16. April 2012

Wie man einen Skandal macht

Große Aufregung im deutschen Blätterwald. Die Demokratie ist in Gefahr. Freien Abgeordneten soll ein "Maulkorb" verpaßt werden. Sie sollen nur noch Rederecht haben, wenn sie ihrer Fraktion "nach dem Mund reden". Ein Kommentator nach dem anderen nimmt sich empört des Themas an. Im Internet ist ohnehin schon der Teufel los, Protesterklärungen werden verbreitet mit allen wilden Schmähungen gegen die Urheber der geplanten "Zensur".

Erstaunlicherweise finden sich nirgendwo Details. Nirgendwo ist nachzulesen, wie die GO-Änderung denn konkret aussehen, was sich eigentlich ändern soll. Eine Riesenaufregung - völlig ohne Fakten.

Und wenn man dann die Artikel durchgeht, dann wird klar, daß alle nur von einer einzigen Quelle abschreiben. Das Neue Süddeutschland hat den "Skandal" entdeckt. Und Chefinquisitor Prantl fällt auch gleich das Urteil: Der Bundestag wird "kaputt gemacht".

Die SZ gibt an, den Entwurf des Geschäftsordnungs­ausschusses zu kennen - aber sie veröffentlicht ihn nicht. Damit sich keiner selbst ein Bild machen kann. Damit niemand merkt, wie hier ein Skandal herbeigelogen wird.

Konkret geht es um den §35 der Bundestags-GO.
Da heißt es bisher:
"§ 35 Rededauer
(1) Gestaltung und Dauer der Aussprache über einen Verhandlungsgegenstand werden auf Vorschlag des Ältestenrates vom Bundestag festgelegt. Kommt es im Ältestenrat nicht zu einer Vereinbarung gemäß Satz 1 oder beschließt der Bundestag nichts anderes, darf der einzelne Redner in der Aussprache nicht länger als 15 Minuten sprechen. Auf Verlangen einer Fraktion kann einer ihrer Redner eine Redezeit bis zu 45 Minuten in Anspruch nehmen. Der Präsident kann diese Redezeiten verlängern, wenn der Verhandlungsgegenstand oder der Verlauf der Aussprache dies nahelegt."
Mit anderen Worten: Wenn sich die Fraktionen im Ältestenrat einigen (und das war seit Gründung des Bundesrepublik immer der Fall), gibt es KEINE Redezeit für einzelne Abgeordnete außerhalb der Fraktionsredezeit.
Das kann man jetzt kritisieren - aber wenn die SZ behauptet, "sollen künftig nur diejenigen Parlamentarier das Wort erhalten, die von den Fraktionen dazu bestimmt wurden." - dann ist das schlicht falsch. Das ist nicht neu, sondern schon immer Praxis.

Als Lammert eigenmächtig im letzten Winter den "ESM-Rebellen" Schäffler und Willsch das Wort erteilte, dann war das politisch wohl eine gute Idee - aber ohne Grundlage in der Geschäftsordnung.

Und diese Grundlage soll es nun künftig geben. Als Satz 2 soll nun eingefügt werden:
Abweichend von dieser Vereinbarung kann der Präsident im Benehmen mit den Fraktionen weiteren Rednern gemäß den Grundsätzen des §28 Abs. 1 das Wort für in der Regel drei Minuten erteilen.
Das "in Benehmen mit den Fraktionen" werden vom fürchterlichen Juristen Prantl und der ihm folgenden Journaille so dargestellt, daß die Fraktionen ein Einspruchsrecht hätten, daß der Präsident die "Abweichler" nicht ohne Genehmigung der Fraktionsspitzen reden lassen dürfte.

Auch dies ist völliger Unsinn.

"Im Benehmen" ist letztlich nur eine Form der Information. Siehe dazu die Wikipedia:
Während Einvernehmen bedeutet, dass vor einem Rechtsakt das Einverständnis einer anderen Stelle (...) vorliegen muss, ist dagegen eine Entscheidung, die im Benehmen mit einer anderen Stelle zu treffen ist, nicht unbedingt mit dem Einverständnis der anderen Seite zu fällen.
Mit anderen Worten: Der Bundestagspräsident bekommt jetzt offiziell das Recht, von der Vereinbarung der Fraktionen im Ältestenrat abweichend Redner zuzulassen. Er muß zwar die Fraktionen informieren und gegebenfalls ihre Bedenken formulieren lassen - aber die Entscheidung bleibt völlig bei ihm.

Man kann natürlich auch die neue Regelung kritisieren. Gestärkt wurde der Bundestagspräsident, mir persönlich wäre eine direkte Stärkung der Abgeordnetenrechte sympathischer.

Aber klar ist doch, daß am Skandal letztlich nichts dran ist. Mit dieser Inszenierung - die wohl auch geglückt ist, weil keiner nachgehakt hat und die Meute blind gefolgt ist - hat das Neue Süddeutschland die Demokratieverdrossenheit massiv gefördert. Nicht die geplante GO-Änderung schadet der Demokratie, sondern eine durchgedrehte Medienhysterie.
R.A.



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