11. September 2007

Der "Deutsche Herbst" und die "Nacht von Stammheim"

Es gibt Zeiten, in denen die Politik im Bewußtsein übermächtig wird, in denen sie vorübergehend das Private in den Hintergrund drängt, in denen ein politisches Thema alle Gespräche bestimmt.

In den USA waren das die Cubakrise, die Ermordung Kennedys und der Anschlag vom 11. September 2001. In Deutschland waren es die Ereignisse der Tage um den 17. Juni 1953, dann wieder die "Wendezeit"; die Zeit um den 9. November 1989. Und dazwischen der "Deutsche Herbst" 1977 mit seinem Höhepunkt am 18. Oktober, der "Nacht von Stammheim".

Die Emotionen waren in allen drei Perioden sehr intensiv, aber grundverschieden.

Im Juni 1953 waren das Stunden zwischen Bangen und Hoffen, dann der Schock, als die Sowjets die Revolution niederschlugen.

Die Wendezeit 1989 war zuerst eine Zeit wachsender Spannung. Die Demonstrationen in Ostberlin, die "Montags- Demonstrationen", die "Botschaftsflüchtlinge" in Prag, die Öffnung der Grenze zwischen Ungarn und Österreich - man wußte nie, ob das noch gutgehen würde, ob nicht doch die Kommunisten wieder militärisch eingreifen würden wie 1953, wie drei Jahre später in Ungarn, wie 1968, als sie den "Prager Frühling" niederwalzten.

Und dann die Lösung der Spannung in dieser unvergeßlichen Nacht vom 9. zum 10. November 1989. Wir haben bis zum Morgen vor dem TV-Gerät gesessen, Radio gehört; die Szenen waren überwältigend. "Wahnsinn" war das Wort der Stunde.



Und der "deutsche Herbst"? Er war der Herbst eines blutigen, eines deprimierenden Jahres, in dem Staat und Gesellschaft aus den Fugen zu geraten schienen.

Im Februar war Brigitte Mohnhaupt, neue Anführerin der RAF, freigekommen. Im April wurde Siegfried Buback ermordet, im Juli Jürgen Ponto. Im August scheiterte ein Anschlag auf die Bundesanwaltschaft nur knapp. Am 5. September wurde Hanns- Martin Schleyer entführt, nachdem seine vier Begleiter ermordet worden waren.

Man hatte im Lauf dieses Jahres Schlimmes erwartet, aber nicht das, was nun kam. Es waren bedrückende, dabei auch irgendwie fiebrige Wochen; eine Atmosphäre in Deutschland, wie ich sie nie zuvor und nie danach erlebt habe.

Eine "Nachrichtensperre" war verhängt worden; aber das führte natürlich nur zu umso mehr Befassung mit dem Thema in Form von Gerüchten und Spekulationen. Es wurden wilde Vermutungen darüber angestellt, wo Schleyer sei - wurde er etwa auf einem Flußdampfer herumgefahren? In einem Möbelwagen? War das Versteck als eine Arztpraxis getarnt, in die fremde Menschen unauffällig gehen und sie verlassen konnten? Oder hatte man Schleyer ins Ausland geschafft?

Es gab Gerüchte um Kontakte mit den Terroristen; ein Genfer Anwalt namens Peyot erlangte kurzzeitig Berühmtheit als "Vermittler". Es hieß, Schleyers Sohn habe versucht, seinen Vater mit Geld freizukaufen, aber das sei gescheitert. Gerücht reihte sich an Gerücht.

Das Land war in einer Art Belagerungszustand. Polizeisperren überall, verschärfte Grenz- Kontrollen, nervöse Polizisten und Grenzer. Man erzählte einander, daß es im Telefon merkwürdig geknackt habe, welchen unsinnigen Kontrollen man unterworfen worden sei.

