29. November 2008

Spiel über die Bande? Der (möglicherweise) komplexe Hintergrund der Anschläge von Mumbai

Terrorismus ist angewandte Psychologie. Durch Anschläge und Geiselnahmen soll Aufmerksamkeit erzeugt, sollen Menschen eingeschüchtert, sollen Entscheidungen beeinflußt, sollen Wut und Haß geschürt werden. Terrorismus ist das Spiel von Zynikern mit den Emotionen von Menschen.

Jeder Anschlag kann alle diese Wirkungen haben, und er kann sie bei zahlreichen Gruppen, in vielen Staaten haben. Das macht es so schwer, Motive und Ziele zu analysieren. Wenn, wie jetzt in Mumbai, noch nicht einmal die Täter bekannt sind, bleibt viel Raum für Spekulationen. Sehr viel Raum.

Gestern habe ich über einen Erklärungsansatz aus einer indisch- israelischen Quelle berichtet, der mir Plausibilität für sich zu haben scheint: Der Hauptadressat ist die indische Öffentlichkeit und die indische Regierung. Das Ziel ist es, die sich seit einiger Zeit abahnende Orientierung Indiens nach Westen hin, seine Zusammenarbeit auch mit Israel zu stören. Deshalb der Angriff auf eine jüdische Einrichtung, das Herausgreifen amerikanischer und britischer Geiseln.

Ich halte das weiter für plausibel. Inzwischen gibt es aber weitere Informationen und Gesichtspunkte, die es möglich erscheinen lassen, daß der Hintergrund der Anschläge noch viel komplexer ist; daß dahinter der Versuch stecken könnte, die ganze labile Situation in der Beziehung zwischen Indien, Pakistan und auch Afganistan zu beeinflussen.

Auf einen dieser möglichen Zusammenhänge hat gestern die Chef- Korrespondentin von CNN, Christiane Amanpour, hingewiesen, die inzwischen aus Mumbai berichtet. Ergänzende, damit übereinstimmende Informationen findet man auch in dem Informationsdienst Stratfor.

Danach ist es ein wesentliches Ziel der Anschläge, die Spannungen zwischen Indien und Pakistan anzuheizen.

Das könnte, so Amanpour, Pakistan zwingen, Truppen vom Kampf gegen die Kaida im Grenzgebiet nach Afghanistan abzuziehen und sie an die Grenze nach Indien zu verlegen. Die Anschläge könnten auf diesem Weg die Kaida von dem Druck durch pakistanische Truppen entlasten, dem sie gegenwärtig ausgesetzt ist.

Zum Zeitpunkt der Anschläge befand sich der pakistanische Außenminister Schah Mehmud Qureschi zu einem Staatsbesuch in Indien. Seit dem Ende der Herrschaft von Musharaf bemüht sich Pakistan um eine Verbesserung der Beziehungen zu Indien. Dieser Prozeß ist durch die Anschläge akut bedroht. Daß man ihn auf beiden Seiten zu retten versucht, geht daraus hervor, daß Qureschi nach den Anschlägen nicht zurückreiste, sondern den Besuch ostentativ fortsetzt.

Der indische Ministerpräsident Manmohan Singh befindet sich, so analysiert es Statfor, in einer Zwickmühle: Schreibt er die Anschläge lokalen Terroristen zu, dann gibt er zu, die Sicherheitslage im Land nicht im Griff zu haben. Schreibt er sie Pakistan zu, dann wird das nicht nur die Spannungen zwischen den beiden Ländern verstärken, sondern Singh würde auch unter einen immensen Druck geraten, Gegenmaßnahmen zu ergreifen.

Dies wiederum würde Pakistan destabilisiern. Die ganze Region könnte dabei in eine noch labilere Lage geraten als die, in der sie sich ohnehin befindet; zum Nutzen der Kaida.



Wenn diese Analyse stimmt, dann hätte die Kaida - möglicherweise unterstützt durch lokale Islamisten, vielleicht auch durch die Mafia von Mumbai - ein komplexes Spiel über die Bande begonnen. Getroffen werden soll zuerst die indische Regierung, dann die Regierung Pakistans; am Ende soll eine Verbesserung der Operationsbedingungen der Kaida im Grenzgebiet zwischen Pakistan und Afghanistan als das eigentliche Ziel der Anschläge stehen.

Warum hat man sich - die Richtigkeit dieser Analyse einmal vorausgesetzt - gerade jetzt zu den Anschlägen entschlossen?

Es hat vergleichbare, durch ein Attentat in Indien ausgelöste Spannungen schon mehrfach gegeben; und stets haben die USA als Vermittler gewirkt und das Schlimmste verhindert. In der jetzigen Übergangs- Situation in Washington ist das nicht im bisherigen Maß möglich. Das dortige gegenwärtige Interregnum könnte ausschlaggebend dafür gewesen sein, daß die Kaida gerade jetzt zugeschlagen hat.

Wie immer diese Vermutungen zu beurteilen sind - ein Faktum wurde gestern mitgeteilt: Die indische Regierung hat den Chef des pakistanischen Geheimdienstes ISI, Generalleutnant Achmed Schudscha Pascha, gebeten, zu Gesprächen nach New Delhi zu kommen. Ein Vorgang ohne Präzedenz; bisher galt der ISI in Indien als eine feindliche Organisation, die in Indien nicht nur spioniert, sondern dort auch für Anschläge verantwortlich ist.

Nichts macht es deutlicher als dieser Besuch, daß die Regierungen sowohl in New Delhi als auch in Islamabad die Lage als äußert kritisch beurteilen.



Mit Dank an C.K. Für Kommentare bitte hier klicken.