6. September 2007

Über die vergessenen Opfer der RAF

Kennen Sie das auch? Man liest ein Buch, sieht einen Dokumentarfilm und denkt: Das ist es! Warum hat nicht schon längst jemand zu diesem Thema einen Film gedreht, ein Buch verfaßt?

So ist es mir gestern Abend gegangen. Und zwar ausgerechnet mit einem Film zum Thema RAF.

"Ausgerechnet" deswegen, weil ich seit mehr als dreißig Jahren Filme über die RAF sehe, Bücher und Artikel über die RAF lese. Die Berichte des "Spiegel" zu diesem Thema habe ich sogar, Heft für Heft, damals herausgetrennt und in Mappen gesammelt; als Zeitzeugnis. (Irgendwo muß das Konvolut noch herumliegen. Daß man auf die meisten dieser Informationen einmal mit ein paar Klicks würde zugreifen würde können, war ja in den siebziger Jahren noch nicht zu ahnen.)

Ich habe dann alle diese "Aufarbeitungs"- Sendungen ab den achtziger Jahren verfolgt, in denen immer wieder die Taten nachgestellt wurden, in denen immer wieder die Zeitzeugen auftraten; zunehmend auch die Täter selbst, in dem Maß, in dem sie freigelassen wurden.

Meist fand ich ihre Selbstgerechtigkeit, ihre Arroganz und ihre Unfähigkeit zum Eingeständnis ihrer Schuld peinlich und abstoßend; aber ich habe mir halt doch angehört, was Leute wie Boock, Rollnick, Dellwo zu sagen hatten. Was Christian Klar an Unglaublichkeiten aussprach, als Günter Gaus ihn im Gefängnis interviewte.

Nicht peinlich, sondern beeindruckend fand ich eigentlich nur den Film über Hans-Joachim Klein. Vielleicht, weil er einer der wenigen deutschen Terroristen ist, der Menschlichkeit und auch Vernunft hat erkennen lassen. (Neben ihm fällt mir eigentlich nur noch Silke Maier-Witt ein). Vielleicht auch, weil der Film sehr sorgfältig und sehr objektiv gestaltet ist.

Das nebenbei. Also - ich fühle mich eigentlich sozusagen randvoll mit Informationen über die RAF. Ich kann noch jetzt die Namen der Protagonisten aufsagen, sie den Fahndungsfotos zuordnen, die Szenarien ihrer Taten erzählen und, falls es jemanden interessiert, die Lebensschicksale der meisten von ihnen.



Ja, der meisten von ihnen. Den Tätern nämlich.

Denn das ist es, worauf mich diese TV-Sendung gestern Abend aufmerksam gemacht hat, worauf sie mich sozusagen gestoßen hat: Über die Schicksale der Opfer, über ihr Denken und Fühlen weiß ich weitaus weniger als über die Täter, ihre Motive, ihr Umfeld.

Diese Sendung wurde am gestrigen Mittwoch um 22.45 Uhr von der ARD ausgestrahlt und in der Nacht um 3.15 wiederholt. Sie heißt "Wer gab euch das Recht zu morden?". Die Autoren sind Anne Siemens und Henning Rütten. Anne Siemens ist auch die Verfasserin des Buchs "Für die RAF war er das System, für mich der Vater" (Piper Verlag, 2007), das sich mit demselben Thema beschäftigt. Eine ausgezeichnete Rezension dieses Buchs, die auch viele Informationen zu den Opfern der RAF enthält, hat Cora Stephan in der "Welt" geschrieben.

Nun also, ergänzend dazu, dieser Film. Ein sehr genauer, sehr einfühlsamer Film, der die Hinterbliebenen der Opfer zu Wort kommen läßt. Und der auch die Taten der RAF-Verbrecher unter dem Gesichtspunkt schildert, was sie ihren Opfern angetan haben.

So gut ich, dank der erwähnten Quellen, über diese Taten Bescheid weiß - ich habe beim Ansehen dieses Films gemerkt, daß ich mir das, was den Opfern geschah, nicht genau gemerkt, nicht genau vor Augen geführt hatte. Oder es war vielleicht gar nicht berichtet worden.
  • Daß die Mörder zum Beispiel in der Botschaft in Stockholm den tödlich verletzten Botschafts- Attaché Andreas v. Mirbach hatten stöhnend liegen lassen, ohne daß jemand zu ihm konnte, um ihn zu versorgen. Zuvor mußte er unter Todesdrohungen mit der Polizei verhandeln, wurde dann aus nächster Nähe niedergeschossen, sterbend eine Treppe kopfüber heruntergestoßen. Einen der Täter, Karlheinz Dellwo, habe ich kürzlich im WDR sehr entspannt über seine RAF-Zeit reden hören.

