Es ist selten, daß ich einen Artikel in "Spiegel-Online" uneingeschränkt empfehlen kann. Es ist (wieder einmal) ein Beitrag von Gerald Traufetter; jetzt zu der neuen Wendung im Fall Breivik: "Ein Massenmörder, zwei Gutachten". Traufetter ist Redakteur nicht von "Spiegel-Online", sondern des gedruckten "Spiegel"; und auch nicht in einem politischen Ressort, sondern im Ressort Wissenschaft. Er geht dieser Tätigkeit jedoch nicht in der Hamburger Redaktion, sondern in Stavanger in Norwegen nach und berichtet deshalb auch zu anderen Themen aus diesem Land.
Den Sachverhalt werden Sie schon den Medien entnommen haben: Dem Gericht, das über den Massenmörder Anders Behring Breivik zu urteilen hat, liegt jetzt ein zweites psychiatrisches Gutachten vor. Es war im Januar in Auftrag gegeben worden, nachdem sich in der norwegischen Öffentlichkeit Zweifel - auch von Fachleuten - an einem ersten Gutachten vom November 2011 geregt hatten, in dem bei Breivik eine paranoide Schizophrenie diagnostiziert worden war. Das zweite Gutachten bestätigt diese Diagnose nicht.
Das erste rechtspsychiatrische Gutachten stammte von den Psychiatern Torgeir Husby und Synne Sørheim und stützte sich auf insgesamt dreizehn, über einen längeren Zeitraum verteilte psychiatrische Interviews mit Breivik. Zu den Kritikern dieses Gutachtens gehörten vor allem Mitglieder eines psychologisch-psychiatrischen Teams aus dem Distriktpsychiatrischen Zentrum in Sandvika, das Breivik seit seiner Inhaftierung ständig beobachtet. Auch die führende norwegische Rechtspsychiatrin Randi Rosenqvist, ehemalige Vorsitzende der Norwegischen Kommission für Forensische Medizin, fand keine Hinweise auf eine paranoide Schizophrenie.
In dieser Lage ordnete das Gericht am 13. Januar 2012 eine erneute Begutachtung Breiviks an; und zwar durch die beiden Psychiater Agnar Aspaas und Terje Tørrissen. Sie führten außerordentlich aufwendige Untersuchungen durch. Traufetter:
Das Gericht wird entscheiden müssen, welchem der beiden Gutachten es mehr vertraut. Das wird keine leichte Entscheidung sein. Denn es geht hier nicht einfach darum, welches der beiden Gutachten "Recht hat", sondern es geht auch um eines der schwierigsten differentialdiagnostischen Probleme der Psychiatrie.
Ich habe dazu anläßlich des ersten Gutachtens und dann der Beauftragung des zweiten Gutachterteams zwei Artikel geschrieben, die Sie vielleicht nachlesen mögen:
Psychische Störungen und Geisteskrankheiten "hat" man nicht wie einen Schnupfen oder einen Tumor. Es sind Funktionsstörungen des komplexesten Systems, das wir kennen, des menschlichen Gehirns. Jede individuelle Funktionsstörung ist anders; so wie alle menschlichen Gehirne verschieden sind. Wenn Psychologen und Psychiater eine Diagnose treffen, dann ordnen sie diese Funktionsstörung in eine Kategorie ein.
Diese Kategorien sind nicht vorgefunden, sondern sie werden definiert. Natürlich bedient man sich dabei, soweit das möglich ist, objektiver Kriterien. Aber eine Psychose kann man eben nicht "finden", so wie man im CT-Scan einen Tumor findet oder wie man den Virus isoliert, an dem jemand erkrankt ist. Es gibt immer Grenzfälle. Ein solcher Grenzfall ist nach allem, was man weiß, offenbar Anders Breivik.
Er hat paranoide Wahnvorstellungen; daran besteht kein Zweifel. Aber das, was unscharf als "Paranoia" bezeichnet wird, umfaßt - ich habe das hier im einzelnen erläutert - zwei verschiedene Krankheitsbilder: Die paranoide Persönlichkeitsstörung ("Psychopathie" in der früheren deutschen Terminologie) und die paranoide Schizophrenie. Wer eine paranoide Persönlichkeitsstörung hat, der ist damit nicht grundsätzlich schuldunfähig. Eine paranoide Schizophrenie bedeutet Schuldunfähigkeit.
