2. April 2012

Der Fall Trayvon Martin. Der Stand der Erkenntnisse. Die Herrschaft des Rechts. Aktualisierte Fassung

Der Tod des schwarzen Jugendlichen Trayvon Martin beschäftigt noch immer die US-Medien; und zwar nach wie vor höchst kontrovers. Er beschäftigt auch weiterhin die deutschen Medien. Hier aber kaum kontrovers. Repräsentativ für die dem deutschen Konsumenten vermittelte Sicht auf den Fall ist das, was gestern in der "Frankfurter Rundschau" (FR) zu lesen war:
Erst schießen, dann fragen. So lässt sich die Philosophie mancher Amerikaner zusammenfassen. Tot sind am Ende meist Schwarze. (...) Wieso, fragt sich jeder vernünftige Mensch auch in den USA, rennt so ein "Nachbarschaftswächter" mit einer geladenen Pistole rum und knallt bei der ersten Gelegenheit einen ab? Wieso passiert so etwas immer wieder? (...)

Überhaupt sind die USA in vielerlei Hinsicht einem Entwicklungsland ähnlicher, als wir gemeinhin denken: Viele sind schlecht ausgebildet (manche funktionale Analphabeten), die Arbeitslosigkeit ist gewaltig gestiegen (oft in Selbstständigkeit verschleiert), die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer. Die sozialen Spannungen nehmen deshalb zu. Die Besitzenden fürchten mehr und mehr um ihren Besitz und ihr Leben. (...)

Präsident Barack Obama hat gefordert, den Fall gründlich zu untersuchen und aufzuklären. Das ist richtig. Doch wenn sich an den gesellschaftlichen wie sozialen Bedingungen und dem Waffenwahnsinn in den USA nichts ändert, liegt der nächste Junge schon bald tot auf dem Pflaster. It's time for a change.
Der das geschrieben hat, Daniel Haufler, wird von der FR als "USA-Experte" vorgestellt. "Time for a change" ist in den USA, wie auch in England, die übliche Floskel dafür, den Präsidenten zu wechseln oder die Opposition an die Macht zu wählen. Will uns der Experte Haufler sagen, Obama solle durch einen Republikaner abgelöst werden?

Scherz beiseite. Wer solche USA-Experten hat wie die FR ihren Redakteur Haufler, der braucht keine Kommentar­spalten, in der Leser ihre Stammtischperspektive darlegen können. Das Bild der USA, das von derartigen Autoren vermittelt wird, entspricht ungefähr einem Bild von Deutschland, in dem alle Männer die Hacken zusammen­schlagen und "Jawoll" brüllen. Kein Wunder, daß in diesem Land Neonazis ihre Morde begehen konnten, würden Amerikaner vermutlich denken, die mit einem derartigen Deutschlandbild versorgt werden würden.



Das Internetmagazin Slate hat gestern noch einmal die Fakten des Falls zusammengestellt; siehe auch die Informationen in der Wikipedia:
  • Am Sonntag, dem 26. Februar war der 17jährige Schwarze Trayvon Martin in Sanford im US-Bundesstaat Florida auf dem Weg vom Einkaufen zur Wohnung der Freundin seines Vaters. Er trug eine Kapuzenjacke ("hoodie") und fiel dem 28jährigen Wachmann George Zimmerman auf (der, das spielt ja bei Berichten über solche Vorfälle eine zentrale Rolle, eine peruanische Mutter und einen weißen Vater hat und in das Wahlregister als Hispanic eingetragen ist).

    Zimmerman folgte Martin, der ihm verdächtig erschien, und rief die Polizei an, um ihr das zu melden. Die Polizeizentrale sagte, sie werde einen Streifenwagen schicken, und solange solle Zimmerman nichts unternehmen. Dieser bestätigte das. Es gab aber dennoch im weiteren Verlauf eine Auseinandersetzung zwischen ihm und Trayvon Martin, die damit endete, daß Zimmerman Martin erschoß.

