13. April 2012

Grass und Sarrazin: Unsere deutsche Konsensgesellschaft und ihre Abweichler

In seiner Kolumne im aktuellen "Zeit-Magazin" schildert Harald Martenstein zwei seiner Erlebnisse als Raucher:

Wie er auf einem Bahnsteig in Uerdingen nicht das gelb gekenn­zeichnete Raucherquadrat fand und ganz ans Ende des fast leeren Bahnsteigs ging, um dort einsam seine Zigarette anzuzünden. Worauf ein junges Paar sich auf den Weg - hundert Meter bis zu ihm - machte, um sich zu äußern: "Sie dürfen hier nicht rauchen". Und: "Sie belästigen uns".

Und wie er in einem Kieler Hotel mit einer E-Zigarette gesichtet worden war (die bekanntlich keinen Rauch erzeugt) und flugs eine Rechnung über 120 Euro in sein Nichtraucherzimmer zugestellt erhielt - über den "Reinigungsbetrag" für die damit erforderlich gewordene Reinigung dieses Zimmers.

Ich vermute, daß viele Leser der "Zeit" - sofern sie überhaupt einen Blick in Martensteins Kolumne werfen - die, milde gesagt, Verwunderung des Autors über derartige Erlebnisse keineswegs teilen.

Denn: Rauchen ist nun einmal schädlich, da sind wir uns doch alle einig, oder etwa nicht? Und wer sich außerhalb der Gemeinschaft stellt und durch sein Verhalten zeigt, daß er diesen Konsens nicht respektiert, der muß eben die Folgen tragen. Auch, übrigens, wenn es nicht Harald Martenstein ist, sondern beispielsweise Helmut Schmidt (siehe "Als den Verstoß verschärfend ist zu bewerten ...". Raucher Helmut Schmidt, Augenmaß und Fanatismus; ZR vom 8. 12. 2012).



Wir leben in einer Konsensgesellschaft. Der gesellschaftliche Einklang, der Gleichklang unserer Politik ist heute bereits größer als zur Zeit Konrad Adenauers. Damals dominierten in der Politik konservative, christliche Wertvorstellungen. Aber es gab doch starke und einflußreiche Gruppen von Andersdenkenden - die SPD, die Gewerkschaften, eine keineswegs angepaßte, sondern meist munter liberale FDP; nicht zuletzt diejenigen, die man damals die "Linksintellektuellen" nannte und die im Kulturbetrieb das Sagen hatten.

Es gab, in anderen Worten, das gesellschaftlich-politische Spannungsfeld, das in jeder gut funktionierenden Demokratie anzutreffen ist; mit zwei etwa gleich starken Lagern, einem konservativen und einem linken, und mit Liberalen, die zwar selten eine politische Mehrheit erlangen, die aber für die gesellschaftliche Diskussion umso wichtiger sind.

Wir sehen das jetzt in den USA, wo der Konservative Romney gegen den Linken Obama antreten wird und wo der Liberale Ron Paul, der nicht Präsident werden kann und es wohl auch gar nicht will, mit seinen oft jungen und überzeugten Anhängern einen zentralen Beitrag zur gesellschaftlichen Debatte leistet.

Man kann es ähnlich in diesen Tagen in Frankreich besichtigen; mit dem Konservativen Sarkozy, dem Linken Hollande und dem Liberalen Bayrou, der wie Ron Paul nicht Präsident werden kann, der aber die politische Debatte in einem Maß bestimmt, das weit größer ist, als es seine Umfrageergebnisse vermuten lassen.

Denn in den USA wie in Frankreich wird wirklich politisch debattiert - über politische Werte wie Gerechtigkeit und Freiheit, über die Verfassung und ihre Auslegung; über den Weg, den das Land künftig einschlagen soll.

Nichts dieser Art fand im letzten deutschen Bundestagswahlkampf statt. Merkel und Steinmeier bewarben sich um das Amt des Kanzlers, so wie sich zwei Führungskräfte um einen Posten in der Wirtschaft bewerben. Der Wähler als der Aufsichtsrat entschied sich für denjenigen, der ihm als am besten geeignet für die Aufgabe erschien.

Es war die Entscheidung zwischen zwei Personen, die zugunsten der kompetenteren ausging; das war Angela Merkel. Es war ein bißchen auch die Entscheidung, wem man es mehr zutraute, den Wohlfahrtsstaat zu verwalten und die Konsensgesellschaft zu regieren: der traditionellen Variante der Sozialdemokratie oder der bürgerlicheren, für die inzwischen ein großer, ein jedenfalls sehr einflußreicher Teil der Union steht.

Mit der traditionellen Variante hätte man zugleich auch den Koalitionspartner bekommen, die ökologische Variante der Sozialdemokratie. Mit der Regierung Merkel bekam man den Koalitionspartner FDP. Setzt sich in dieser Partei Christian Lindner durch, dann wird man sie künftig als die liberale Strömung der Sozialdemokratie einstufen dürfen.



In demokratischen Rechtsstaaten wie den USA und Frankreich - man könnte viele andere Beispiele nennen, von Skandinavien und England über Holland bis hin zu den mediterranen Varianten der Demokratie - definiert man sich als politisch Interessierter in der Regel als links oder rechts. Nicht als extrem in dieser oder der anderen Richtung; aber doch auf der einen oder anderen Seite dessen stehend, was man in den USA the political divide nennt, die politische Scheidelinie. In Frankreich ist man entsprechend de gauche oder de droite, ohne das aber - in der Regel - in der Variante extrème zu sein.

Die Verteilung der politschen Einstellungen gleicht dort einer Landschaft mit zwei Bergen; mit Abflachung zu den Extremen und zur Mitte hin. Die Verteilung im heutigen Deutschland ähnelt einem einzigen Riesenberg. Der Unterschied zwischen den politischen Gruppierungen besteht nur darin, auf welcher Seite des Bergs man beheimatet ist. Statistiker nennen das eine eine bimodale und das andere eine unimodale Verteilung. Man könnte auch den Vergleich zwischen einem Kamel und einem Dromedar ins Auge fassen.

Über die Ursachen dieses deutschen Sonderwegs, der seinen bisher vollkommensten Ausdruck in der kollektiven Besoffenheit des "Ausstiegs" aus der Atomenergie gefunden hat, will ich jetzt nicht spekulieren. Sie mögen weit zurück in der deutschen Geschichte zu suchen sein; aktuell wohl eher im langen Marsch der Achtundsechziger durch die Institutionen, und auch in der Bewältigung der Wiedervereinigung. Mir geht es jetzt nur - und das ist der aktuelle Anlaß für diesen Artikel - um die Folgen; vielmehr um eine der Folgen: Den Umgang mit abweichenden Meinungen.

Ist Ihnen auch aufgefallen, wie oft in der Grass-Debatte dieser Tage Günter Grass und Thilo Sarrazin in einem Atemzug genannt wurden? Die Suche mit diesen beiden Suchwörtern liefert bei Google derzeit mehr als 300.000 Fundstellen. Alan Posener ist sogar der Name "Grassarrazin" eingefallen.

Dabei haben die beiden Diskussionen, für die diese Namen stehen, so gut wie nichts gemeinsam. Grass hat ein Gedicht geschrieben; angefüllt mit unzutreffenden und zum Teil monströsen Behauptungen, moralisierend und selbstbezogen von der ersten bis zur letzten Zeile. In der Sarrazin-Debatte diskutierte man über ein umfangreiches, auf sorgsam recherchierte Fakten gestütztes Buch; mit größter Nüchternheit geschrieben. Grass hat sich ein außenpolitisches Thema vorgenommen; Sarrazin ging es um die Zukunft Deutschlands unter den Gegebenheiten des demographischen Wandels.

Und doch scheint vielen, wie Posener, die Gemeinsamkeit ins Auge zu springen. Sie besteht allein darin, daß beide sich außerhalb des deutschen Konsenses gestellt haben. Und zwar in beiden Fällen nicht eines inhaltlichen Konsenses, sondern des Konsenses, ein Thema gar nicht erst zu diskutieren.

Unser Verhältnis zu Israel ist in Ordnung, basta. Mit der Einwanderung verbundene Probleme gibt es nicht, basta und nochmals basta. Wer an diesen Konsens rührt, dem geht es wie dem Raucher Harald Martenstein. Wie kann man auch so unvernünftig sein!

Daß Grass schlicht Dinge behauptet hat, die nicht wahr sind, ist für diesen sozialpsychologischen Sachverhalt unerheblich. Die sachlichen Fragen, die man anläßlich seines Gedichts hätte diskutieren sollen - vor allem die Lage Israels in einem sich rasant wandelnden Nahen Osten -, kamen ja kaum zur Sprache (siehe Günter Grass: Die falsche Diskussion; ZR vom 11. 4. 2012).

Grass hatte gedichtet, wo er besser geschwiegen hätte. Das ist der Punkt; nicht, daß er schlecht gedichtet und die Unwahrheit behauptet hat. So, wie Sarrazin Fakten und Daten zusammengestellt hatte, wo er besser nur seinen Job bei der Bundesbank gemacht hätte. So sieht es die Konsensgesellschaft, beim einen wie beim anderen.

So ist das eben in ihr, der Konsensgesellschaft. Am kommodesten lebt es sich genau auf dem Gipfel des Einheitsbergs. Weit weg von ihm sollte man sich auf keinen Fall niederlassen.­
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Lehrer Lämpel, gezeichnet von Wilhelm Busch (1865). Bearbeitet.