. Die Gewissheit, dass es kein Heil gibt, ist selbst das Heil, so hat es der Schriftsteller E. M. Cioran formuliert. Das Leben hat keine Bedeutung, die über es selbst hinausweist.
Wenn das keine metaphysische Haltung ist!

Gray kritisiert die metaphysische Gewißheit, daß der Gang der Geschichte aus seinem Wesen heraus ein Weg des Fortschritts sei. Aber statt zu erkennen, daß es im Hinblick auf die Geschichte folglich eben keine Gewißheit gibt, setzt er dagegen seine eigene metaphyische Gewißheit: Die Welt sei nicht zu verbessern, der Fortschritt sei eine Illusion.

Woher weiß John Gray das? Es gibt nicht nur materiellen Fortschritt, sondern es hat auch ethischen Fortschritt gegeben. Die Macht und das Ansehen eines Herrschers bemißt sich heute nicht mehr an der Grausamkeit, mit der er besiegte Feinde zum Tod befördert. Es ist nicht mehr die Regel, daß Menschen als Objekte betrachtet werden, die man kaufen und verkaufen und über die ihr Herr nach Belieben verfügen kann. Die allgemeinen Menschenrechte - ein Konzept, das der Antike ganz fremd war, erst recht den frühen Hochkulturen - sind zumindest nominell in den meisten Ländern anerkannt.

Es hat ethischen Fortschritt gegeben. Nur ist das keine Garantie dafür, daß es ihn weiter geben wird. Es hat nicht nur diesen Fortschritt gegeben, sondern es gab auch das fürchterliche 20. Jahrhundert mit den Taten Maos, Stalins, Hitlers und Pol Pots.

Der Fortschrittsglaube des 18. und des 19. Jahrhunderts ist uns verloren gegangen. Aber wir sollten nicht den Fehler Grays machen, gegen ihn den Glauben an einen Nicht- Fortschritt zu setzen.

Die Geschichte ist offen. Vielleicht waren die Grausamkeiten des 20. Jahrhunderts die Vorboten einer Wende zurück in die Barbarei; vielleicht markierten sie das Ende des ethischen Fortschritts, der mit Buddha, Sokrates und Christus begann und der in der humanistischen Ethik gipfelte, wie sie durch Kant und - auf eine andere Art - auch durch Schopenhauer repräsentiert wird. Vielleicht waren es aber auch nur temporäre Rückschläge. Wir wissen es nicht.

Da wir das nicht wissen, ist es vernünftig, für die Freiheit, für den Rechtsstaat, für die Achtung insbesondere der Menschenrechte einzutreten.

Nicht, weil man sich damit auf die Seite dessen stellt, was mit objektiver Notwendigkeit eintreten wird; was als Gang der Geschichte vorgezeichnet wäre. Nichts ist vorgezeichnet. Aber eben auch nicht das, was Gray behauptet und was der "Spiegel" in der Überschrift zu dem Gespräch zitiert. Daß es keinen ethischen Fortschritt gebe, daß also "Humanismus ein Aberglaube" sei.

Ethischer Fortschritt ist nicht gewiß, aber er ist möglich. Das ist Grund genug, sich für ihn einzusetzen.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken.