6. April 2012

Marginalie: Hat Obama versucht, das Oberste Bundesgericht einzuschüchtern? Ein bemerkenswerter Brief seines Justizministers, richterlich angeordnet

In den USA ist gestern ein auf den ersten Blick kurioser Streit zwischen der Obama-Administration und der Justiz vorerst beigelegt worden: Präsident Obamas Justizminister Eric Holder hat ein förmliches Schreiben an den Fifth Circuit Court (ein Oberes Berufungsgericht des Bundes) gerichtet, in dem er zusichert, daß der Präsident die Rechte des Obersten Bundesgerichts respektieren wird. Sie können dieses bemerkenswerte Schreiben hier als Faksimile lesen. Es heißt darin:
The Court indicated that its inquiry was prompted by recent statements of the President.

The longstanding, historical position of the United States regarding judicial review of the constitutionality of federal legislation has not changed and was accurately stated by counsel for the government at oral argument in this case a few days ago. The Department has not in this litigation, nor in any other litigation of which I am aware, ever asked this or any other Court to reconsider or limit long-established precedent concerning judicial review of the constitutionality of federal legislation.

Das Gericht brachte zum Ausdruck, daß seine Nachfrage durch kürzliche Aussagen des Präsidenten veranlaßt worden sei.

Die seit langem bestehende, historische Position der Vereinigten Staaten zur gerichtlichen Überprüfung von Bundesgesetzen hat sich nicht geändert und wurde vom Rechtsvertreter der Regierung vor einigen Tagen in der mündlichen Verhandlung dieses Falles vorgetragen. Das Ministerium hat weder in diesem Verfahren noch in irgendeinem mir bekannten Verfahren jemals verlangt, daß dieses oder ein anderes Gericht die seit langem bestehende Praxis hinsichtlich der gerichtlichen Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Bundes­gesetzen ändert oder einschränkt.
Der Minister ist damit dem nachgekommen, was das Internetmagazin Slate gestern "an unusual court order" nannte; einen ungewöhnlichen richterlichen Beschluß. Das Gericht hatte den Justizminister nicht nur dazu verdonnert, diesen Brief zu schreiben, sondern auch gleich noch festgelegt, daß er dreiseitig sein mußte, Zeilenabstand 1. Holder ist dem gefolgt; wenn auch die dritte Seite nur zur Hälfte beschrieben ist.

Der Hintergrund dieses richterlichen Beschlusses ist die Verfassungsbeschwerde zu Obamacare, über die ich kürzlich berichtet habe (Warum sind die Amerikaner mehrheitlich gegen Obamas Gesundheitsreform? Drei Gründe. Einer könnte der entscheidende werden; ZR vom 29. 3. 2012). Die erste Runde der Verhandlung vor dem Obersten Bundesgerichts, auf die ich in diesem Artikel eingegangen bin, ist inzwischen vorbei. Das Gericht berät jetzt und hat sich bereits am Freitag letzter Woche zu einer Probeabstimmung getroffen, über deren Ergebnis aber nichts bekannt ist.

Am vergangenen Montag nun hat Präsident Obama etwas sehr Ungewöhnliches getan: Er hat sich in dieses Verfahren mit einer öffentlichen Äußerung eingemischt. Laut Associated Press sagte er auf einer Pressekonferenz:
Ultimately, I'm confident that the Supreme Court will not take what would be an unprecedented, extraordinary step of overturning a law that was passed by a strong majority of a democratically elected Congress.

Letztlich vertraue ich darauf, daß das Oberste Bundesgericht nicht das tun wird, was der noch nie dagewesene, außergewöhnliche Schritt wäre, ein Gesetz zu annullieren, das von einer großen Mehrheit eines demokratisch gewählten Kongresses verab­schiedet wurde.
Der AP-Autor Ben Feller bemerkt dazu, daß die Mehrheit keineswegs groß gewesen sei, sondern im Gegenteil sehr knapp. Außerdem sei es ungewöhnlich, daß ein Präsident sich derart dezidiert zu einem vor dem Obersten Bundesgericht laufenden Verfahren äußert.

Auch Obamas Behauptung, daß eine Annullierung von Obamacare (oder, wahrscheinlicher, von Teilen davon) eine "noch nie dagewesene" Entscheidung wäre, ist schlicht falsch. Der Vorsitzende des Justizausschusses des Repräsentantenhauses, der Republikaner Lamar Smith, hat darauf hingewiesen:
It is not unprecedented at all for the Supreme Court to declare a law unconstitutional; they do that on a regular basis (...) What is unprecedented is for the president of the United States trying to intimidate the Supreme Court.

Es ist überhaupt nichts etwas noch nie Dagewesenes, daß das Oberste Bundesgericht ein Gesetz als nicht verfassungsgemäß erklärt; das tut es immer wieder (...) Was noch nie dagewesen ist, das ist, daß ein Präsident der Vereinigten Staaten das Oberste Bundesgericht einzuschüchtern versucht.
Die neun Richter des Obersten Bundesgerichts haben sich einer Stellungnahme enthalten. Aber der Fifth District Court, der in einem anderen Prozeß ebenfalls mit einer Klage gegen Obamacare befaßt ist, fühlte sich offenbar ebenfalls angesprochen und erließ den Beschluß, dem Holder gestern Folge leistete.



Der Vorfall beleuchtet, welche grundsätzliche Bedeutung der ganze Komplex Obamacare für die politische Diskussion in den USA hat. Es geht darum, wie weit der Staat in private Entscheidungen der Bürger eingreifen darf; und durch die Verfassungsbeschwerde geht es jetzt auch um die Machtbalance zwischen den drei branches of government, den Regierungsgewalten Administration, Kongreß und Oberstes Bundesgericht. Und natürlich hat das alles vor dem Hintergrund des Wahlkampfs eine besondere Brisanz.­
Zettel



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