16. Februar 2010

Westerwelles riskante Taktik. Steckt der Liberalismus in einer "geistig-moralischen Krise"?

Es ist jetzt knapp fünf Monate her, daß die FDP ihr bestes Ergebnis seit Gründung der Bundesrepublik erreichte. Im Lauf des Jahres 2009 war sie in den Umfragen immer stärker geworden; die 14,6 Prozent am 27. September krönten diesen Trend.

Die FDP errang diesen Erfolg aufgrund eines kämpferisch liberalen Wahlkampfs, dessen Themen Guido Westerwelle in seiner Rede auf dem Hannoveraner Parteitag im Mai klar umrissen hatte: Steuersenkungen; Arbeit muß sich wieder lohnen; Abschaffung der Planwirtschaft im Gesundheitswesen; kein Ausstieg aus der Kernenergie; persönliche Verantwortung statt Umverteilungs- Staat; Kampf gegen den Extremismus, den linken wie den rechten.

Die Freude über den Sieg war nur von kurzer Dauer. Um die Jahreswende, kaum mehr als zwei Monate nach der Vereidigung der Regierung, zeichnete sich der Niedergang der FDP in den Umfragen bereits deutlich ab. Vier Wochen später hatte er ein gefährliches Ausmaß angenommen.

Die FDP- Führung setzte daraufhin vor gut einer Woche eine Krisensitzung an. Deren Ergebnis ist seit dem vergangenen Donnerstag zu besichtigen; dem Tag, an dem Guido Westerwelle seinen furiosen Artikel in "Welt-Online" veröffentlichte. Seither läuft eine öffentliche Debatte. Der vorläufige Höhepunkt ist Westerwelles gestrige Forderung nach einer Generaldebatte im Bundestag zur Hartz- IV- Gesetzgebung.

Westerwelle und sein Führungskreis reagierten also auf die Krise der Partei mit dem Versuch eines Salto rückwärts. Was sich im Wahlkampf 2009 als geeignet erwiesen hatte, um die Partei ganz nach vorn zu bringen, das soll auch jetzt wieder helfen, sie aus der Krise zu katapultieren: Das klare liberale Programm ohne Abstriche, die harten, ja scharfen Konturen.

Man kann das als eine Entscheidung auf der strategischen und auf der taktischen Ebene sehen.

Strategisch geht es darum, den Anspruch der FDP zu bekräftigen, eine liberale Volkspartei zu sein; mit einer angezielten Wählerschaft über ihre klassische Klientel hinaus (siehe "Gesellschaftliche Mitte" vs. "linke Bürgerlichkeit". Die Chance der FDP; ZR vom 11. 10. 2009). Die FDP also weder als Pendlerpartei noch als Anhängsel der Union; nicht mehr die klassische Klientelpartei, aber auch nicht eine Partei, die in die allgemeine Sozialdemokratisierung einstimmt (siehe dazu den Artikel von Rayson in B.L.O.G.).

Das taktische Ziel ist es, die mediale Aufmerksamkeit auf die FDP zu ziehen: Es geht darum, ihr vor den wichtigen Wahlen in NRW eine Publicity zu verschaffen, die sie aus dem momentanen Umfrage- Tief hinausführt. Sie soll das Thema der öffentlichen Diskussion bestimmen. Ihr Wählerpotential soll mobilisiert werden.

Diese beiden Zielsetzungen sind verschieden zu bewerten. Aus meiner Sicht ist es richtig, daß die FDP ihr strategisches Ziel bekräftigt. Aber in der Form, in der das gegenwärtig geschieht, könnte es sich als kontraproduktiv erweisen; in einer Form, die ja zugleich dem zweiten, dem taktischen Ziel dienen soll.

Aber wird dann wenigstens dieses erreicht werden? Auch das ist alles andere als gewiß.



Taktisches. Das taktische Ziel verlangt es, zu polemisieren, um zu polarisieren. Widerstände können dabei nicht nur in Kauf genommen werden, sondern sie sind nachgerade erwünscht. Es schadet ja nicht, wenn, sagen wir, achtzig Prozent der Wähler Westerwelles Vorstoß mißbilligen. Wenn die übrigen zwanzig Prozent ihn billigen und wenn ein großer Teil von ihnen bereit ist, daraufhin die FDP zu wählen, dann hat Westerwelle gewonnen. Jedenfalls, was das taktische Ziel angeht.

Wie aber werden die zwanzig Prozent tatsächlich reagieren, auf die es für die FDP ankommt? Werden sie sich so verhalten wie erwartet? Umfragen, die das beantworten könnten, die also nach dem 11. 2. abgeschlossen wurden, liegen noch nicht vor. Man ist auf Vermutungen angewiesen.