    Kurz danach traf die Polizeistreife ein, die Spuren sicherte, einen Notarzt rief und Zimmerman festnahm. Die vorläufige Festnahme wurde jedoch nicht in Haft umgewandelt, weil die Polizisten Zimmermans Erklärung, er habe in Notwehr geschossen, für nicht widerlegbar hielten. Der Leiter der Mordkommission war davon nicht überzeugt und wollte Zimmerman unter Mordanklage verhaften lassen. Die Staatsanwaltschaft sah jedoch keinen hinreichenden Tatverdacht für einen Mord und veranlaßte, daß Zimmerman wieder freigelassen wurde.

  • Soweit herrscht Einhelligkeit über den Ablauf. Es dauerte einige Wochen, bis der Fall in den Fokus einer breiten Öffentlichkeit geraten war; unter anderem durch die Äußerung von Präsident Obama, wenn er einen Sohn hätte, würde dieser so aussehen wie Trayvon Martin. Nun erst - im wesentlichen in der vergangenen Woche - entwickelte sich eine öffentliche Diskussion über den genauen Tatablauf.

  • Nach Zimmermans Aussage hatte er Martin, der trotz des Regens herumgeschlendert sei und sich die Häuser angesehen habe und der ihm deshalb verdächtig erschienen sei, zunächst verfolgt, ihn dann aber aus den Augen verloren. Als er zu seinem Auto zurückging, habe sich Martin ihm von hinten genähert. Es sei zu einem Wortwechsel gekommen, in dessen Verlauf Martin ihn angegriffen und zu Boden geworfen habe. Dabei hätte er, Zimmerman, einen Nasenbruch und Verletzungen am Hinterkopf davongetragen; und er hätte um Hilfe gerufen. Um dem Angriff zu begegnen hätte er dann in Notwehr den Revolver gezogen und geschossen. Nach Mitteilungen der Polizei gibt es Zeugen, die diesen Ablauf bestätigen. In der Nacht zu gestern sagte Zimmermans Bruder Robert einem Reporter von CNN, Zimmerman wäre von Martin entwaffnet worden, wenn er nicht geschossen hätte.

  • Zweifel an dieser Darstellung stützen sich vor allem auf ein am Donnerstag aufgetauchtes Überwachungsvideo der Polizei, das zeigt, wie Zimmerman auf der Wache aus dem Polizeiwagen geholt und in die Wachstube geführt wird. Verletzungen sind auf diesem Video nicht zu erkennen. Unterstützer von Zimmerman machen dagegen geltend, daß Zimmerman nach dem Vorfall vor Ort medizinisch versorgt worden sei, bevor er auf die Wache gebracht wurde, und daß die Aufnahme zu unscharf sei, um Spuren der Verletzungen zu zeigen.

  • Parallel zu der Frage nach dem Ablauf, der zu dem tödlichen Schuß führte, wurden Einzelheiten über Trayvon Martin bekannt. Am Montag berichtete der Miami Herald, daß Martin dreimal vom Schulbesuch suspendiert worden sei. In einem Fall sei er von einer Überwachungskamera gefilmt worden, wie er Graffiti in der Schule sprühte. Man hätte daraufhin seine Schulmappe durchsucht, um die Spraydose zu finden; stattdessen seien zwölf Teile Damenschmuck und ein Einbruchswerkzeug entdeckt worden. Trayvon Martin sagte dazu, der Schmuck gehöre einer Freundin, die er aber nicht nennen konnte oder wollte. Beweise dafür, daß der Schmuck gestohlen war, wurden nicht gefunden, und die Sache verlief im Sande. In den anderen Fällen ging es um Schulschwänzen und Spuren von Marihuana, die bei Martin in einem Plastikbeutel gefunden worden warn.

  • Gestern erklärte der Bestatter, der die Leiche Trayvon Martins für die Beerdigung hergerichtet hatte, er hätte an dem Körper keine Spuren eines Kampfes entdeckt.
  • Das ist der gegenwärtige Stand dessen, was in die Öffentlichkeit gedrungen ist. Es gibt ein plastischeres Bild von den Vorgängen, als man es nach den ersten Berichten hatte. Für die Frage, ob Zimmerman schuldig oder unschuldig ist, spielt das meiste aber eine geringe Rolle. Er wird nicht dadurch unschuldig, daß Trayvon Martin Schulprobleme hatte; er wird nicht dadurch schuldig, daß er nicht blutverschmiert war, als er zur Wache gefahren wurde

    Relevant ist allein, ob Zimmerman von Martin angegriffen wurde und in Notwehr schoß; oder ob er schoß, ohne daß er sich in einer Notwehrsituation befunden hatte. Das wird gegenwärtig noch einmal gründlich untersucht; dann wird eine Grand Jury über die Erhebung einer Anklage entscheiden. Wie man dem Wikipedia-Artikel entnehmen kann, wird sich die Grand Jury auf mehrere Aussagen von Zeugen stützen können.

    Es gehört zu einem demokratischen Rechtsstaat, daß Kriminalfälle nicht durch Demonstrationen auf der Straße entschieden werden, nicht durch Äußerungen eines Präsidenten und auch nicht durch Kommentare in den Zeitungen, sondern allein durch die Justiz; mit Hilfe der ihr zuarbeitenden Polizei.

    Für die juristische Beurteilung und Entscheidung eines solchen Falls ist es auch irrelevant, welche Hautfarbe Opfer und Täter haben. Daß dies irrelevant zu sein hat, ist eine der großen Errungenschaften des demokratischen Rechtsstaats; im American Thinker hat vorgestern Robert Weissberg auf diesen Umstand hingewiesen, der eigentlich eine Selbstveständlichkeit sein sollte.

    Kommentatoren wie Daniel Haufler kennen die Einzelheiten des Falls gewiß nicht besser als die Polizei und die Staatsanwaltschaft, die mit ihm befaßt waren und sind. Daß Zimmerman "bei der ersten Gelegenheit einen abgeknallt" hätte, ist eine unglaubliche Behauptung, die jeden Respekt vor dem ordentlichen Verfahren in einem demokratischen Rechtsstaat vermissen läßt.



    Nachtrag am 2. 4., 3.30 Uhr:

    Inzwischen hat der Miami Herald, die größte Tageszeitung im Süden Floridas, die Fakten zu dem Fall umfassend zusammengestellt ("What is known, what isn’t about Trayvon Martin’s death" - "Was über den Tod Trayvon Martins bekannt ist und was nicht"). Dies ist der bisher beste und vollständigste Artikel, den ich zu dem Fall kenne.

    Man findet dort zum einen das, was ich oben zusammengestellt habe, in größerem Detail; zum Beispiel den Namen des Geschäfts, in dem Martin eingekauft hatte, die Marke des Revolvers von Zimmerman usw. Wesentlichere Ergänzungen:
  • Trayvon Martin telefonierte, während er durch die Siedlung in Sanford ging, mit seiner Freundin. Aus deren Aussage und den mitgeschnittenen Gesprächen Zimmermans mit der Polizeiwache läßt sich der Ablauf weitgehend rekonstruieren.

  • Es begann (siehe oben) damit, daß Zimmerman Streife fuhr und ihm Martin auffiel, weil dieser in der Siedlung unbekannt war, im Regen schlenderte und sich die Häuser ansah. Zuvor hatte es in der Siedlung eine Reihe von Einbrüchen gegeben. Zimmerman stieg aus dem Auto, ging Martin hinterher und rief die Polizei an. Etwa zeitgleich sagte Martin seiner Freundin, daß ihn ein Mann verfolge. Diese riet ihm, wegzurennen, was Martin tat. Zimmermann sagte der Polizei: "Scheiße, jetzt rennt er weg".

