21. April 2012

Frankreichs Wahljahr 2012 (1): Sarkozy gegen Hollande. Mélenchon gegen Le Pen. Bayrou gegen die Zehn-Prozent-Marke. Die Lage vor dem ersten Wahlgang












Im morgigen ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl wird noch nichts entschieden. Dennoch verspricht der Wahlabend spannend zu werden; denn es finden drei Rennen statt:

An der Spitze entscheidet sich, wer als der Sieger dieses premier tour - der ersten Runde - in die zweite Runde am 6. Mai einzieht. Zweitens hat sich ein Rennen entwickelt, das noch vor wenigen Wochen niemand erwartet hätte: Der Kandidat der extremen Linken, Jean-Luc Mélenchon, ist inzwischen Marine Le Pen, der Kandidatin der extremen Rechten, auf den Fersen und hat es zu seinem expliziten Ziel erklärt, sie zu schlagen. Manche in Frankreich halten es für möglich, daß ihm das am Sonntag gelingen wird.

Das sind zwei Duelle ähnlich einem Sprint im Radsport, in dem jeweils Paare von Fahrern gegeneinander fahren. Das dritte Rennen entspricht eher einem Zeitfahren: François Bayrou hat keinen unmittelbaren Gegner, kämpft aber darum, mindestens 10 Prozent zu schaffen.

Dies sind die fünf Kandidaten, um die es geht. Die anderen spielen im ersten Wahlgang keine Rolle. In der zweiten Runde zwischen - nach aller Wahrscheinlichkeit - Sarkozy und Hollande könnte es eine gewisse Bedeutung haben, zu wem dann ihre Stimmen wandern. Worum geht es bei diesen drei Duellen?


Sarkozy gegen Hollande: Anfang des Jahres hatte Hollande einen so großen Vorsprung vor Sarkozy - die Umfragewerte reichten bis zu 60 gegen 40 Prozent für ihn im zweiten Wahlgang -, daß ein Linksrutsch bei den jetzigen Wahlen und den anschließenden Wahlen zur Nationalversammlung so gut wie sicher schien.

Ich habe damals auf diese zu erwartende Veränderung der Machtverhältnisse in Frankreich hingewiesen; aber auch darauf, wie untypisch ein solcher linker Sieg ist. Das Land ist nach wie vor zutiefst konservativ; linke Mehrheiten und ein linker Präsident (der bisher einzige seit der Gründung der Fünften Republik 1958 ist François Mitterand) waren stets die Ausnahme (Sarkozy am Ende? Frankreich steht vor einem beispiellosen Linksrutsch; ZR vom 2. 1. 2012).

Wenn Hollande siegt, dann nicht deshalb, weil die Franzosen plötzlich nach links gerückt wären, sondern weil Sarkozy nicht das konservative Frankreich repräsentiert; er ist zu "amerikanisch", zu hemdsärmlig, zu sprunghaft, ja zu vulgär. Ein Mann, dem die Würde des Amts fehlte, als er es übernahm, und der auch in den fünf Jahren seines quinquenats nicht in seine Rolle als der Staatspräsident hineingewachsen ist, die Verkörperung der France éternelle, des ewigen Frankreich.

Sarkozy hat gewiß nicht schlechter regiert als sein konservativer Amtsvorgänger Chirac. Aber diese Abneigung eines großen Teils der Wähler gegen ihn persönlich wird ihn jetzt wahrscheinlich sein Amt kosten.

Fast zwei Drittel der Franzosen haben von Sarkozy eine schlechte Meinung, nur gut ein Drittel eine gute. Daran hat sich auch während des Wahlkampfs faktisch nichts geändert. Daß er nicht noch schlechter dasteht als jetzt, verdankt er allein den über 65jährigen, von denen 40 Prozent im ersten Wahlgang für ihn stimmen wollen; in allen anderen Altersgruppen erreicht er Werte unter 30 Prozent. Bei den Wählern unter 35 Jahren sind es gerade einmal 20 bzw. (bei denen unter 25 Jahren) 22 Prozent. Sarkozy ist, mit anderen Worten, einfach peinlich.