Die Gründe, die aus meiner Sicht zur momentanen Krise der FDP geführt haben, waren Gegenstand eines früheren Artikels (Zur Strategie und Taktik der FDP; ZR vom 6. 2. 2010): Die nicht überzeugende Besetzung der Ministerien. Die Überforderung von Guido Westerwelle durch die Personalunion von Außenminister und Parteivorsitzendem; dazu sein unglücklicher Start als Außenminister. Vor allem der Dauerstreit in der Koalition, zu dem in den Augen der meisten Bürger wesentlich das Bestreben der FDP beigetragen hat, Vorhaben wie eine Steuer- und eine Gesundheitsreform so schnell wie möglich umzusetzen, ohne viel Rücksichtnahme auf die ungünstigen gegenwärtigen Umstände vor allem für eine Steuerreform.
Wenn das richtig ist, dann besteht das Gegenmittel nicht darin, noch mehr Streit in die Koalition zu tragen, wie Guido Westerwelle das jetzt mindestens in Kauf nimmt. Falls es zu der von ihm angestrebten Generaldebatte über Hartz IV im Bundestag kommt, dann wird die staunende Öffentlichkeit das Bild einer Koalition geboten bekommen, die sich so in den Haaren liegt, als stünde man in entgegengesetzten Lagern.
Und das soll die Bereitschaft der Wähler in NRW befördern, eine schwarzgelbe Regierung zu bestätigen? Es soll den ruhigen Pragmatiker Andreas Pinkwart stärken, wenn der Vorsitzende seiner Partei mit Schmackes auf die Pauke haut? Ich kann das nicht erkennen.
Ich fürchte, Westerwelle entfacht bestenfalls ein Strohfeuer, das bis zum 9. Mai verglommen sein wird. Ich fürchte auch, daß die Wähler, um die es geht - politisch interessierte und informierte Wähler, welche die FDP für sich gewinnen will - das Publicity- Spiel durchschauen und es gar nicht schätzen werden.
Strategisch ist mit dem jetzigen "Rummel" (so Günther Nonnenmacher gestern in der FAZ) ohnehin nichts zu erreichen. Die Wählerschichten, welche die FDP langfristig an sich binden will - aufstiegs- und leistungsorientierte Angestellte und Facharbeiter beispielsweise - wollen eine solide, eine verläßliche liberale Partei und nicht eine Neuauflage der Partei mit dem Guidomobil.



Strategisches. Bei den momentanen Reaktionen der Medien auf Westerwelles Vorstoß spielen strategische Aspekte kaum eine Rolle. Die Kritik bewegt sich auf dem Niveau von Vokabeln wie "schneidige Risikospieler", "perfide, aus rein politischem Kalkül betriebene Beleidigung", "maßlos", "realitätsblind" und "Nervensäge der deutschen Politik".

Aus diesem verbalen Gewitter, das auf die FDP niedergeht, ragt ein Beitrag als sachlich und nachdenklich heraus; der Artikel des stellvertretenden Chefredakteurs der "Zeit" Bernd Ulrich in der aktuellen Nummer des Blattes. Ein Artikel, dem ich überhaupt nicht zustimme; der doch aber immerhin intellektuelles Niveau hat.

Ulrich versucht die momentane Krise der FDP in einen großen, in einen sozusagen riesengroßen Zusammenhang zu stellen: Es gehe um nichts Geringeres, als daß "der Liberalismus insgesamt in einer geistig- politischen, auch in einer moralischen Krise steckt". Die Überschrift des Artikels setzt noch eines drauf: "Geistig- politische Leere".

Am Abend des 27. September 2009 hätte Ulrich so etwas wohl kaum diagnostiziert; da schien der konsequente Liberalismus der FDP ja glänzend reüssiert zu haben. Aber es ist nun einmal immer naheliegend, es ist gerade für kluge Köpfe verführerisch, einem temporären Sachverhalt ein allgemeines Prinzip abzugewinnen.

Womit belegt Ulrich die angebliche geistig- moralische Krise des Liberalismus? Mit drei Beispielen:
  • "Mit dem Internet ist eine zweite, virtuelle Welt von rasant wachsender Bedeutung entstanden, in der die freie Betätigung der Individuen zu massenhafter Anarchie führt". Dem ließe sich nur "mit einer deutlichen Ausweitung staatlicher Macht" beikommen; wie auch bei den anderen beiden Sachverhalten.

  • Zweitens nämlich habe mit "der Klimakatastrophe ... ein Thema existenzielle Bedeutung erlangt, das sich den gewöhnlichen Schemata liberalen Denkens widersetzt". Warum? Weil sie "ungewollte Nebenwirkung individuellen Konsum- und Wirtschaftsverhaltens" sei. Ein "deutliches Mehr an staatlichem Regeln und staatlicher Steuerung" sei folglich erforderlich.

  • Und drittens habe ein "deregulierter, freier, globaler Finanzmarkt ... die ganze Welt von einer Stunde auf die andere in die Nähe des wirtschaftlichen Abgrunds geführt". Nur dadurch, daß die "gottlob noch einigermaßen starken Staaten" eingriffen, sei das Schlimmste verhindert worden.
  • Ich staune. Ich staune zum einen darüber, daß diese Lobpreisung des Etatismus der Feder eines Journalisten entstammt, der stellvertretender Chefredakteur und Leiter des Ressorts "Politik" der "Zeit" ist. Jener "Zeit", die unter ihrem Gründer und langjährigen Herausgeber Gerd Bucerius, die unter der Gräfin Dönhoff und dann Theo Sommer als Chefredakteuren, die auch noch unter Robert Leicht und Roger de Weck ein liberales Blatt gewesen war; ja die nachgerade als die publizistische Verkörperung des deutschen Liberalismus galt.

