19. April 2012

Marginalie: Breivik und die Gelassenheit der norwegischen Justiz. Eine Erinnerung an den Stammheimer Prozeß gegen die Terroristen der RAF

Gestern Nachmittag übertrug der Sender Phoenix die Pressekonferenz, die im Anschluß an den dritten Verhandlungstag gegen Anders Behring Breivik standfand. Es äußerten sich die Staatsanwältin Inga Bejer Engh und ihr Kollege Svein Holden, dann die Verteidiger Breiviks, Geir Lippestad und Vibeke Hein Baera. Danach blendete sich Phoenix leider aus der Übertragung aus, so daß man die Stellungnahme der Anwälte der Opfer nicht mehr sehen konnte.

Das ist schade. Man hätte gern gewußt, ob sie, die den Opfern und ihren Hinterbliebenen besonders nah sind, sich ähnlich kühl und beherrscht geäußert haben wie Staatsanwaltschaft und Verteidigung. Denn es hat etwas Eindrucksvolles, etwas vielleicht auch Staunenswertes, wie die norwegische Justiz mit diesem Fall eines barbarischen Massenmordes umgeht: Geschäftsmäßig, ohne erkennbare Emotionen. Gelassen, sachlich und korrekt.

Der Angeklagte wird nicht als das Monstrum behandelt, das er ist, sondern mit allem Respekt, der auch einem Angeklagten zusteht. Auf Antrag der Verteidigung trägt er während des Prozesses keine Handschellen. Er durfte ein langatmiges Manuskript verlesen, in dem er seine Weltanschauung ausbreitete. Die Staatsanwälte nehmen ihn ins Verhör, aber ohne Schärfe oder moralische Untertöne. Der Fall wird verhandelt wie jeder andere.

Bezeichnend für diese Haltung war die Antwort der Staatsanwaltschaft auf die Frage eines Reporters der New York Times, warum die Staatsanwälte denn zu beweisen suchten, daß Breivik geisteskrank sei: Man versuche gar nichts zu beweisen, sondern die Wahrheit zu ergründen. Der Inhalt der Anklage richte sich allein nach dem, was man wisse. Er könne sich ändern, wenn neue Erkenntnisse zutage träten.

Der Anwalt Lippestad wurde von einem Journalisten nach dem seltsamen Gruß mit geballter Faust und ausgestrecktem Arm gefragt, mit dem Breivik den Saal betreten hatte. Ob man das nicht unterbinden könne? Die Antwort des Anwalts: Er werde das mit Breivik besprechen und ihn darum bitten, es zu unterlassen. Es sei an diesem selbst, das dann zu entscheiden.



Es mag sein, daß mir dieser Stil des Verfahrens gegen einen Terroristen besonders auffällt, weil mir der Stammheimer Prozeß noch vor Augen steht, der von 1975 bis 1977 gegen Terroristen geführt wurde, die ihre Organisation selbst als "Rote Armee Fraktion" (RAF) bezeichneten. Ich habe das vor einigen Jahren beschrieben (Der "Deutsche Herbst" und die "Nacht von Stammheim"; ZR vom 11. 9. 2007).

Diese RAF - das war freilich keine Armee und auch keine Fraktion, sondern nur eine Handvoll (insgesamt über rund zwanzig Jahre ein paar Dutzend) Terroristen; die Selbstbezeichnung und die Phantasien vom "Bewaffneten Kampf in Westeuropa" waren ähnlich verstiegen wie jetzt Breiviks Selbststilisierung zum "Tempelritter". Wie Anders Breivik suchten die Mörder der RAF ihre Taten mit umfangreichen schriftlichen Darlegungen zu rechtfertigen; zu deren Inhalt siehe Terrorismus der RAF, Terrorismus der Dschihadisten; ZR vom 30. 7. 2007.

Die Reaktion des Staats und der deutschen Justiz war damals in fast jeder Hinsicht das Gegenteil von dem, was sich jetzt in Norwegen abspielt. Den Angeklagten wurde es verwehrt, ihre kruden politischen Theorien vorzutragen, wie das jetzt Breivik tun durfte. Die Terroristen ihrerseits verhielten sich vor Gericht nicht diszipliniert wie Breivik, sondern versuchten das Verfahren zu torpedieren. Einen Eindruck von der Atmosphäre, in welcher der Prozeß stattfand, geben die Tonbandmitschnitte, die vor einigen Jahren entdeckt wurden. Man findet Ausschnitte im Internet; zum Beispiel hier und hier.

Eine gemeinsame Pressekonferenz von Anklage und Verteidigung, wie sie gestern in Oslo stattfand, wäre damals undenkbar gewesen; man bekriegte einander eher, als daß man zusammenarbeitete.



Wäre es möglich gewesen, damals in Deutschland den Prozeß gegen die RAF-Terroristen ähnlich zu führen, wie man das jetzt in Norwegen im Prozeß gegen Breivik tut? Wahrscheinlich nicht. Die Unterschiede zwischen den beiden Situationen liegen auf der Hand.

Breivik ist ein Täter vom Typ "Einsamer Wolf", auch wenn er Kontakte zu anderen Rechtsextremisten gehabt haben mag. Möglicherweise ist er schizophren. Trotz der barbarischen Unmenschlichkeit seiner Taten stellt er keine Bedrohung für den Staat dar, wie sie im Fall der RAF jedenfalls wahrgenommen wurde; einer Bande, die über Jahre mordete und auf ein erhebliches Unterstützer- und Sympathi­santen­feld zurückgreifen konnte.

Die RAF-Angeklagten lehnten das Gericht ab; ihre Anwälte benahmen sich teilweise nicht als Verteidiger, sondern als Komplizen. Das Anwaltsbüro Croissant betrieb ein ganzes Informationssystem im Auftrag der Angeklagten; nicht nur Informationen wurden von Anwälten aus den Zellen und in diese hineingeschmugggelt, sondern selbst Waffen. Und vor allem ging der RAF-Terror ja während der Verhandlung weiter; bis hin zur Entführung und der schließlichen Ermordung von Hanns-Martin Schleyer.

Eine sachliche Verhandlungsatmosphäre wie jetzt in Oslo konnte in Stammheim unter diesen Rahmenbedingungen schwerlich entstehen. Trotzdem kann man sich in der Rückschau fragen, ob der Rechtsstaat sich damals nicht souveräner hätte zeigen können; wenn auch aufgrund der anderen Bedingungen sicherlich nicht so souverän wie jetzt in Norwegen.­
Zettel



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