  • Zimmerman lief Martin nach; verlor ihn aber zunächst aus den Augen. Er sagte der Polizei, diese solle ihn anrufen, wenn sie eingetroffen sei. Er werde dann seinen Standort durchgeben. Er suchte nach Martin und fand ihn auf einem dunklen gepflasterten Weg an der Hinterseite von Häusern. Es folgte ein Dialog mit ungefähr diesen Worten: "Was machen Sie hier?" - "Warum verfolgen Sie mich?" Es kam zu einem Handgemenge zwischen den beiden. Nach seiner Aussage erhielt Zimmerman einen Boxhieb, der seine Nase brach, und er sei zu Boden gegangen. Martin habe ihn dann weiter geschlagen und seinen Kopf auf das Pflaster aufgeschlagen. (Zur Plausibilität dieser Aussage: Martin war ca 1,90 m groß. Zimmermann ist 1,75 m groß, aber 5 kg schwerer, als Martin war).

  • Anwohner hörten den Lärm und riefen den Polizei-Notruf an; es gab insgesamt sieben solche Anrufe. Die Aussagen der bisher bekanntgewordenen Zeugen weichen voneinander ab. Ein Mann sagte, er hätte Zimmerman unten liegen sehen; den ihn schlagenden Martin auf ihm. Zimmerman habe um Hilfe gerufen. Ein anderer Zeuge sagte, er hätte den Jugendlichen unten liegen sehen. Ein Anrufer sagte der Polizei "Sie prügeln sich hinter meiner Veranda. Einer schreit um Hilfe". Eine Frau sagte, sie habe das Wimmern eines Kindes gehört, dann einen Schuß und danach Stille. Sie sei nach draußen gegangen und habe Zimmerman über dem leblosen Körper von Martin stehen sehen. Er hätte eine Geste gemacht, als wolle er sagen: "Herrjeh, ich habe Mist gebaut" ("Oh man, I messed up").

  • Als die Polizei um 19.17 Uhr eintraf, waren nur sechs Minuten seit dem ersten Anruf Zimmermans vergangen. Nach dem Protokoll des Polizisten Timothy Smith, der Zimmerman als erster erreichte, blutete dieser aus der Nase und am Hinterkopf. Sein Rücken war laut dem Protokoll naß und trug Grasspuren, so als hätte er im Gras gelegen. Zimmerman sagte Smith: "Ich habe um Hilfe gerufen, aber niemand wollte mir helfen". Die Polizei rief dann den Rettungsdienst. Ein Rettungsassistent stellte um 19.30 den Tod von Trayvon Martin fest.
  • Danach sind zwei für die Beurteilung des Ablaufs kritische Fragen, wer bei der Prügelei unten und wer oben lag, und wer um Hilfe rief. Zu beiden widersprechen sich die Aussagen der Zeugen.

    Inzwischen arbeitet eine Sonder­ermittlungs­kommission, die alle Zeugen noch einmal verhört. Von wesentlicher Bedeutung könnte das sein, was der Miami Herald gestern in einem weiteren Artikel meldet. Danach sind die Hilferufe im Hintergrund eines der Anrufe bei der Polizei zu hören. Die Zeitung hat diese Aufzeichnung zwei Experten für forensische Stimmenanalyse vorgelegt, denen auch die Stimmaufnahmen Zimmermans zur Verfügung standen. Der eine analysierte sie mit computergestützter Biometrie, der andere mit subjektiven Methoden. Beide kamen zu dem Ergebnis, daß es sich nicht um die Stimme von Zimmerman handelt; der zweite erklärte darüber hinaus, die Schreie seien die Stimme eines Jugendlichen.
    Zettel



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Die erste Version des Artikels wurde am 31. 3., 19.21 Uhr publiziert.