Dadurch hat Hollande seine Chance bekommen - seine sogar ausgezeichnete Chance -, obwohl er selbst ein alles andere als starker Kandidat ist. Die Motivation der Wähler Hollandes hat das demoskopische Institut OpinionWay aufgrund seiner Umfrageergebnisse so beschrieben:
Ils semblent se faire peu d’illusions sur la capacité de leur champion à mener des réformes en profondeur, et surtout à sortir le pays de la crise dans laquelle il s’enfonce doucement. Mais qu’importe, pour eux l’essentiel est ailleurs : en finir avec la présidence Sarkozy et retrouver un président "normal", plus conforme à l’idée qu’ils se font d’un chef de l’État.

Sie scheinen kaum Illusionen über die Fähigkeit ihres Favoriten zu hegen, tiefgreifende Reformen durch­zuführen und vor allem das Land aus der Krise zu führen, in der es langsam versinkt. Aber egal, für sie liegt das Wesentliche woanders: Schluß zu machen mit der Präsidentschaft von Sarkozy und wieder einen "normalen" Präsidenten zu bekommen, der besser der Vorstellung entspricht, die sie von einem Staats­präsidenten haben.
Die Wahl zwischen Sarkozy und Hollande ist für viele Franzosen die des kleineren Übels; und die Mehrheit dürfte es in Hollande sehen. Immer noch besser der blasse Apparatschik als dieser würdelose Luftikus Sarkozy.


Le Pen gegen Mélenchon: Vor einem Vierteljahr hätte niemand erwartet, daß diese beiden Kandidaten einmal fast gleichauf liegen würden. In diesem Artikel des Nachrichten­senders LCP/Public Senat sehen Sie eine Grafik, die den Verlauf der Werte in den Umfragen des Instituts Ifop zeigt. Mitte Januar lag Marine Le Pen bei 20 Prozent und Mélenchon bei 7,5 Prozent. Dann begann der Abstieg Le Pens und parallel dazu der Aufstieg Mélenchons. Die letzten Werte von Ifop, erhoben zwischen Dienstag und gestern, geben Le Pen 16 Prozent und Mélenchon 13,5 Prozent.

Daß Mélenchon sein Ziel erreicht, vor Le Pen durchs Ziel zu gehen, ist unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen. Wie konnte es aber überhaupt dazu kommen, daß innerhalb von drei Monaten der Abstand zwischen diesen beiden Kandidaten derart schrumpfen konnte?

Es dürfte dreierlei eine Rolle gespielt haben: Erstens verlor Le Pen Stimmen an Sarkozy; vor allem nach den Morden von Toulouse, als Sarkozy die Karte von Law and Order zu spielen begann. Zweitens gewann Mélenchon Wähler aus dem linken Lager und auch von Bayrou; aus Gründen, die ich in einem früheren Artikel analysiert habe (Jean-Luc Mélenchon, die Renaissance des französischen Kommunismus und der diskrete Geburtshelfer Oskar Lafontaine; ZR vom 18. 4. 2012).

Drittens dürfte es aber auch eine gewisse direkte Wanderung von Le Pen zu Mélenchon gegeben haben. Denn die eine ist zwar rechts- und der andere linksextrem. Aber beide sind eben Extremisten, also attraktiv für Protestwähler, denen das "ganze System" nicht paßt. Auch inhaltlich gibt es manche Übereinstimmungen zwischen dem Kandidaten der Linksfront und der Kandidatin der Nationalen Front; beispielsweise die Europafeindlichkeit, die Frontstellung gegen das grand capital und den Kampf gegen die mondialisation, die Globalisierung.

Ifop hat die Wähler u.a. von Marine Le Pen gefragt, ob sie sich ihrer Entscheidung sicher seien. Die Unsicheren wurden dann gefragt, wen sie als zweite Wahl in Betracht zögen. 13 Prozent von ihnen nannten Mélenchon.


Bayrou gegen die zehn Prozent: Mitte Januar lag François Bayrou mit zwölf bis vierzehn Prozent noch unangefochten auf dem vierten Platz. Das war weniger als vor fünf Jahren, als er im ersten Wahlgang 18,57 Prozent erreicht hatte. Aber es war doch noch respektabel für einen Mann der Mitte; einen Liberalen in einem Land, dessen Wähler sich traditionell als entweder links oder rechts einstufen. Inzwischen aber geht es für Bayrou nur noch darum, ob er wenigstens die psychologisch wichtigen 10 Prozent erreicht.