Ich erinnere mich daran, wie es uns einmal erging, als wir im deutsch- holländischen Grenzgebiet Urlaub machten und über einen kleinen Grenzübergang nach Holland fahren wollten. Das Auto wurde durchsucht, und die Grenzer entdeckten ein Messer, das meine Frau bei sich hatte, weil sie gern Wildpflanzen ausgrub. Das führte zu einem langwierigen Verhör, Personenüberprüfung usw. - Wir waren damals empört über den "Polizeistaat"; nicht ahnend, daß die Durchsuchung nur allzu begründet gewesen war, weil die Terroristen damals zwischen Deutschland und Holland über die "grüne Grenze" hin- und herwechselten.

Es war nicht nur eine angespannt- hektische Stimmung in Deutschland, sondern auch eine aggressive. Extreme Ansichten hatten ihre große Zeit.

Der Staat solle mit der Hinrichtung der Stammheimer Häftlinge drohen, mit ihrer Folterung, wenn Schleyer nicht freigelassen würde - dergleichen wurde auf der einen Seite gefordert. Bis in den Krisenstab hinein, so hieß es.

Und auf der anderen Seite der politischen Meinung glaubte man einen Staat zu erkennen, der nun die "demokratische Maske" abgelegt habe, der mit seinen Fahndungsmaßnahmen seine "faschistische Fratze" zeigte, dem alles zuzutrauen sei.



Dann kam die Entführung der "Landhut", dann kam die "Nacht von Stammheim".

Als ich am nächsten Tag in die Universität kam, herrschte eine fast eisige Stimmung. Ich habe kaum jemanden gesprochen, der nicht davon überzeugt war, daß die Häftlinge ermordet worden waren.

Daß sie in diesem hochgesicherten Gefängnis an Waffen gelangt sein konnten, daß sie in ihrer "Isolationshaft" hatten unbemerkt Selbstmord begehen können - das lag außerhalb dessen, was man sich vorstellen konnte.

Das war nicht nur die Meinung der RAF-Sympathisanten. Es war eine Meinung, die bis weit in die liberale Mitte hineinreichte. Ich habe damals mit einem Juristen gesprochen, einem durch und durch liberalen Mann. Auch er hielt es für sehr wahrscheinlich, daß man die Gefangenen ermordet hatte. Auch ich hatte meine Zweifel an der Selbstmord- Version.

Bald erschienen Flugblätter mit "Beweisen" für einen Mord - Sand auf den Sohlen von Baaders Schuhen, Schmauchspuren, die angeblich auf einen Distanzschuß hindeuteten, eine geheimnisvolle schwarze Limousine im Gefängnishof. In den Jahren danach wurde es nachgerade zur Pflicht jedes Linken, Mord für eine ausgemachte Sache zu halten.



Man kann dergleichen schwer abschätzen - aber ich halte es für plausibel, daß die Generation derer, die damals zwischen ungefähr fünfzehn und dreißig Jahre alt waren, durch die Erfahrungen dieses Jahres 1977 nachhaltig geprägt wurde.

Bis dahin war es eine linksextreme Minderheit gewesen, die das politische System der Bundesrepublik grundsätzlich ablehnte, die ein prinzipielles Mißtrauen gegen ihre Regierung, ihre Institutionen hatte. Jetzt wurde das wenn auch nicht zur Mehrheits-, so doch zu einer weit verbreiteten Meinung.

Wenige Jahre später enstanden "grüne", "bunte", "alternative" politische Gruppierungen, die - ganz anders als die Studentenbewegung, anders als die K-Parteien der siebziger Jahre - genug Wähler hinter sich bringen konnten, um in die Parlamente einzuziehen. Wenige Jahre später entstanden die "Friedensbewegung", die "Anti- AKW- Bewegung", die weit in die SPD hineinwirkten.

Gewiß gab es für diese Entwicklung viele Ursachen. Aber das Grund- Mißtrauen gegen unseren Staat, gegen unsere Staatsform, das auch heute noch unsere Gesellschaft belastet, das ist 1977 wenn auch nicht entstanden, so doch zu einer breiten, politisch wirksamen Haltung geworden.

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