1. April 2012

Zitat des Tages: "Die übergroße Mehrheit der DDR-Bevölkerung", wie sie Gregor Gysi im März 1989 sah. Und wieder einmal: Gysi und das MfS

SPIEGEL: Wäre es nicht das einfachste, die DDR schafft Verhältnisse, unter denen die DDR-Bürger lieber hier bleiben?

GYSI: Die übergroße Mehrheit der Bevölkerung der DDR empfindet ganz offensichtlich die sozialen und sonstigen Bedingungen so, daß sie in diesem Lande verbleiben will. Und was den Teil der Bürger betrifft, die für ständig ausreisen wollen, da muß bei den Entscheidungen auch an die übergroße Mehrheit und deren Interessen mitgedacht werden. Auch die gesamte historische Entwicklung, die Entwicklung der beiden deutschen Staaten muß bei der Beurteilung mit berücksichtigt werden, auch die völlig unterschiedliche ökonomische Situation, etwa bei den Arbeitskräften.
Gregor Gysi, damals Vorsitzender des Ost-Berliner Rechtsanwaltskollegiums und Vorsitzender des Rates der Anwaltskollegien der DDR, in einem "Spiegel"-Gespräch mit Axel Jeschke und Ulrich Schwarz (Heft 11/1989 vom 13. März 1989, S. 36-47).

Kommentar: Das sagte Gergor Gysi ein gutes halbes Jahr, bevor die "übergroße Mehrheit der Bevölkerung" damit begann, ihm und den anderen Mitgliedern der SED-Nomenklatura klarzumachen, wie sie "die ökonomischen und sozialen Bedingungen" in der DDR "empfindet".

Als das "Spiegel"-Gespräch mit Gysi erschien, paßte es genau in die damalige Strategie der SED-Führung, die zunehmenden Rufe nach Glasnost und Perestroika in der DDR abzuwehren: Die DDR hätte das ja alles längst geschaffen, was die Sowjetunion jetzt zu erreichen versuche. Deshalb brauche das Bestehende nur konsequent weiterentwickelt zu werden; ein "Umbau" sei nicht erforderlich. Das war der Tenor der Äußerungen Gysis zum Rechtssystem der DDR in diesem Interview.

Illustriert wird diese Propagandalinie durch die berühmte Tapeten-Äußerung des Chefideologen Kurt Hager in einem "Interview" mit dem "Stern" vom 20. März 1987, dessen Wortlaut zuvor vom Politbüro des ZK der SED gebilligt worden war. Die Interviewer hatten - zuvor schriftlich eingereicht - gefragt, ob sich auch die DDR nach dem Vorbild der Sowjetunion wandeln werde. Hager:
Es scheint, dass westliche Medien an diesem Thema vom Kopieren interessiert sind, weil es in ihr Trugbild von der Hand Moskaus, von der angeblichen Einförmigkeit und Eintönigkeit des Sozialismus passt. Würden Sie, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, sich verpflichtet fühlen, ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?
Ende 1988 äußerte sich Hager nach damaligen Informationen des "Spiegel" in einer Rede vor Schulräten:
Die SED habe, so Hager, längst den Beweis erbracht, daß sie in der Lage ist, "eine sich dynamisch entwickelnde sozialistische Gesellschaft aufzubauen und zu leiten". Hagers Fazit: "Die im Programm der SED entwickelte Gesellschaftsstrategie hat selbst unter komplizierten internationalen Entwicklungsbedingungen ihre Richtigkeit in mehr als eineinhalb Jahrzehnten immer wieder praktisch bewiesen."
Das war Ende 1988. Im Frühjahr 1989 erschien das Interview mit Gysi, in dem er die DDR als einen sich entwickelnden Rechtsstaat darstellte:
Rechtsstaatlichkeit setzt voraus, daß immer neu überprüft wird, wie die rechtlichen Regelungen im Interesse der Bürger weiterentwickelt werden können; und ein solcher Prozeß fand und findet in der DDR statt. Deshalb muß man nicht mit jeder Einzelregelung oder ihrem Zeitpunkt zufrieden sein. Das halte ich auch für normal, aber die Entwicklungsrichtung ist eindeutig.
Hagers Interview mit dem "Stern" war vom Politbüro gebilligt worden. Wie sah es in dieser Hinsicht mit dem Interview Gysis aus?