Die Grenzziehung kann im Einzelfall sehr schwierig sein. Sie ist es im jetzigen Fall; ich habe das in diesem Beitrag in Zettels kleinem Zimmer erläutert. Sich mit einer Ferndiagnose an einer Streitfrage zu beteiligen, in der die untersuchenden Psychiater zu verschiedenen Ergebnissen gekommen sind, wäre deshalb vermessen (wenngleich ein deutscher Blogger sich das erstaunlicherweise zugetraut hat).
Die Schwierigkeit liegt vor allem darin, daß die meisten Merkmale einer paranoiden Psychose - beispielsweise Halluzinationen und Verfolgungswahn mit Eigenbeziehung (man fühlt sich persönlich verfolgt) - bei Breivik offenbar fehlen; daß aber andererseits das Merkmal "Wahn" ausgeprägt ist.
Aber reicht das für die Diagnose einer Schizophrenie aus? Breivik ist von dem Wahn besessen, Norwegen drohe die Islamisierung. Ist das wahnhafter als die Vorstellung Hitlers, die Juden seien an allen Übeln der Welt schuld, oder die Wahnvorstellung Osama Bin Ladens vom "Großen Satan" USA?
Ist Breiviks Wahn bizarr, ist er unrealistisch genug, um nur mit der Annahme einer Schizophrenie erklärbar zu sein? Das ist offenbar der Punkt, an dem die verschiedenen Psychiaterteams zu unterschiedlichen Beurteilungen gekommen sind. Aufgrund welcher Befunde und Überlegungen, wird man erfahren, wenn die Gutachter vor Gericht demnächst ihre Diagnosen erläutern.
Den Sachverhalt werden Sie schon den Medien entnommen haben: Dem Gericht, das über den Massenmörder Anders Behring Breivik zu urteilen hat, liegt jetzt ein zweites psychiatrisches Gutachten vor. Es war im Januar in Auftrag gegeben worden, nachdem sich in der norwegischen Öffentlichkeit Zweifel - auch von Fachleuten - an einem ersten Gutachten vom November 2011 geregt hatten, in dem bei Breivik eine paranoide Schizophrenie diagnostiziert worden war. Das zweite Gutachten bestätigt diese Diagnose nicht.
Das erste rechtspsychiatrische Gutachten stammte von den Psychiatern Torgeir Husby und Synne Sørheim und stützte sich auf insgesamt dreizehn, über einen längeren Zeitraum verteilte psychiatrische Interviews mit Breivik. Zu den Kritikern dieses Gutachtens gehörten vor allem Mitglieder eines psychologisch-psychiatrischen Teams aus dem Distriktpsychiatrischen Zentrum in Sandvika, das Breivik seit seiner Inhaftierung ständig beobachtet. Auch die führende norwegische Rechtspsychiatrin Randi Rosenqvist, ehemalige Vorsitzende der Norwegischen Kommission für Forensische Medizin, fand keine Hinweise auf eine paranoide Schizophrenie.
In dieser Lage ordnete das Gericht am 13. Januar 2012 eine erneute Begutachtung Breiviks an; und zwar durch die beiden Psychiater Agnar Aspaas und Terje Tørrissen. Sie führten außerordentlich aufwendige Untersuchungen durch. Traufetter:
Die beiden neuen Gutachter (...) haben mit Breivik insgesamt 37 Stunden lange Gespräche geführt und ihn einer 24-stündigen Observation unterzogen. Zwar hatte sich der Angeklagte dagegen gewehrt, doch im Januar stimmten Richter dieser ungewöhnlichen Maßnahme zu.Heute nun also wurde das Gutachten dem Gericht übergeben. Sein Wortlaut ist nicht bekannt. Im einzelnen werden sich die beiden Gutachter erst in dem am Freitag beginnenden Prozeß äußern. Bekannt wurde aber die Schlußfolgerung: Breivik hat zur Tatzeit nicht unter einer psychotischen Erkrankung gelitten.
Breivik wurde in eine spezielle Zelle verlegt, 60 Quadratmeter groß, mit Computer, Fernseher und Büchern. Zwei Teams von vier Sozialpädagogen, Krankenpflegern und Psychiatern beobachteten ihn am Tag, zwei Schichten in der Nacht.
