[Die] Transparenzgesellschaft ... ist eine Gesellschaft, die gleichsam mit einer riesigen, kollektiven Netzhaut überzogen ist. Hier ist alles der Sichtbarkeit ausgeliefert. Unter diesen medialen Bedingungen gleicht unsere Gesellschaft einer Stammesgesellschaft, in der es sehr schwierig ist, etwas zu verbergen. In der Stammesgesellschaft weiß jeder über jeden Bescheid. Dort spielt das Vertrauen keine Rolle für die soziale Interaktion. Das Vertrauen wird nur in einer Gesellschaft relevant, wo das Wissen über andere nur beschränkt möglich ist. Vertrauen ist nur möglich in einem Zustand zwischen Wissen und Nichtwissen. Vertrauen heißt, trotz Nichtwissen gegenüber dem anderen eine positive Beziehung zu ihm aufzubauen.
Kommentar: Der Ruf nach Transparenz ist das Markenzeichen der Piratenpartei, auf die Han auch in diesem Interview eingeht. Das, was diese Piraten wollen, ist aber keineswegs neu und originell; sondern sie haben ihm nur einen neuen Namen gegeben. Unter dem Namen "totale Öffentlichkeit" wurde das bereits in der Zeit der Rebellion der Achtundsechziger propagiert.
Die Übereinstimmung ist nahezu perfekt. Auch damals entsprang der Ruf nach totaler Öffentlichkeit dem Verlust an Vertrauen; damals an Vertrauen in die Generation der Eltern - ihre Werte, ihre Ehrlichkeit, vor allem ihre Moral (siehe die Serie "Wir Achtundsechziger"). Auch damals ging der Ruf nach Öffentlichkeit einher mit dem Einreißen von Schamschranken ("Alles wird schamloser und nackter" ist das Interview mit Han betitelt).
"Totale Öffentlichkeit", jetzt "Transparenz" - das bedeutet als Ziel, daß alle immer alles wissen sollen; jedenfalls sollen sie es wissen können, wenn sie es denn wollen.
Gerechtfertigt wird diese Forderung mit einem Generalverdacht: Daß alles, was nicht öffentlich, was nicht transparent ist, irgendwie faul sein könnte - rechtswidrig, unmoralisch, von egoistischen Motiven getragen. Von der Öffentlichkeit erwartet man sich so etwas wie eine reinigende, auch eine präventiv die Sauberkeit erzwingende Wirkung.
Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser - das ist die Grundlage des Rufs nach Transparenz.
Nun wird diese Formulierung bekanntlich Lenin zugeschrieben. Der Marxismus-Leninismus ist nicht unbedingt ein Beispiel für Offenheit, für Transparenz. Paßt da also etwas nicht?
Es paßt durchaus. Denn die totale Öffentlichkeit, die vollständige Transparenz erzeugt notwendig ihr Gegenteil. Jeder Zwang zur Transparenz führt zur Geheimnistuerei. So, wie Egalitarismus in die strenge Hierarchie einer totalitären Gesellschaft mündet; so, wie die Freiheitsträume der Französischen Revolution das Jakobinertum geboren haben: So funktioniert der Voyeurismus der Transparenzgesellschaft nur, wenn die Voyeure selbst sich bedeckt halten können.
Zum ersten Mal ist mir das zur Zeit der Studentenbewegung aufgefallen, als nach damaligem chinesischen Vorbild überall "Wandzeitungen" auftauchten. Unter anderem mit der Forderung nach "Öffentlichkeit aller Gremien" (die Sitzungen der Fakultät, Verhandlungen von Berufungskommissionen usw. sollten öffentlich sein). Wer forderte das? Gruppen mit Decknamen. Die betreffenden Personen blieben anonym.
Heute ist diese Dialektik beispielsweise bei der Piratenpartei zu sehen, die vollständige Transparenz fordert, aber zugleich einen gigantischen organisatorischen Aufwand betreibt, damit ihre Mitglieder anonym bleiben, wenn sie bei Abstimmungen ihre Meinung äußern (siehe Die Paranoia der Piratenpartei. Sie fordern totale Transparenz, aber bitteschön unter strengster Anonymität; ZR vom 8. 10. 2011).
Nicht anders ist es bei denjenigen, die Informationen stehlen, indem sie in Computersysteme einbrechen. Sie tun das, sofern sie keine gewöhnlichen Kriminellen sind, sondern "Hacktivisten", weil sie vorgeblich Transparenz fördern wollen. Sie selbst geben sich alle Mühe, anonym zu bleiben; bis hin zu dem lächerlichen Mummenschanz, sich maskiert in der Öffentlichkeit zu zeigen (für eine Illustration siehe Die Leute von Anonymous - ein Fall nur für die Polizei? Oder auch für den Psychologen? Über Rumpelstilzchen und Peeping Toms; ZR vom 27. 12. 2011).