Dazu ist jetzt in "Welt-Online" ein informativer Artikel von Sven Felix Kellerhoff und Uwe Müller zu lesen. Die beiden Journalisten hatten erfolgreich beantragt, ihnen ein Dokument des MfS zu diesem Interview Gysis mit dem "Spiegel" zur Verfügung zu stellen. Es handelt sich um einen Aktenvermerk über ein Gespräch, das zwei Offiziere der Abteilung XX des MfS, Major Hans Gerischer und Leutnant Uwe Berger, am 16. Februar mit Gysi führten. Einen Tag zuvor hatte dessen Interview mit den "Spiegel-Redakteuren" Schwarz und Jeschke stattgefunden, das dann im März gedruckt wurde.

In ihrem Aktenvermerk hielten die beiden Stasi-Leute fest, wie Gysi den Hintergrund dieses Interviews ihnen gegenüber schilderte (siehe Faksimile):
Er machte deutlich, dass entgegen seiner persönlichen Einschätzung gegenüber der Abteilung Staat und Recht des ZK der SED das Interview für den "Spiegel" aus Gründen der Unseriosität des Blattes und den damit verbundenen Gefahren für eine ordnungsgemäße Wiedergabe nicht zu gestatten, letztlich aus Gründen der Dialogpolitik anders entschieden wurde.
Gysi hatte also dieses Interview gar nicht führen wollen. Er war vom ZK der SED dazu - so nannte man das wohl in der DDR - delegiert worden.

"Aus Gründen der Dialogpolitik" sollte Gysi, so entschied es die Abteilung Staat und Recht des ZK der SED laut diesem Aktenvermerk, mit den Leuten vom "Spiegel" reden. Es ging den Leuten des Propagandaapparats der DDR darum, ihren Staat in der Zeit von Glasnost und Perestroika als einen Rechtsstaat darzustellen, der Alles das bereits hatte - oder zu erreichen im Begriff war -, was Gorbatschow in der UdSSR versuchte.

Gysi hat, brillant wie immer, diesen Auftrag sicherlich zur vollsten Zufriedenheit des ZK der SED erledigt. Wenn man das Interview liest, dann muß man zu dem Schluß kommen, daß es in der DDR kein bißchen weniger rechtsstaatlich zuging als in der Bundesrepublik.

Das Argumentationsmuster Gysis war übrigens schon damals das, dessen er sich auch heute noch bedient: Gewiß, es gebe in der DDR Mängel. Aber Mängel gebe es doch ebenso in der Bundesrepublik.



In dem Artikel in "Welt-Online" steht nicht dieser von mir jetzt thematisierte Aspekt im Vordergrund, daß Gysi vom ZK der SED zu dem Interview beauftragt worden war; sondern es geht - wieder einmal - um das Thema "Stasi-Kontakte".

Was es damit im jetzigen Fall auf sich hat, können Sie bei "Welt-Online" lesen. Falls Sie sich weiter zu diesem Thema informieren wollen, dann möchte ich Ihnen die Artikel empfehlen, die Sie hier verlinkt finden: Gregor Gysi, ein großer deutscher Kommunist. War er IM? Was macht das für einen Unterschied? Nebst einer Linkliste; ZR vom 24. 1. 2011.

Wenn Sie vielleicht manches in diesen Artikeln ein wenig seltsam formuliert finden, dann erinnern Sie sich bitte daran, daß - wie Gysis Biograph Jens König schrieb - "jeder, der behauptet, Gysi sei ein Stasi-Spitzel, ... mit einem Bein vor Gericht" steht.­
Zettel



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