Es könnte sehr gut sein, daß er sie verfehlt. Denn bei denen, die sich in den Umfragen für Bayrou aussprechen, gibt es eine Besonderheit: Viele sind nicht sicher, ob sie nicht doch einen anderen Kandidaten wählen sollten. Es ist ähnlich wie bei der FDP in Deutschland: Nur ein Teil ihrer Wähler sind Stammwähler; viele wählen sie aufgrund situationsbezogener politischer Überlegungen, die sie leicht auch zu einer anderen Präferenz führen könnten.

In der letzten auführlichen Umfrage von Ifop (12. bis 15. April) waren sich 78 Prozent der Wähler von Hollande ihrer Entscheidung sicher, bei Sarkozy sogar 87 Prozent, bei Mélenchon 65 und bei Le Pen 77 Prozent. Bei Bayrou aber waren es nur 54 Prozent, die angaben, sie seien sich ihrer Entscheidung sicher. Ähnliche Ergebnisse zeigt eine erst gestern publizierte Umfrage von Sofres: 39 Prozent derer, die Bayrou wählen wollen, gaben auch wenige Tag vor dem Wahltermin noch an, sie könnten ihre Entscheidung ändern; weit mehr, als bei jedem anderen Kandidaten.

Sollte Bayrou morgen unter 10 Prozent fallen, dann dürfte er in keiner sehr starken Position sein, überhaupt mit Sarkozy über ein mögliches Bündnis für den zweiten Wahlgang zu verhandeln. Er wird dann wohl die Wahl keines der beiden Kandidaten des zweiten Wahlgangs empfehlen und sich auf die Oppositionsrolle gegen Hollande vorbereiten.



Im Nouvel Observateur meinte gestern der Politologe Philippe Chriqui, die Umfragen würden diesmal "verrückt spielen" (affolement des sondages). In der Tat weichen die Institute stärker voneinander ab als üblich; und auch die Daten jedes Instituts ändern sich teilweise recht abrupt. Chriqui führt das auf die Unsicherheit der Wähler zurück; beispielsweise darauf, daß - siehe oben - bei Themen wie Europa und Globalisierung die Fronten nicht zwischen links und rechts verlaufen.

Leider gibt es in Frankreich - jedenfalls nach meiner Kenntnis - keinen Mathematiker wie in den USA Nate Silver, der solche unsicheren Umfragedaten zu gewichten und zu bewerten versteht und aus ihnen in der Regel erstaunlich zuverlässige Vorhersagen extrahiert (siehe "Das Rennen läuft und läuft". Kein Tag der Entscheidung. Glauben Sie Nate Silver und CNN, nicht "Spiegel-Online"; ZR vom 7. 3. 2012). Man muß also ein wenig seiner Intuition folgen. Dies gesagt, könnte es morgen um 20 Uhr ungefähr so aussehen:
  • Sarkozy und Hollande werden Kopf an Kopf in der Gegend von 27 oder 28 Prozent liegen; wer besser abschneidet, läßt sich nicht vorhersagen.

  • Marine Le Pen wird mehr Stimmen bekommen als Jean-Luc Mélenchon. Ich halte es für wahrscheinlich, daß der Abstand zwischen ihnen sogar relativ groß sein wird; zum einen, weil Mélenchon in den letzten Tagen an Zustimmung verloren zu haben scheint und zum anderen, weil die Wahlergebnisse des FN in den Umfragen meist unterschätzt werden. Marine Le Pen könnte sogar ihren Vater Jean-Marie übertreffen, der 2002 im ersten Wahlgang 16,86 Prozent erreichte.

  • François Bayrou wird die 10 Prozent, wenn überhaupt, dann nur knapp übertreffen. Er hat als einziger Kandidat einen Wahlkampf geführt, der auf die Probleme des Landes hinwies, statt schöne Versprechungen zu machen. Es sieht nicht danach aus, als würden viele Franzosen das honorieren wollen.
  • Zettel



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Fotos vom Autor Guillaume Paumier unter Creative Commons Attribution-Share Alike 2.5 Generic-Lizenz freigegeben. Beide Fotos wurden während des Wahlkampfs 2007 aufgenommen.