16. April 2012

Zitat des Tages: "Die deutsche Gründlichkeit läuft auf Intoleranz hinaus". Der Schweizer Roger Köppel versteht die Deutschen

Die deutsche Gründlichkeit läuft logisch auf politische Intoleranz hinaus. Der Gründliche duldet keinen Widerspruch, weil es keinen Widerspruch geben kann, wenn eine Sache ergründet worden ist. Hat der Gründliche den letzten Grund einmal erreicht, kann nur einer vollständig recht und können nicht mehrere teilweise recht haben. Der Gründliche geht ­davon aus, dass alle Menschen, hätten sie die Dinge so durchschaut wie er, nach den gleichen Vorstellungen leben würden. Andere Lebensweisen irritieren ihn, weil sie ihm als Ausdruck schlechter Moral oder mangelnder Intelligenz erscheinen.
Der Schweizer Publizist Roger Köppel im Editorial der aktuellen Ausgabe der von ihm herausgegebenen "Weltwoche".

Kommentar: Köppel kennt uns Deutsche aus eigener Erfahrung ganz gut. Von 2004 bis 2006 war er Chefredakteur der Hamburger "Welt". Mancher mag sich auch an seine Auftritte in deutschen Talkshows erinnern, beispielsweise im September 2010 zum Thema Sarrazin und Ende vergangenen Jahres bei Sandra Maischberger.

Ein treffliches Porträt Köppels hat Philip Plickert in der FAZ gezeichnet:
Köppel liebt die heißen Eisen, die andere für politisch unkorrekt oder zu sensibel halten. Er sieht sich nicht als "rechts", sondern als klassischen Liberalen. Keine andere deutschsprachige Zeitschrift schreibt derart scharf gegen den Steuer- und Wohlfahrtsstaat, der die Bürger entmündige. Gegen Sozialleistungsmissbrauch, den die Linke schweigend dulde. Gegen eine unkontrollierte Zuwanderung, welche schwer zu integrieren sei. Köppels Zeitschrift hat Sarrazins Buch gegen Kritiker verteidigt und den Minarett-Entscheid der Schweizer als legitimen Ausdruck direkter Demokratie gefeiert.
Auch in ZR ist Köppel gelegentlich gewürdigt worden; beispielsweise anläßlich der Diskussion über WikiLeaks (Noch einmal WikiLeaks: Eine Antwort an Roger Köppel; ZR vom 4. 12. 2010) und von Kallias bereits einmal zu seiner Sicht auf uns Deutsche (Die sensationellen Deutschen; ZR vom 25. 9. 2010).

Hat er recht mit seinem Verdikt über uns Deutsche? Ja, natürlich stimmt das, was er schreibt. Mit seiner Einsicht, daß aus der deutschen Gründlichkeit die deutsche Intoleranz folgt, trifft er uns Deutsche; besser kann man gar nicht treffen.

Jeder Deutsche, der einmal längere Zeit im Ausland gelebt hat, kennt diese Wahrnehmung der Deutschen; und wenn er ehrlich ist, muß er zugeben, daß sie kein Vorurteil ist. Ein Klischee vielleicht; aber viele Klischees stimmen ja.

Ich habe das im Ausland so erlebt und war baß erstaunt, als man mich sofort als den typischen Deutschen erkannte - wo das doch so gar nicht meiner Selbstwahrnehmung entsprochen hatte. Vergangenen Donnerstag hat es Thea Dorn bei Beckmann exakt so geschildert, wie sie - die sich doch auch gar nicht so sah - als Gastdozentin in den USA alsbald als typisch deutsch wahrgenommen wurde.

Unsere größte deutsche Schwäche ist es vermutlich, daß es uns so schwer fällt, "vielleicht" zu sagen, "ja, das könnte sein", "mag zutreffen oder auch nicht"; dergleichen.

Auf einer internationalen Konferenz habe ich einmal einen Briten über einen seiner deutschen Kollegen sagen hören - und er sagte das schmunzelnd -: "When he says 'we know', he means 'there is some evidence'. And when he says 'there is some evidence', he means 'we have no idea whatsoever'" - Wenn er sagt: "Wir wissen das", dann meint er "es gibt gewisse Hinweise". Und wenn er sagt "Es gibt gewisse Hinweise", dann meint er: "Wir haben keine Ahnung".



Wo kommt das her? Ist es die Tradition der deutschen Philosophie, der bei allem ihrem Glanz die Hume'sche Skepsis ganz und gar fehlt? Liegt es daran, daß der deutsche Beitrag zur Aufklärung, trotz Lessing und Kant, so viel bescheidener ausgefallen ist als derjenige der Franzosen und der Briten?

Oder liegt es an Karl Marx, diesem intolerantesten von allen deutschen Philosophen, der das deutsche Denken vergiftet hat, indem er die Anti-Aufklärung als Aufklärung verkaufte; und Generationen von Intellektuellen haben ihm das abgekauft?

Wie auch immer. Jedenfalls ist sie präsent wie eh und je, die deutsche Intoleranz. Sie hat nur ihr Gesicht verändert. Wie die Sarrazin-Diskussion gezeigt hat, tritt sie heute gern als eine höhere Form der Toleranz auf, die deutsche Intoleranz.

Übrigens auch in dem Fall, um den es in Roger Köppels Editorial geht. Aber lesen Sie selbst. ­
Zettel



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