  • Daß sie außer ihm auch seinen Kollegen Heinz Hillegaart ermordeten; Kopfschuß von hinten aus nächster Nähe. Wer kennt überhaupt dessen Namen? Geschweige denn, daß die Öffentlichkeit sich für das Schicksal seiner Frau, seiner Kinder interessiert hätte.

  • Daß ihr Opfer Gerold von Braunmühl, als er in der Nacht aus seinem Taxi stieg, regelrecht gejagt wurde, erst von vorn, dann von hinten angeschossen, so daß er am Boden lag. Dann mit einem Fangschuß aus nächster Nähe hingerichtet.

  • Daß die Terroristen Dum-Dum-Geschosse verwendeten - Patronen, die an der Spitze abgefeilt worden waren, um möglichst schwere Verletzungen zu verursachen. Mit einem solchen Geschoß wurde zum Beispiel Hans Eckhardt von dem Terroristen Manfred Grashof ermordet.
  • Hans Eckhardt - sein Name war mir nicht geläufig gewesen. Eines der vielen nicht prominenten Opfer der RAF-Mörder, einer der Polizisten, Personenschützer, Chauffeure, die sie als Collateral Damage ums Leben gebracht haben.

    Und während sozusagen jede Seelenregung von Gudrun Enßlin, jedes biographische Detail von Andreas Baader in zahllosen Sendungen und Diskussionen hin- und hergewendet wurde, wissen wir über die Biographie, die Persönlichkeit dieser Opfer so gut wie nichts.

    Daß zum Beispiel dieser Polizist Hans Eckhardt ein weltoffener Mann war, der mit der Studentenbewegung sympathisierte. Daß Andreas v. Mirbach ein überzeugter Christ war, der die Nazis verabscheute. Daß Gerold von Braunmühl Krieg und Gewalt ablehnte, daß er 1980 auf der Bonner Friedensdemonstration war, um sich die Argumente von Eppler und anderen anzuhören. Das alles habe ich erst durch diesen Film erfahren.



    Dergleichen hat nie im Fokus des öffentlichen Interesses gestanden; manches wurde vermutlich überhaupt nie thematisiert. Nun könnte man einwenden, das sei eben immer so - der Täter sei interessanter als das Opfer.

    Aber das stimmt ja nicht. Im Gegenteil - Opfer finden sehr oft ein großes Interesse in den Medien. Man braucht nur an die aktuellen Fälle der Entführungsopfer Natascha Kampusch und Susanne Osthoff zu denken.

    Es ist, glaube ich, etwas anderes. Die Verbrecher aus der RAF haben es mit ihrer Propaganda - und mit Hilfe der Propaganda ihrer Unterstützer und Sympathisanten - verstanden, unsere Phantasie mit einem bestimmten Bild - man könnte es nachgerade einen Archetypen nennen - zu füllen: Dem des edlen Räubers. Des Robin Hood, der gegen die Reichen und für die Armen kämpft. Krieg den Palästen, Friede den Hütten.



    Diese Agitprop (zu der auch die Rührgeschichten über "Isolationsfolter" usw. gehörten) ist auf nur allzu fruchtbaren Boden gefallen. Und je mehr die RAF-Verbrecher und ihre Helfer dieses bei aller Ambivalenz doch auch positive Bild von sich vermitteln konnten, umso mehr schwand das Mitleid mit den Opfern, das Interesse an ihnen. Wenn es dies denn je gegeben hat.

    Irgendwie geschah es ihnen schon recht, den Bubacks und Schleyers - so dürften viele gedacht haben, auch wenn nicht alle eine "klammheimliche Freude" empfanden. Die Lügen über Schleyers angebliche Tätigkeit unter Heydrich in Prag wurden ungeprüft geglaubt; sie paßten ja so schön ins Vorurteil. Alfred Herrhausen, der wie kein anderer deutscher Bankier für die Verbesserung der sozialen Verhältnisse in Südamerika engagiert war, wurde als Ausbeuter hingestellt, Detlev Karsten Rohwedder als Plattmacher der DDR.

    Und viele haben es geglaubt, haben es nachgebetet, haben es publizistisch verbreitet.

    Auch dieses moralische Versagen eines großen Teils vor allem der deutschen Intellektuellen gehört zu dem, was anläßlich des jetzigen dreißigsten Jahrestags der Schleyer-Entführung noch darauf wartet, aufgearbeitet zu werden.

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