Das Gericht wird entscheiden müssen, welchem der beiden Gutachten es mehr vertraut. Das wird keine leichte Entscheidung sein. Denn es geht hier nicht einfach darum, welches der beiden Gutachten "Recht hat", sondern es geht auch um eines der schwierigsten differentialdiagnostischen Probleme der Psychiatrie.
Ich habe dazu anläßlich des ersten Gutachtens und dann der Beauftragung des zweiten Gutachterteams zwei Artikel geschrieben, die Sie vielleicht nachlesen mögen:
Der zweite Artikel ist der ausführlichere. Dort finden Sie eine Antwort auf die Frage, wieso Psychiater, von denen jeder fachlich kompetent ist und gründliche Untersuchungen vornimmt, dennoch zu verschiedenen Diagnosen kommen können:Marginalie: Ist Anders Behring Breivik schuldunfähig?; ZR vom 30.11. 2011 Ist Anders Breivik schuldunfähig? Über den Unterschied zwischen einer paranoiden Schizophrenie und einer paranoiden Persönlichkeitsstörung; ZR vom 13. 1. 2012
Psychische Störungen und Geisteskrankheiten "hat" man nicht wie einen Schnupfen oder einen Tumor. Es sind Funktionsstörungen des komplexesten Systems, das wir kennen, des menschlichen Gehirns. Jede individuelle Funktionsstörung ist anders; so wie alle menschlichen Gehirne verschieden sind. Wenn Psychologen und Psychiater eine Diagnose treffen, dann ordnen sie diese Funktionsstörung in eine Kategorie ein.
Diese Kategorien sind nicht vorgefunden, sondern sie werden definiert. Natürlich bedient man sich dabei, soweit das möglich ist, objektiver Kriterien. Aber eine Psychose kann man eben nicht "finden", so wie man im CT-Scan einen Tumor findet oder wie man den Virus isoliert, an dem jemand erkrankt ist. Es gibt immer Grenzfälle. Ein solcher Grenzfall ist nach allem, was man weiß, offenbar Anders Breivik.
Er hat paranoide Wahnvorstellungen; daran besteht kein Zweifel. Aber das, was unscharf als "Paranoia" bezeichnet wird, umfaßt - ich habe das hier im einzelnen erläutert - zwei verschiedene Krankheitsbilder: Die paranoide Persönlichkeitsstörung ("Psychopathie" in der früheren deutschen Terminologie) und die paranoide Schizophrenie. Wer eine paranoide Persönlichkeitsstörung hat, der ist damit nicht grundsätzlich schuldunfähig. Eine paranoide Schizophrenie bedeutet Schuldunfähigkeit.
Die Grenzziehung kann im Einzelfall sehr schwierig sein. Sie ist es im jetzigen Fall; ich habe das in diesem Beitrag in Zettels kleinem Zimmer erläutert. Sich mit einer Ferndiagnose an einer Streitfrage zu beteiligen, in der die untersuchenden Psychiater zu verschiedenen Ergebnissen gekommen sind, wäre deshalb vermessen (wenngleich ein deutscher Blogger sich das erstaunlicherweise zugetraut hat).
Die Schwierigkeit liegt vor allem darin, daß die meisten Merkmale einer paranoiden Psychose - beispielsweise Halluzinationen und Verfolgungswahn mit Eigenbeziehung (man fühlt sich persönlich verfolgt) - bei Breivik offenbar fehlen; daß aber andererseits das Merkmal "Wahn" ausgeprägt ist.
Aber reicht das für die Diagnose einer Schizophrenie aus? Breivik ist von dem Wahn besessen, Norwegen drohe die Islamisierung. Ist das wahnhafter als die Vorstellung Hitlers, die Juden seien an allen Übeln der Welt schuld, oder die Wahnvorstellung Osama Bin Ladens vom "Großen Satan" USA?
Ist Breiviks Wahn bizarr, ist er unrealistisch genug, um nur mit der Annahme einer Schizophrenie erklärbar zu sein? Das ist offenbar der Punkt, an dem die verschiedenen Psychiaterteams zu unterschiedlichen Beurteilungen gekommen sind. Aufgrund welcher Befunde und Überlegungen, wird man erfahren, wenn die Gutachter vor Gericht demnächst ihre Diagnosen erläutern.
Zettel
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