In einem geordneten, vernünftig organisierten Gemeinwesen ist Wissen an Kompetenz und Verantwortung gebunden. Wissen muß man sich erarbeiten; man lernt dabei, verantwortungsvoll damit umzugehen.
Der Ruf nach Transparanz, nach "totaler Öffentlichkeit" will diesen Zusammenhang auflösen. Alle sollen Zugang zu jedem Wissen haben - auch wenn sie keine Verantwortung tragen; auch wenn ihnen die Kompetenz abgeht, dieses Wissen vernünftig zu gebrauchen.
Im Grunde ist das eine Variante des egalitären Anspruchsdenkens, das sich bei der Piratenpartei beispielsweise auch in ihren Forderungen nach kostenlosem öffentlichem Nahverkehr und einem bedingungslosen Grundeinkommen für alle zeigt (siehe Generation Flatrate. All inclusive, Nulltarif, Frühstücksbuffet. Auf dem Weg in die Schlaraffenland-Gesellschaft; ZR vom 16. 2. 2012). Jeder soll "Staatsknete" bekommen; ob er nun etwas leistet oder nicht. Jeder soll sich an Transparenz erfreuen dürfen; ob er mit dem transparenten Wissen nun kompetent und verantwortlich umgehen kann oder nicht.
Schamlosigkeit und fehlendes Vertrauen sind also nur die eine Seite des Rufs nach der Transparenzgesellschaft. Die andere ist diese Haltung des Beanspruchens, ohne etwas zu leisten. Man grapscht nach jedem Stück Information, das man bekommen kann; so, wie ein schlecht erzogenes Kind nach allem in Reichweite grapscht, das es gern haben möchte.
Und das nun ist allerdings ein Unterschiede zu der Stammesgesellschaft, die Han erwähnt; zu traditionellen Gesellschaften überhaupt: Dort fehlt es zwar auch an Privatheit, ist der Einzelne einer ständigen sozialen Kontrolle ausgesetzt. Aber diese Art von Transparenz ist eine regulierte und damit eingeschränkte; sie erstreckt sich auf die Beachtung bestimmter sozialer Normen. Die Transparenz à la "Anonymous" und Piratenpartei ist aber gerade auf die Aufhebung von sozialen Normen gerichtet; sie will Schranken beseitigen, nicht deren Einhaltung sicherstellen.
Der Professor für Philosophie und Medientheorie an der Karlsruher Staatlichen Hochschule für Gestaltung Byung-Chul Han in einem Interview mit der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung".
Kommentar: Der Ruf nach Transparenz ist das Markenzeichen der Piratenpartei, auf die Han auch in diesem Interview eingeht. Das, was diese Piraten wollen, ist aber keineswegs neu und originell; sondern sie haben ihm nur einen neuen Namen gegeben. Unter dem Namen "totale Öffentlichkeit" wurde das bereits in der Zeit der Rebellion der Achtundsechziger propagiert.
Die Übereinstimmung ist nahezu perfekt. Auch damals entsprang der Ruf nach totaler Öffentlichkeit dem Verlust an Vertrauen; damals an Vertrauen in die Generation der Eltern - ihre Werte, ihre Ehrlichkeit, vor allem ihre Moral (siehe die Serie "Wir Achtundsechziger"). Auch damals ging der Ruf nach Öffentlichkeit einher mit dem Einreißen von Schamschranken ("Alles wird schamloser und nackter" ist das Interview mit Han betitelt).
"Totale Öffentlichkeit", jetzt "Transparenz" - das bedeutet als Ziel, daß alle immer alles wissen sollen; jedenfalls sollen sie es wissen können, wenn sie es denn wollen.
Gerechtfertigt wird diese Forderung mit einem Generalverdacht: Daß alles, was nicht öffentlich, was nicht transparent ist, irgendwie faul sein könnte - rechtswidrig, unmoralisch, von egoistischen Motiven getragen. Von der Öffentlichkeit erwartet man sich so etwas wie eine reinigende, auch eine präventiv die Sauberkeit erzwingende Wirkung.
Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser - das ist die Grundlage des Rufs nach Transparenz.
Nun wird diese Formulierung bekanntlich Lenin zugeschrieben. Der Marxismus-Leninismus ist nicht unbedingt ein Beispiel für Offenheit, für Transparenz. Paßt da also etwas nicht?
