24. April 2012

Marginalie: "Angst vor dem Stillstand in Den Haag". Hollands Krise und die künftige Entwicklung in Deutschland

"Die Angst vor dem Stillstand in Den Haag" titelt derzeit "Zeit-Online". Der Autor Tobias Müller beschreibt, wie die jetzige Regierungskrise in den Niederlanden nur die letzte einer immerwährenden Folge von Krisen ist. Letztmals, so informiert er uns, konnte eine Regierung dort im Jahr 1998 eine Legislaturperiode im Amt beenden.

Holland entwickelt sich damit zügig in Richtung auf Verhältnisse, wie sie in Deutschland in der Weimarer Republik herrschten, in Frankreich in der Vierten Republik, bis diese 1958 kollabierte, in Italien seit der Gründung der Republik 1948:

Mehrheiten sind nur durch unnatürliche Bündnisse zu erreichen; also durch Koalitionen zwischen Parteien, die unterschiedliche Ziele verfolgen und allein durch die numerischen Gegebenheiten im Parlament zusammen­gezwungen werden. Oder (und/oder) eine Regierung muß sich, um überhaupt handlungsfähig zu sein, von nicht mitregierenden Parteien tolerieren lassen, wie Rutte jetzt von Wilders' PVV; zuletzt auch noch, wie Müller schreibt, von einer fundamental-calvinistischen Splitterpartei, der SGP.

Da solche Regierungen nur wenige Gemeinsamkeiten zwischen allen Koalitionspartnern und Tolerierenden aufweisen, sind sie kaum zu grundlegenden Entscheidungen fähig. Der ständige Regierungswechsel verhindert des weiteren eine über längere Zeit kohärente, eine - um das Modewort einmal in seiner eigentlichen Bedeutung zu verwenden - nachhaltige Politik. Wie lange das gutgeht, hängt davon ab, wieweit Gesellschaft und Wirtschaft in der Lage sind, das Fehlen von good governance zu kompensieren. Auf Dauer geht es selten gut.



In den letzten Tagen haben ich viel über die Präsidentschaftswahl in Frankreich berichtet; zuvor - und demnächst wieder - über die Wahl des amerikanischen Präsidenten. In diesen beiden Staaten herrschen stabile politische Verhältnisse. In den USA ist das so, seit diese erfolgreichste Demokratie der Welt mit ihrer bewunderns­werten Verfassung entstand. In Frankreich gibt es diese Stabilität seit der Gründung der Fünften Republik 1958.

Der Grund für die Stabilität in beiden Staaten liegt auf der Hand: Sie sind Präsidialdemokratien, in denen außerdem ein Mehrheitswahlrecht bewirkt, daß es nur wenige - in diesen beiden Ländern im wesentlichen nur zwei - politische Lager gibt.

Deutschland ähnelt bisher diesen stabilen Demokratien. Zu rechnen war damit nicht gewesen, als die Bundesrepublik 1949 gegründet wurde. Es hätte ebenso eine neue Weimarer Republik entstehen können; wenn auch abgemildert durch Bestimmungen wie die Fünf-Prozent-Klausel und das konstruktive Mißtrauensvotum, die eine gewisse Stabilität sichern sollten.

Begründet lag die deutsche Stabilität keineswegs in den Bestimmungen des Grundgesetzes; auch unter ihnen können Verhältnisse wie in der französischen Vierten Republik oder jetzt in den Niederlanden eintreten. Die Bundesrepublik war vielmehr deswegen eine stabile Demokratie - und deshalb auch wirtschaftlich und gesellschaftlich so ausnehmend erfolgreich -, weil die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag stets dauerhafte, handlungsfähige Regierungen ermöglichten: die bürgerlichen Koalitionen Adenauers, die sozialliberale Koalition, die rotgrüne und jetzt wieder eine bürgerliche Koalition; dazwischen zweimal eine Große Koalition.

Das waren Koalitionen von jeweils zwei Partnern, die gemeinsame Ziele hatten und die überwiegend gut zusammenarbeiteten; meist auf längere Zeit. (Nur bei Adenauer waren anfangs zeitweilig noch zwei kleine Parteien mit in der Regierung, die DP und der BHE). Mit anderen Worten: Es herrschten in diesem Land mit seinem Verhältniswahlrecht und seiner parlamentarischen Demokratie Verhältnisse, wie sie sonst eher charakteristisch für Präsidialdemokratien mit Mehrheitswahlrecht sind.

So war es bisher. Aber es spricht Vieles dafür, daß wir Zuständen entgegengehen, wie sie jetzt in den Niederlanden zu besichtigen sind. Denn die Grundlage unserer Stabilität schwindet Schritt für Schritt in dem Maß, in dem sich das Parteiensystem zersplittert.

Anfangs hatte es den damals so genannten "Trend zum Dreiparteiensystem" gegeben. Bereits nach den Bundestags­wahlen 1957 gab es faktisch nur noch drei politische Kräfte im Bundestag, die Union, die SPD und die FDP (die DP war von der Union im "Huckepack-Verfahren" in den Bundestag gehievt worden). Das blieb so ein Vierteljahrhundert lang; bis 1983, als erstmals die Grünen in den Bundestag einzogen. Dann kamen die Kommunisten hinzu; demnächst wahrscheinlich die Piraten.

Es wird damit immer schwerer werden, Koalitionen aus nur zwei Partnern zu bilden. Es wird immer wahrscheinlicher werden, daß es zu unnatürlichen Bündnissen kommt; also Koalitionen, in denen es wenig an gemeinsamen Zielen gibt. Regierungen auch, die von jedem der kleineren Partner oder Tolerierer jederzeit gestürzt werden können und damit von diesen erpreßbar sind.

Daß eine Regierung mindestens eine Legislaturperiode durchsteht, dürfte damit demnächst in Deutschland so wenig die Regel sein wie jetzt bereits in den Niederlanden. Eine Selbstauflösung des Bundestags ist zwar formal nicht möglich; aber sie kann faktisch jederzeit erfolgen, wenn der Kanzler eine Vertrauensabstimmung verliert und der Bundespräsident daraufhin nach Artikel 68 GG den Bundestag auflöst. Das kann immer dann eintreten, wenn aus einer der künftigen unnatürlichen Koalitionen einer der Partner oder Tolerierer ausschert, so wie man das aus den Ländern mit derartigen Verhältnissen kennt.

Niederländischen Verhältnissen steht also in Deutschland strukturell nichts entgegen. Ich fürchte, wir werden sie mit dem Einzug der Piratenpartei in den Bundestag erleben.­
Zettel



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