    Nun gut; aus dem liberalen wurde ein "linksliberales" und heute ein weitgehend (es gibt noch liberale Altlasten wie den Herausgeber Josef Joffe) linkes Blatt. Verlassen wir also diese Meta- Ebene und fragen, ob Ulrich mit seiner Diagnose denn Recht hat.

    Was die Finanzkrise angeht, so war (und ist) sie in der Tat auch - nicht ausschließlich! - einer mangelnden Regulation der Finanzmärkte geschuldet. Es handelt sich um das klassische Phänomen, daß sich (hier im Rahmen der Globalisierung) neue ökonomische, gesellschaftliche und politische Strukturen entwickeln, hinter denen die Gesetzgebung zurückbleibt.

    Wenn jetzt (hoffentlich) das Versäumte nachgeholt wird und die Finanzmärkte international besser reguliert werden, dann bedeutet das keineswegs "mehr Staat"; sondern die Staaten werden nur einer ihrer ureigensten Aufgabe - für das Wirtschaften vernünftige Rahmenbedingungen zu setzen - besser gerecht; eben in Anpassung an neue Entwicklungen.

    Das schafft günstigere Voraussetzung für eine weitere erfolgreiche Entwicklung der freien Wirtschaft, für eine weitere Entfaltung des Neoliberalismus. Daraus eine "geistig- moralische Krise des Liberalismus" abzuleiten ist, milde ausgedrückt, waghalsig.

    Erst recht gilt das für die beiden anderen Beispiele Ulrichs.

    Es ist schlicht falsch, eine "Klimakatastrophe" - sollte sie denn bevorstehen; das weiß ja niemand - einfach als Folge "individuellen Konsum- und Wirtschaftsverhaltens" hinzustellen.

    Nehmen wir um des Arguments willen einmal an, daß eine erhöhte C02-Belastung der Atmosphäre zu einer "globalen Erwärmung" oder - nun gut, let's pretend - zu einer "Klimakatastrophe" führen wird. Wer war denn in der Vergangenheit für den Ausstoß von CO2 verantwortlich? Nicht Staaten wie die Sowjetunion und ihre Satelliten, wie heute noch China? Nicht die westlichen Staaten, die Kohlekraftwerke genehmigt, die großzügige Abgasnormen - und jahrzehntelang zuvor gar keine - festgelegt haben?

    Und wer hat denn "Umweltbewußtsein" gefördert? Waren das die staatlichen Bürokratien, oder waren es nicht vielmehr Individuen, die ihr "Konsum- und Wirtschaftsverhalten" verändert haben und die das auch von anderen fordern?

    Gewiß gibt es heute Tendenzen, das angeblich Notwendige auf dem Weg staatlicher Gesetzgebung herbeizuführen und damit die Freiheit des Einzelnen einzuschränken; ich habe das in der Serie "Deutschland im Öko-Würgegriff" immer wieder thematisiert. Aber die Ursachen für den Anstieg von CO2 in der Atmosphäre wird man doch gewiß nicht den Individuen aufbürden und dabei die Staaten exkulpieren können.
    Was ökodiktatorische Tendenzen angeht, so sind sie von Übel und gerade ein Beleg dafür, wie dringend notwendig eine Stärkung des Liberalismus ist.

    Und das Internet? Da komme ich aus dem Staunen über Bernd Ulrich gar nicht heraus. Das Web ist bekanntlich (sieht man von diktatorisch regierten Staaten ab) geradezu ein Hort der Liberalität. Nichts spricht dafür, daß sich das ändern wird, auch wenn hier und da der Versuch staatlichen Eingreifens gemacht werden sollte. Dies als Beleg für eine "geistig- moralische Krise des Liberalismus" ins Feld zu führen, ist nicht nur waghalsig. Es ist schon tollkühn.



    Immerhin - Ulrich hat wenigstens den Versuch gemacht, sich mit der FDP und dem Liberalismus argumentativ auseinanderzusetzen. Er überragt damit den größeren Teil der "linksliberalen" Presse. Einiges daraus habe ich schon zitiert. Ein besonderes Schmankerl ist seit gestern Abend um 18.02 Uhr in "Spiegel- Online" zu lesen: Westerwelle spiele "weiter das politische Rumpelstilzchen", erfahren wir dort. Was die Autoren Severin Weiland und Veit Medick uns damit sagen wollen, darüber dürfen Sie jetzt nachdenken.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Guido Westerwelle auf einer Wahlkampfveranstaltung in Hessen im Januar 2009. Autor: Cgaa. Frei unter Creative Commons Attribution ShareAlike 3.0 License; bearbeitet.