Es paßt durchaus. Denn die totale Öffentlichkeit, die vollständige Transparenz erzeugt notwendig ihr Gegenteil. Jeder Zwang zur Transparenz führt zur Geheimnistuerei. So, wie Egalitarismus in die strenge Hierarchie einer totalitären Gesellschaft mündet; so, wie die Freiheitsträume der Französischen Revolution das Jakobinertum geboren haben: So funktioniert der Voyeurismus der Transparenzgesellschaft nur, wenn die Voyeure selbst sich bedeckt halten können.
Zum ersten Mal ist mir das zur Zeit der Studentenbewegung aufgefallen, als nach damaligem chinesischen Vorbild überall "Wandzeitungen" auftauchten. Unter anderem mit der Forderung nach "Öffentlichkeit aller Gremien" (die Sitzungen der Fakultät, Verhandlungen von Berufungskommissionen usw. sollten öffentlich sein). Wer forderte das? Gruppen mit Decknamen. Die betreffenden Personen blieben anonym.
Heute ist diese Dialektik beispielsweise bei der Piratenpartei zu sehen, die vollständige Transparenz fordert, aber zugleich einen gigantischen organisatorischen Aufwand betreibt, damit ihre Mitglieder anonym bleiben, wenn sie bei Abstimmungen ihre Meinung äußern (siehe Die Paranoia der Piratenpartei. Sie fordern totale Transparenz, aber bitteschön unter strengster Anonymität; ZR vom 8. 10. 2011).
Nicht anders ist es bei denjenigen, die Informationen stehlen, indem sie in Computersysteme einbrechen. Sie tun das, sofern sie keine gewöhnlichen Kriminellen sind, sondern "Hacktivisten", weil sie vorgeblich Transparenz fördern wollen. Sie selbst geben sich alle Mühe, anonym zu bleiben; bis hin zu dem lächerlichen Mummenschanz, sich maskiert in der Öffentlichkeit zu zeigen (für eine Illustration siehe Die Leute von Anonymous - ein Fall nur für die Polizei? Oder auch für den Psychologen? Über Rumpelstilzchen und Peeping Toms; ZR vom 27. 12. 2011).
In einem geordneten, vernünftig organisierten Gemeinwesen ist Wissen an Kompetenz und Verantwortung gebunden. Wissen muß man sich erarbeiten; man lernt dabei, verantwortungsvoll damit umzugehen.
Der Ruf nach Transparanz, nach "totaler Öffentlichkeit" will diesen Zusammenhang auflösen. Alle sollen Zugang zu jedem Wissen haben - auch wenn sie keine Verantwortung tragen; auch wenn ihnen die Kompetenz abgeht, dieses Wissen vernünftig zu gebrauchen.
Im Grunde ist das eine Variante des egalitären Anspruchsdenkens, das sich bei der Piratenpartei beispielsweise auch in ihren Forderungen nach kostenlosem öffentlichem Nahverkehr und einem bedingungslosen Grundeinkommen für alle zeigt (siehe Generation Flatrate. All inclusive, Nulltarif, Frühstücksbuffet. Auf dem Weg in die Schlaraffenland-Gesellschaft; ZR vom 16. 2. 2012). Jeder soll "Staatsknete" bekommen; ob er nun etwas leistet oder nicht. Jeder soll sich an Transparenz erfreuen dürfen; ob er mit dem transparenten Wissen nun kompetent und verantwortlich umgehen kann oder nicht.
Schamlosigkeit und fehlendes Vertrauen sind also nur die eine Seite des Rufs nach der Transparenzgesellschaft. Die andere ist diese Haltung des Beanspruchens, ohne etwas zu leisten. Man grapscht nach jedem Stück Information, das man bekommen kann; so, wie ein schlecht erzogenes Kind nach allem in Reichweite grapscht, das es gern haben möchte.
Und das nun ist allerdings ein Unterschiede zu der Stammesgesellschaft, die Han erwähnt; zu traditionellen Gesellschaften überhaupt: Dort fehlt es zwar auch an Privatheit, ist der Einzelne einer ständigen sozialen Kontrolle ausgesetzt. Aber diese Art von Transparenz ist eine regulierte und damit eingeschränkte; sie erstreckt sich auf die Beachtung bestimmter sozialer Normen. Die Transparenz à la "Anonymous" und Piratenpartei ist aber gerade auf die Aufhebung von sozialen Normen gerichtet; sie will Schranken beseitigen, nicht deren Einhaltung sicherstellen.
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